10 - Sommer
Die Zeit verging und es wurde Spätsommer. Die Temperaturen stiegen ins Unerträgliche und die Arbeit auf dem Hof wurde beschwerlicher.
Aveline half ihrer Herrin beim Weben, Waschen und Kochen. Obwohl die Arbeit in der Hitze so anstrengend war, wurde sie von Tag zu Tag kräftiger. Ihr geschundener Rücken nahm seine natürliche Farbe wieder an und ihre Rippen heilten gut. Mit jedem Tag, den Aveline bei den Jarsons verbrachte, wurde sie der nordischen Sprache mächtiger und konnte sich besser verständigen.
Dies verdankte sie insbesondere ihrem Kameraden Richard, der ihr spätabends die wichtigsten Worte beibrachte, wenn beide nach der anstrengenden Arbeit schweissgebadet in ihren Betten im Arbeiterhaus lagen und sich nach Abkühlung sehnten.
„Woran glauben die Wikinger eigentlich?", fragte Aveline ihren Zimmerkameraden eines Abends, nachdem sie den ganzen Tag am See verbracht hatte und Kleidung mit Salka und den Waschweibern aus dem Dorf geschrubbt hatte.
Ihre Hände waren wund und aufgeweicht vom vielen Scheuern. Sie rieb sich eine Paste in ihre Handrücken ein.
„Die Normannen glauben nicht an einen Gott, sie haben viele Götter", antwortete Richard, der sich die Füsse mit einer Salbe aus Pfefferminze massierte. Er stöhnte vor Wohlbehagen auf.
Da ihr Salka so viel Bewegungsfreiheit gewährte, hatte sich Aveline dies zunutze gemacht, um Salben herzustellen, von deren heilenden und balsamischen Wirkung mittlerweile die ganze Familie auf dem Hof profitierte. Ihre Herrin war davon äusserst begeistert gewesen. Das war gut, denn Aveline wollte ihr Vertrauen gewinnen. Nur so konnte sie ihren Freilauf sicherstellen.
Dieses Vertrauen ihr gegenüber ging sogar schon so weit, als dass Salka sie manchmal an den Kochkessel liess. Aveline schmunzelte bei dem Gedanken, wie leicht es für sie gewesen war, die gutmütige Normannin von ihr zu überzeugen.
„Wer sind diese Götter?", hakte sie nach.
An diesem Abend wollte sie mehr über den Glauben der Wikinger in Erfahrung bringen — nun, da sie deren Sprache schon besser beherrschte. Sie hatte schon einige merkwürdige Rituale beobachtet und Salka Namen sagen hören, die ihr fremd waren. Es war an der Zeit, zu verstehen, woran diese Heiden glaubten.
Richard überlegte einen Moment. „Es gibt da eine Menge", antwortete er dann. „Am besten beginnen wir mit dem Göttervater: Odin. Er ist der Hauptgott der Wikinger. Der wichtigste von allen. Seine Eltern waren Riesen und Odin hat gemeinsam mit seinen Geschwistern die Welt erschaffen, indem sie den Riesen Ymir zerhackt haben. Aus den Körperteilen und dem Blut wurde die Welt in neun Teile geteilt. Yggdrasil ist der erste Baum, der daraus erwuchs und welcher sich von Wurzel bis Baumkrone über alle neun Teile erstreckt. Odin ist aber nicht nur Erschaffer der Welt, sondern auch der Gott des Krieges. Die Wikinger glauben, dass sie sich nach ihrem Tod in Walhalla mit Odin vereinen werden, um sich für den Endkampf Ragnarök vorzubereiten."
Aveline kniff die Augen zusammen. Das war viel Information auf einmal, aber den Namen hatte sie schon mehrmals gehört. Odin. Jedes Mal, wenn Hjalmar fluchte, dann nahm er diesen Namen in den Mund.
„Was ist Walhalla?", wollte sie weiter wissen.
„Das ist der Saal, in welchem sich die gefallenen Krieger wiederfinden, die von Odin ausgesucht wurden. Diese Halle befindet sich in Odins Palast in der Götterwelt Asgard."
„Und wie kommen die Krieger in diesen Saal? Indem sie einfach sterben?", forschte Aveline nach. Dieses Walhalla schien wichtig zu sein.
„Nein. Ein Krieger muss in der Schlacht mit seiner Waffe in der Hand sterben, um von den Walküren — das sind Todesengel — nach Walhalla geführt zu werden."
„Also ist Walhalla für die Wikinger das, was für uns Christen das Paradies ist?"
„Ja, das könnte man so sehen. Aber nur die mutigsten und furchtlosesten Krieger kommen nach Walhalla. Wenn Ragnarök die Welt ins Chaos stürzt, werden diese Helden mit den Göttern gegen die Riesen kämpfen müssen. Ragnarök ist eigentlich wie unser Jüngstes Gericht. Die Welt, so wie wir sie kennen, wird untergehen."
