Kapitel 25
Sechs Monate.
Sechsundzwanzig Wochen.
Hunderteinundachtzig Tage.
So lange wartete ich schon.
So lange musste ich Logan aus der Ferne lieben.
Bis heute.
Denn heute war der Tag, an dem sich alles zum Guten wenden würde. Heute war der Tag, an dem Logan und ich offiziell ein Paar sein durften - naja, besser gesagt in acht Stunden. Es waren noch acht Stunden übrig, bis sein letzter Tag an der Garfield High ein Ende fand. Noch acht Stunden, die wir überstehen mussten. Aber auch acht Stunden, die ich genießen sollte. Logan war ein klasse Lehrer. Schon zu Beginn hatte er diese Art an sich, die jeden Schüler in seinen Bann zog.
Einerseits war ich unglaublich froh darüber, dass wir endlich eine gemeinsame Zukunft hatten. Das Versteckspiel war vorbei.
Doch andererseits verspürte ich auch etwas Wehmut. Immerhin hatte hier an der Schule alles begonnen. Hier hatten wir uns kennengelernt, waren uns näher gekommen. So viele glückliche, aber auch unglückliche Stunden verband ich mit Logan und der Garfield High, dass es mich fast schon ein bisschen traurig machte. Insbesondere der Gedanke, ihn nie wieder hier über die Schulflure laufen zu sehen, die verstohlenen Blicke, die wir uns zuwarfen.
All das ging mir nun durch den Kopf, als ich in Logans eisblaue Augen sah. Ich war gerade auf den Parkplatz der Garfield High gefahren, hatte mein Auto abgestellt und war ausgestiegen, als ich Logan erblickt hatte. Auch er war gerade angekommen. Angekommen, in seinem letzten Tag.
Als unsere Blicke sich begegneten, konnte ich nicht anders, meine Lippen formten ein Lächeln. Er erwiderte es und in diesem Moment wusste ich - er dachte genau dasselbe.
Wie damals, als wir uns zum ersten Mal getroffen hatten.
»Hey, na bereit für den großen Tag?«, Poppy erschien in meinem Blickfeld und versperrte mir die Sicht auf Logan. Ihr Gesicht zierte ein breites Lächeln.
»Mehr als bereit«, antwortete ich und erwiderte ihr Grinsen.
»Das dachte ich mir doch«, Poppy hakte sich bei mir unter und schob mich in Richtung des Gebäudes. »Wir haben bereits ein paar Vorkehrungen getroffen. Ruby hat sich um die Dekoration gekümmert für Logans Klassensaal. Ich habe mit Ms Connors gesprochen, sie sorgt dafür, dass er in der Pause nicht zu seinem Saal geht, so haben wir ausreichend Zeit, um alles vorzubereiten. Außerdem habe ich mit Timmy gestern noch ein paar Chocolate Cupcakes gebacken. Mag Logan überhaupt Cupcakes?«, Poppy redete so schnell, dass ich ihr kaum folgen konnte. In meinem Kopf herrschte ein absolutes Durcheinander vor Aufregung und Vorfreude.
»Wer mag keine Chocolate Cupcakes?«, entgegnete ich und schenkte Poppy ein Lächeln.
»Sehr gut«, Poppy nickte zufrieden.
Gemeinsam begaben wir uns zum Unterricht.
Während ich an meinem Spind vorbeikam, konnte ich nicht anders, als mich an den Augenblick zurückzuerinnern, als wir uns zum ersten Mal begegnet waren.
Ich hatte mich umgedreht und meine Bücher verstauen wollen, als wir zusammenstießen. Ich lächelte beim Gedanke daran, was er zu mir gesagt hatte. Ich erinnerte mich noch an jedes Detail.
»Emily Brontë?«, seine Stimme war tief, melodisch und rau. Sie jagte mir einen gewaltigen Schauer über den Rücken. Erst jetzt bemerkte ich, dass er meinen Roman in den Händen hielt und diesen betrachtete. Dann hob er seinen Blick und sah mir direkt in die Augen. Erneut beschleunigte sich mein Puls, als hätte ich gerade einen Marathon hinter mir.
»Schullektüre?«, fragte er nochmals und sein rechter Mundwinkel verzog sich zu einem wunderschönen, schiefen Lächeln. Ich räusperte mich, da ich das Gefühl hatte, meine Stimme erst wieder finden zu müssen.
