Kapitel 1
Ich sah in den Spiegel und blickte zwei abgestumpften braunen Augen entgegen. Dunkle Ringe zeichneten sich unter ihnen ab. Sie lagen in tiefen Furchen und instinktiv fragte ich mich, ob meine Augen schon immer derart leer und ausdruckslos aussahen, oder ob sie erst seit Anfang der Sommerferien diesen traurigen Blick angenommen hatten.
Ich wandte mich vom Spiegel ab, da ich mein eigenes Abbild nicht mehr ertragen konnte und schlüpfte in meine Lieblingsjeans. Nach einem prüfenden Blick in den Schrank, entschied ich mich für ein schwarz-weiß gestreiftes Shirt.
Die Kleidung, die mir vor zwölf Wochen noch gepasst hatte, als wäre sie für mich maßgeschneidert worden, schlotterte nun an meinem knochigen Körper, als wäre sie mir mehrere Nummern zu groß. Ich war einmal hübsch gewesen, vor den Sommerferien um genau zu sein. Doch dann hatte sich mein Freund Danny urplötzlich nach zwei Jahren Beziehung von mir getrennt. Keine drei Stunden später war mein Dad nach Hause gekommen. Ich hatte es kaum erwarten können, mich in seine vertrauten Arme zu werfen, die mir schon von klein auf in schwierigen Zeiten Trost gespendet hatten.
Als ich allerdings in sein Gesicht geblickt hatte, wusste ich, dass etwas nicht stimmte, dass etwas passiert sein musste. Seine Augen waren gerötet, als hätte er geweint. Er wirkte, als wäre er zehn Jahre gealtert.
In meinem Bauch braute sich eine böse Vorahnung zusammen und mit einem Mal wartete ich nur darauf, dass er die Lippen öffnete, um mir die schlechte Nachricht zu überbringen; meine Mutter hatte einen Autounfall. Noch an der Unfallstelle erlag sie ihren Verletzungen. Welch toller Start in die Sommerferien und in das letzte Abschlussjahr der High School.
In diesen zwölf Wochen hatte ich mich Tag für Tag gefragt, was um alles in der Welt ich getan hatte, um solch ein mieses Karma verdient zu haben. Immerzu streiften dieselben Fragen durch meinen Kopf. Warum bestrafte mich das Universum auf so üble Weise? Warum hatte meine Mutter meinen Vater mit drei Kindern alleine gelassen? Warum hatte Danny sich plötzlich von mir abgewandt? Nichts war mir geblieben außer einem tiefsitzenden Schmerz.
Allerdings gab es eine Sache, die mich von meinem grauen Alltag ablenkte. Eine Tätigkeit, durch die ich in eine andere Welt schlüpfen konnte und ohne die ich die Sommerferien wohl nicht überstanden hätte. Mein Blick fiel auf die Ausgabe von Sturmhöhe, die auf meinem Bett lag.
Unzählige Male hatte ich mich in den Ferien in dieses Buch geflüchtet, in eine andere Person, eine Person, die genauso unter dem Tod eines geliebten Menschen und der verlorenen Liebe litt, wie ich. Mit schnellen Schritten ging ich zu meinem Bett und stopfte das abgenutzte Buch in meine Schultasche.
Der erste Tag nach den Ferien. Ich war nicht bereit dafür. Jede Faser meines Daseins schien sich vehement dagegen zu wehren und doch setzte ich einen Fuß vor den anderen und stieg die Treppe hinab. Mir blieb nichts anderes übrig als weiter zu machen. Wie genau, wusste ich jedoch noch nicht.
In der Küche angekommen war mein großer Bruder Lukas und mein Dad Cedric bereits am Aufräumen. Sie hatten gewusst, dass ich zum Frühstück nicht erscheinen würde und dennoch stand wie an jedem Tag in diesen zwölf Wochen ein frisch zubereitetes Frühstück für mich bereit, das ich letztendlich wieder nicht anrühren würde.
Meine kleine Schwester Mia saß auf dem ihr viel zu großen Stuhl und rührte seelenruhig mit der bloßen Hand in ihrem Essen herum. Mit ihren vier Jahren konnte sie natürlich noch nicht begreifen, dass ihre Mutter nicht mehr da war, dass sie nie mehr wieder kommen würde.
Mein Blick schweifte auf den leeren Platz am Küchentisch, wo meine Mum jeden Morgen gesessen und in aller Ruhe die Tageszeitung gelesen hatte. Kurz stellte ich mir vor, sie wäre noch da. Ich stellte mir vor, sie würde noch immer an ihrem Platz am Kopfende des Tisches sitzen. Sie würde an ihrem Kaffee nippen und mir einen mahnenden Blick aus ihren strahlend blauen Augen zuwerfen, der besagte, dass ich wieder einmal zu spät dran war für die Schule.
Ich fühlte ein erdrückendes Gefühl in der Brust und schnell verdrängte ich diese Erinnerungen. Sie war nicht mehr da.
»Guten Morgen, Drea«, grüßte mein Dad mich aus müden Augen. Auch ihm saß der Schmerz noch schwer ums Herz. Jedes Mal, wenn ich ihn ansah spiegelte sich meine eigene Trauer in seinen Augen. Schnell sah ich wieder weg und murmelte ebenfalls ein Guten Morgen.
Mein Bruder Lukas gab mir lediglich einen Kuss auf die Wange und machte sich dann auf den Weg zur Arbeit. Er und Dad führten gemeinsam unser erfolgreiches Familienunternehmen, eine Immobilienagentur, die Dad schon in jungen Jahren alleine aufgebaut hatte.