Aveline liess die Worte auf sich wirken. Soweit hatte der Glaube dieser Heiden mehr Ähnlichkeiten mit dem ihrigen, als sie sich je hätte erträumen lassen.
„Dieser Odin klingt sehr wichtig", überlegte sie laut.
„Ja, das ist er. Odin ist sehr weise, denn er hat einst aus dem Brunnen der Weisheit getrunken", erklärte Richard und hob einen Zeigefinger in die Luft. „Dafür musste er aber ein persönliches Opfer erbringen — eines seiner Augen hat er geopfert. Er betrachtet die ganze Welt von seinem Thron aus und besitzt zwei Raben — Hugin und Munin — die ihm über die Geschehnisse in der Welt berichten und ihn beraten. Sie sind seine Boten."
Aveline erinnerte sich an die zwei Raben, die in der grossen Halle auf den Holzpfeiler geschnitzt waren. Das Muster hatte sie irgendwie fasziniert.
„Und Odin gehört der grosse Hammer?", fragte sie.
Richard schüttelte den Kopf. „Nein. Der gehört dem zweitwichtigsten Gott. Thor — er ist der Sohn von Odin — und er gilt als der Beschützer der Menschen und Gott des Gewitters. Sein Hammer — Mjölnir — ist sein wichtigstes Werkzeug, denn er kehrt immer wieder in seine Hand zurück, wenn er ihn wirft. Thor besitzt ausserdem einen fliegenden Wagen, der von zwei Ziegenböcken gezogen wird. Die Ziegen und der Wagen sind für die lauten Donner und knisternden Lichter verantwortlich, wenn draussen ein Unwetter tobt. Beim nächsten Gewitter solltest du einmal genauer hinschauen. Vielleicht siehst du Thor in seinem Wagen durch den Himmel flitzen!"
Das Augenzwinkern in ihre Richtung ignorierte Aveline gekonnt. Sie zuckte recht unbeeindruckt mit den Schultern.
„Odin und Thor. Das sind bisher nur zwei Götter", sagte sie. „Wen gibt's denn da noch?"
Richard seufzte und begann mit seinen Fingern die Götter aufzuzählen: „Da ist Frigg, die erste Frau von Odin, welche als Göttin der Ehe, Mutterschaft und des Haushalts gilt. Dann haben wir Balder, der Sohn von Frigg und Odin, welcher für das Licht, die Reinheit und die Schönheit in der Welt steht. Er weckt uns jeden Tag und verabschiedet sich von uns in der Nacht."
„Warte mal — Balder ist die Sonne?"
„Sozusagen. Er ist das Licht. Viele der Götter sind wahrhaftig spürbar. Man kann sie sehen — anders als unser christlicher Gott, der unsichtbar ist", meinte Richard, der sich auf sein Bett hingelegt hatte und seine müden Beine streckte.
„Odin der Welterschaffer, seine Söhne Thor — der Donner — und Balder — das Sonnenlicht. Ich verstehe", murmelte Aveline gedankenverloren. Die Natur war also für die Normannen mit den Göttern verbunden.
„Balder wird von Loki getötet — dem Bruder von Odin, ein betrügerischer und hinterhältiger Gott. Er ist ein Gestaltwandler, ein Lügner, ein Scherzer."
„Wie jetzt, die Götter sind sterblich?" Aveline blinzelte ihren Freund etwas verblüfft an. Das machte überhaupt keinen Sinn.
Richard lachte bei ihrem verdutzten Anblick auf. „Ja, sie sind eben den Menschen sehr ähnlich. Sie sind keineswegs perfekt. Sie haben ihre Schwächen und — nun ja — sie können sterben."
„Menschliche Götter ...", murmelte Aveline. Interessant.
Richard drehte sich zur Seite um. Er freute sich sichtlich über Avelines Neugierde und kluge Fragen.
„Wen haben wir noch?", dachte er laut. „Ah ja! Es gibt noch Heimdall. Er ist der Wächter der Regenbogenbrücke Bifröst, die die Menschenwelt Midgard mit der Götterwelt Asgard verbindet. Dann haben wir die Göttin Skadi — die Göttin der Jagd und des Winters. Die ist für die Familie Jarson sehr wichtig. Rurik ist ein Jäger und sein Vater war schon ein Jäger. Sie verehren Skadi sehr. Der Dolch, den dir Salka gestern geschenkt hat zum Beispiel, da drauf ist Skadi zu sehen. Schau selbst."
Aveline drehte den kleinen Dolch in ihren Händen. Salka hatte ihr die Klinge am Vorabend geschenkt, damit sie die Kräuter, Büsche, Gräser und Beeren für ihre Heilkunde besser abschneiden konnte. Das war Aveline sehr gelegen gekommen, denn sie hatte sich lange überlegt, wie sie an eine Waffe für ihre Flucht kommen könnte. Damit hatte ihr Salka dieses Problem gelöst.