»Ähm, nein. Ich lese es in meiner Freizeit«, ich richtete meinen Blick auf den Roman, um mich wieder einigermaßen zu sammeln.
»Mein Lieblingsroman«, merkte ich an, in der Hoffnung, er würde mir das Buch endlich wieder zurückgeben, sodass ich von hier verschwinden konnte. Denn diese Begegnung verwirrte mich zutiefst.
Im Augenwinkel sah ich, wie er die Brauen hob.
»Ein solch düsterer Roman weckt Ihre Liebe zur Literatur?«, er wirkte erstaunt.
»Scheint so«, erwiderte ich und sah wieder in seine stahlblauen Augen.
»Was ist mit Jane Austen? Stolz und Vorurteil?«, neugierig musterte er mich. Leicht lächelnd blickte ich zu Boden. Natürlich hatte ich Stolz und Vorurteil gelesen - und geliebt. Doch das war, bevor ich all diese schweren Schicksalsschläge hatte erleiden müssen.
»Ich schätze ich gehöre zu der anderen Sorte.«
»Sie mögen kein Happy End?«, ein überraschter Ausdruck legte sich über sein Gesicht.
»Doch«, flüsterte ich. »Ich glaube nur nicht mehr daran.«
Tja. Nicht zu fassen, was sich im letzten halben Jahr alles verändert hatte. Während ich vor sechs Monaten noch dieses traurige, kleine Mädchen war, hatte ich mich nun zu einer erwachsenen, selbstbewussten Frau entwickelt. Ich hatte mich meinen Ängste gestellt, ich war über mich hinausgewachsen und ich hatte um ein Happy End gekämpft - nun war ich kurz davor, es endlich zu bekommen.
Die Schulstunden zogen sich daher nur so in die Länge. Ständig warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr. Ich konnte es gar nicht mehr erwarten, dass der Tag sich dem Ende neigte. Mir war schon ganz schwindelig vor Aufregung.
Als es zur Pause klingelte, machten Poppy und ich uns auf den Weg zu Logans Klassensaal, wo wir uns gemeinsam mit Ruby, Danny und Timmy trafen. Wie von Ms Connors versprochen, war die Tür des Raumes unverschlossen und so schmuggelten wir uns alle schnell herein. Ruby schleppte eine riesige Kiste mit und ließ sie aufs Pult sinken.
Während wir uns alle kurz sammelten, nutzte ich die Gelegenheit, um den Saal in Augenschein zu nehmen. Meine Augen glitten über die Tafel, auf die Ruby nun in großen Lettern GOODBYE MR BLACK schrieb. Meine Hände strichen über das kühle Holz des Pultes, an dem Logan stets lehnte, wenn er voller Enthusiasmus über die englische Literatur gesprochen hatte. Erinnerungen prasselten auf mein inneres Auge ein. Schöne Erinnerungen an Logans Unterricht. Meine Augen wanderten weiter, über die Schülerplätze hinweg, bis hin zu meinem Platz. In meinem Kopf konnte ich mich selbst an meinem Tisch sitzen sehen, ich erinnerte mich zurück an den Moment, als Logan an seinem ersten Schultag in den Klassensaal gekommen war. Wie peinlich berührt ich gewesen war, als ich erkannte, dass unser neuer Englischlehrer ausgerechnet der Mann war, mit dem ich einige Augenblicke zuvor auf dem Flur zusammengestoßen war.
Ich erinnerte mich daran, wie ich mich in meinem Platz tiefer hatte in den Sitz sinken lassen, in der Hoffnung, dass er mich übersah. Doch das tat er nicht. Natürlich nicht. Denn schon zu diesem Zeitpunkt war unser Schicksal besiegelt. Gegen Gefühle konnte man sich nicht wehren. Logan war mir begegnet, als ich am Boden lag. Er hatte mich zum dunkelsten Zeitpunkt meines Lebens kennengelernt und mich in meiner schlimmsten Verfassung gesehen. Und dann hatte er mir seine Hand gegeben und mich hochgezogen. Er war da, als ich mich alleine fühlte. Er hatte etwas in mir gesehen, was niemand sonst sah. Er hatte mir dabei geholfen, mich selbst zu retten.
»Alles klar«, nachdem er die Liste überprüft hatte, legte er diese neben dem Pult ab und ließ seinen Blick über die Kursteilnehmer schweifen.