Während Aveline die silberne Klinge des Dolches betrachtete, fuhr Richard mit seiner Götteraufzählung fort: „Skadi hat eine Tochter: Freya — die Göttin der Liebe und der Fruchtbarkeit. Auch eine sehr wichtige Göttin, vor allem für verliebte Paare. Freyr ist der Halbbruder von Freya und der Gott des Wachstums und der Fruchtbarkeit der Erde. Idun ist die Göttin der Unsterblichkeit ..."
„Das sind jetzt aber viele Götter", unterbrach Aveline ihren Freund. „Und die leben alle im ... im Himmel? In dieser Götterwelt Asgard?"
Richard nickte. „Ja, genau. Und wir leben in Midgard — der Menschenwelt."
„Und gibt es auch eine Art Hölle?"
Richard legte den Kopf schief. Sein Blick huschte für einen Moment an die Decke, als müsse er gut darüber nachdenken.
„So ähnlich, aber nicht ganz", meinte er dann. „Hel ist die Tochter von Loki, die von Asgard verbannt wird, weil die Götter sie fürchten. Sie ist keine Göttin, sondern eine Riesin. Sie wird die Herrscherin der Unterwelt und lebt unter den Wurzeln von Yggdrasil, im Totenreich. Das könnte man mit unserer Hölle vergleichen, aber dort verbrennt niemand."
„Verstehe", murmelte Aveline und schob den Dolch unter ihr Bett, „und wie sprechen die Wikinger zu diesen Göttern? Beten sie etwa auch?"
Sie hatte Salka oder Hjalmar nie gesehen, wie sie die Hände vor der Brust zusammenfalteten und auf die Knie gingen.
Richard zögerte und blickte seine Freundin von der anderen Seite des Raumes an. Er wirkte ernst. Es schien, als wäre er sich nicht sicher, ob er ihr die ganze Wahrheit verraten solle.
Aveline hob auffordernd die Augenbrauen. „Sag schon."
„Sie erbringen den Göttern Opfer und bitten damit um ihre Gunst", gab Richard ihr endlich Antwort.
Avelines Nackenhaare stellten sich unwillkürlich auf. Sie erbringen den Göttern Opfer? Das klang makaber und blutrünstig.
„Was für Opfer sind das?" Ihre Stimme flatterte und verriet die Unsicherheit, welche diese Information in ihr hervorgerufen hatte.
„Es sind meist Tiere, die sie opfern." Richard machte eine Pause und holte tief Atem. „Und sehr selten auch mal Sklaven." Er schwieg und beobachtete, was seine Worte in Aveline auslösten.
Sie musste leer schlucken. Menschliche Opfer. Das passte in das schreckliche Bild, das sie von diesen Heiden hatte. Ihr Leben, ihr Glaube, so wie sie die Welt sahen, das war alles so gewalttätig. Töten, schlachten, opfern. Selbst ihre Götterlegenden waren bespickt mit Brutalität.
Sie wollte das nicht verstehen. Sie konnte es nicht.
Doch eines erklärte es ihr. Es zeigte ihr auf, weshalb die Wikinger so waren, wie sie waren. Das musste alles zusammenhängen. Die Furchtlosigkeit und Barbarei der Wikinger war mit ihrem Glauben und diesen Göttern verbunden. Wenn man es so betrachtete, dann machte das alles wieder Sinn. Selbst für sie. Eine Christin.
„Du sagtest, die Welt sei in neun Teile geteilt. Kannst du mir nochmals sagen, welches diese neun Teile sind?", lenkte sie das Thema in eine andere Richtung.
Richard gähnte laut und ausgedehnt. „Können wir das auf einen anderen Abend verschieben?", bat er. „Ich bin hundemüde, ich muss morgen mit Hjalmar auf den Markt und wir müssen früh raus. Ich erklär dir das morgen, ja?" Er drehte sich in seiner Pritsche um und schloss die Augen.
„Na schön", grummelte Aveline. Eigentlich hätte sie noch mehr wissen wollen, doch Richard hatte recht. Er brauchte Ruhe.
Avelines Gedanken schwirrten noch eine ganze Weile lang, aber dann wurde auch sie von der Müdigkeit übermannt und schlief ein.
Ein wirrer Traum plagte sie in der Nacht.
Sie träumte, wie sie panisch vor etwas davonlief. Alles war in verschlingendes Schwarz gehüllt. Wovor sie zu fliehen versuchte, wusste sie nicht, aber sie spürte die Angst in ihrer Brust. Ihr Instinkt befahl ihr, schneller zu laufen.
Ein Horn blies.
Sie stolperte und fiel auf die Knie. Zwei Raben kreisten über ihren Kopf und als sie hochblickte, verwandelte sich der Boden, auf dem sie kniete, in heisse Glut. Die Hitze drang durch ihre Haut in ihre Knochen. Ihre Füsse und Hände verbrannten.
Sie schrie, jedoch kam kein Laut aus ihrer Kehle.
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