»Dann können wir zum Einstieg auch gleich schon mit der Frage beginnen, welche bekannten, englischen Werke von welchem Schriftsteller im neunzehnten Jahrhundert entstanden sind?«
Jane Austen, Charles Dickens, Emily Brontë, Thomas Hardy ...
Natürlich kannte ich sie alle, aber ich meldete mich nicht. Ich hatte mich noch nie groß an der Mitarbeit beteiligt, selbst wenn mir das Thema lag. Ein paar meiner Mitschüler meldeten sich und nannten einige bekannte Werke sowie ihre Künstler. Doch niemand nannte meinen Lieblingsroman. Kurz erwog ich es, mich zu melden. Und bevor ich den Gedanken wieder verwerfen konnte, wurde mir die Entscheidung abgenommen.
»Drea? Wissen Sie vielleicht noch ein bekanntes Werk aus dem neunzehnten Jahrhundert?«
Ich konnte nicht anders und sah perplex auf, geradewegs in seine klaren, blauen Augen, die mich nun erwartungsvoll anstarrten. Ich war erstaunt darüber, dass er sich meinen Namen bereits hatte einprägen können. Diese Tatsache brachte mich für ein paar Sekunden aus dem Konzept. Schnell versuchte ich meine Gedanken zu sammeln, um mich an seine Frage zu erinnern. Denn es schien, als wollte er auf etwas Bestimmtes hinaus und ich wusste auch genau, worauf.
»Sturmhöhe«, meine Stimme sollte fest klingen, doch es war kaum mehr als ein Flüstern.
»Emily Brontë«, beendete er meinen Satz und seine Lippen verzogen sich erneut zu einem kleinen Lächeln. Jäh fühlte ich mich an das vorherige Gespräch auf dem Flur mit ihm zurückerinnert, als er meinen Roman in den Händen gehalten hatte. In diesem Moment wusste ich, dass er an genau dasselbe dachte und wie aus dem Nichts, erschien ein Lächeln auf meinem Gesicht.
Es fühlte sich echt an
So viele schöne Erinnerungen verband ich mit diesem Ort. Mein Blick schweifte und ich sah zum Fenster hinaus. Es war grau und trüb, jedoch stahl sich ein einziger kleiner Sonnenstrahl zwischen dem wolkenverhangenen Himmel hervor und streichelte über mein Gesicht. Ein kleiner Hoffnungsschimmer. Genau wie der winzig kleine Hoffnungsschimmer, der Logan und mich zusammengebracht hatte. Ich schloss die Augen und genoss diesen kurzen Moment.
»Hey Drea, hilfst du mir mal hier drüben?«, hörte ich Rubys Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und sah Ruby, die auf einem der Tische stand und versuchte ein Banner aufzuhängen.
»Ja, na klar«, schnellen Schrittes kam ich zu Ruby und kletterte ebenfalls auf den Tisch. Gemeinsam befestigten wir den Banner an der Raumdecke. Es war ein Riesenspaß und selbst Timmy, der nicht in unserem Englischkurs war, packte fleißig mit an.
Der Nachrichtenton meines Handys riss mich aus meinem Tun. Ich zog mein Smartphone aus der Hosentasche hervor. Ich hatte eine SMS erhalten.
Als ich den Namen des Absenders sah, machte sich Verwunderung in mir breit. Die SMS war von Madison.
Hey Drea,
es tut mir leid, wie das letztens
zwischen uns gelaufen ist.
Ich wusste nicht,
dass du deinen Cousin angezeigt hast.
Können wir bitte reden? Wenn möglich jetzt?
Wo bist du gerade?
Madison
»Hey Poppy«, rief ich und winkte sie zu mir. Poppy hielt inne und kam zu mir geschlendert. Ich hielt ihr mein Handy hin.
»Schau mal, Madison hat mir eine SMS geschrieben.«
»Madison Lively?«, wiederholte Poppy ungläubig, »Was hat sie denn geschrieben?«
»Sie möchte mit mir reden«, antwortete ich und hielt Poppy mein Handy hin, sodass sie die Nachricht lesen konnte. Ihre braunen Augen flogen in Rekordgeschwindigkeit über die Zeilen, die Madison mir geschickt hatte.
»Woher weiß sie von der Anzeige?«, fragte Poppy skeptisch, als sie mir das Handy wieder aushändigte.
»Die Polizei hat sie verhört wegen des Bildes mit Adam auf Social Media«, flüsterte ich ihr leise zu.
»Denkst du, dass Adam noch Kontakt mit ihr hat?«, sprach Poppy die Frage aus, die mir die ganze Zeit schon im Kopf herumgeisterte, seit ich Madisons Nachricht gelesen hatte.
»Ich weiß es nicht, laut ihrer Aussage bei der Polizei nicht. Vielleicht kann sie uns aber trotzdem einen Hinweis auf seinen Aufenthaltsort geben, Poppy!«
Poppy nickte zustimmend, während ich eine schnelle Antwort tippte.
Hallo Madison,
Du hast recht, lass uns reden.
Ich bin in Mr Blacks Klassenzimmer.
Wir treffen uns davor.
Bis gleich.
Drea
»Ich bin wirklich gespannt, was sie zu berichten hat!«, sagte Poppy gedankenverloren.
Ich stimmte ihr zu, während ich mein Handy wieder einpackte.
»Sollte ich Ruby davon erzählen?«, fragte ich Poppy schließlich, woraufhin sie vehement den Kopf schüttelte.
»Behalte es vorerst für dich. Madison war schon seit zwei Wochen nicht mehr in der Schule. Wenn Ruby erfährt, dass sie hier ist, wird sie sofort mit ihr reden wollen. Außerdem müsstest du ihr dann auch von der Sache mit Adam erzählen. Ruby würde ausrasten.«
Poppy hatte recht. Es war besser, Ruby vorerst nichts zu erzählen, das ganze konnte nach hinten losgehen und vielleicht würde Madison sich mir dann nicht mehr anvertrauen wollen. Ich musste alleine mit ihr reden.
»Hey, was tuschelt ihr da hinten?«, rief Ruby plötzlich vom anderen Ende des Raums. Poppy und ich zuckten ertappt zusammen. Doch wie ich Poppy kannte, rettete sie die Situation.
»Wir haben gerade beschlossen, dass wir schon mal ein paar von den leckeren Cupcakes probieren, bevor sie später alle aufgegessen sind. Ich hab uns extra welche zur Seite gelegt«, Poppy grinste unverschämt, schlenderte rüber zu ihrer Tasche und zauberte einen kleinen Plastikbehälter hervor. Während sich alle auf die Cupcakes stürzten, überkam mich plötzlich das Gefühl, als hätte ich etwas vergessen.
Poppy warf mir einen Blick zu.
»Drea, darfst du einen essen wegen deinem Zucker?«, Poppy sah mich fragend an, während sie mir den Behälter mit den Cupcakes hinhielt. Und dann fiel es mir siedend heiß ein. Ich hatte seit gestern Abend mein Insulin nicht mehr genommen!
»Verdammt!«, fluchte ich und schlug mir die Hand vor die Stirn. Durch die ganze Sache mit Logan, hatte ich es doch glatt vergessen. Deshalb war mir der ganze schon Tag schon so schwindelig gewesen! Es war nicht vor Aufregung, sondern weil ich mein Insulin vergessen hatte. Mist!
»Was ist los?«, wollte Poppy wissen, Sorge schwang in ihrer Stimme mit.
»Ich hab mein Insulin vergessen. Seit gestern Abend!«, erwiderte ich, während ich zu meinem Rucksack eilte.
»Oh«, entgegnete Poppy. »Ist das schlimm?«
Laut fluchend stellte ich fest, dass ich das Insulin in meinem Schließfach gelagert hatte.
»Wenn ich nicht wieder so enden will, wie damals auf der Klassenfahrt, dann ist es schlimm, ja!«, schimpfte ich und richtete mich auf.
»Ich gehe kurz an mein Schließfach das Insulin holen, ich bin gleich wieder da.«
Die anderen nickten, während ich auf die Tür des Klassenzimmers zulief.
Ich war im Begriff nach der Klinke zu greifen, als sie von außen nach unten gedrückt wurde.
Die Tür öffnete sich und vor mir stand Madison. Ihr Gesicht war ausdruckslos und leichenblass. Ich setzte gerade zu einer Begrüßung an, als ich erkannte, dass Madison nicht alleine war.
Mir gefror das Blut in den Adern, als ich erkannte, wer hinter Madison stand.
Ich blickte geradewegs in Adam Chambers giftgrüne Augen.
»Hallo liebste Cousine.«
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