Da Dad selbstständig war, begann er erst später mit der Arbeit und konnte sich so noch um Mia kümmern, ehe er sie in den Kindergarten brachte. Für Gewöhnlich war dies Mums Aufgabe gewesen und nur ein weiteres Indiz dafür, wie sehr sie fehlte.
»Ich muss los. Bis heute Abend«, informierte ich meinen Dad, bevor ich mich auch schon umdrehte, um das Haus zu verlassen.
»Drea, warte!«, rief er und folgte mir zur Haustür. Ich wandte mich ihm zu, konnte mich aber nicht dazu überwinden, ihm in die großen braunen Augen zu schauen, die meinen so sehr ähnelten.
»Ich habe dir etwas zum Essen gemacht«, er räusperte sich und ich spürte sein Unbehagen. »Ohne Frühstück bekommst du sicher Hunger bis zur Mittagspause.« Er streckte mir eine Brotbox entgegen und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. Für einige Augenblicke sagte ich nichts und starrte nur auf die Box in seinen Händen.
Mir war durchaus bewusst, dass es ein Wink mit dem Zaunpfahl war, mein Dad machte sich Sorgen um mich. Natürlich war ihm und Lukas mein Gewichtsverlust nicht verborgen geblieben.
Dennoch wollte ich meinen Dad nicht noch mehr belasten, als er es ohnehin schon war, also nahm ich die Box dankend an und machte mich dann auf den Weg zu meinem Auto, einem Ford Fiesta. Mum und Dad hatten ihn mir zu meinem achtzehnten Geburtstag vor einigen Monaten geschenkt. Kurz vor Mums schrecklichem Unfall.
Ich unterdrückte das Bedürfnis auszusteigen und zurück in mein Zimmer zu rennen, mich unter der warmen Bettdecke zu verkriechen und mich in den Schlaf zu weinen. Stattdessen startete ich den Motor und fädelte mich in den morgendlichen Berufsverkehr von Seattle ein.
Es war nur eine zehnminütige Fahrt, wobei mir jedoch von Minute zu Minute übler wurde. Schließlich bog ich auf den kleinen Parkplatz der Garfield High ein und suchte mir einen geeigneten Platz.
Ich krallte meine Hände in die Riemen meiner Tasche, während ich über den Parkplatz auf die ausgestreckte Steintreppe zuging. Vor den Stufen blieb ich stehen und blickte hinauf auf das alte rote Ziegelsteingebäude, das meine Schule war.
So viele Erinnerungen waren mit diesem Ort verbunden, schöne Momente sowie auch Schlechte. Und jetzt war alles anders, so vieles hatte sich verändert.
Ich nahm einen tiefen Atemzug, ehe ich mich in Bewegung setzte und die Treppen hinauf zur Tür stieg.
Als ich im Eingangsbereich ankam, wimmelte es nur so von Schülern. Es war buchstäblich die Hölle los. Neue Schüler, neue Lehrer und überall hingen Informationen aus. Ich schlängelte mich durch die Masse hindurch und als ich aufblickte, spürte ich ein Stück meiner früheren Normalität zurückkehren. Das lag nicht an der überfüllten Aula, in der sich die Schüler nun lautstark über ihre Ferien austauschten, oder sich über die neuen Lehrer und Stundenpläne ausließen. Nein, es lag an meinen besten Freunden, die einige Meter weiter standen und auf mich warteten, wie sie es schon immer getan hatten.
Mein erster Blick fiel auf Poppy, die mit ihrer grau gefärbten Mähne überall herausstach. Poppy war schon immer etwas ungewöhnlich gewesen, sie war anders als die meisten Mädchen auf der High School. Genau aus diesem Grund mochte ich sie so sehr. Sie war offen, ehrlich und vor allem aber war sie vorlaut, sogar Lehrern gegenüber.
Poppy war dafür bekannt, niemals ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Selbst aus dieser Entfernung konnte ich erkennen, dass ihre dunklen Augen mich gefunden hatten und vor Wärme nur so strahlten.
In den Ferien war sie mich jeden Tag besuchen kommen. Anfangs hatte ich versucht sie zu vergraulen, hatte sie angeschrien, ignoriert, doch rasch wurde mir klar, dass sich Poppy so schnell nicht abwimmeln ließ. Sie blieb, selbst wenn wir nicht ein einziges Wort miteinander wechselten, uns anschwiegen, ignorierten, sie blieb. Jeden Tag besuchte sie mich und langsam aber sicher hatte ich mich an ihre Anwesenheit bei mir zuhause gewöhnt.
Neben ihr stand Timmy und auch auf seinem Gesicht, war ein leichtes Lächeln zu erkennen, als ich mich ihnen näherte. Seine rostbraunen Haare standen ihm wirr vom Kopf und seine blassen Augen folgten mir durchs Getümmel.
Das erste was ich wahrnahm, waren Poppys graue Strähnen, als sie mich in eine stürmische Umarmung zog.
»Wilkommen zurück, Drea«, Flüsterte sie und drückte mich noch etwas fester, bevor sie mich schließlich wieder freigab. Ich erwiderte ihr Lächeln, wenn auch etwas gezwungen.
Lächeln war etwas, das mir fremd geworden war und es fühlte sich merkwürdig an meine Mundwinkel nun so zu verziehen. Es war, als wären sie für lange Zeit eingerostet gewesen. Timmy grinste mich breit an und auch er zog mich in eine wilde Umarmung, wobei meine Füße fast vom Boden abhoben.
»Bonjour ma cherié«, Begrüßte er mich, wobei sein französischer Akzent kaum zu überhören war. Timmy war zwar hier in Amerika geboren und aufgewachsen, jedoch waren seine Eltern aus Frankreich, daher wuchs er zweisprachig auf, wobei das Französisch, wie man erkennen konnte, dominierte.
»Hey«, grüßte ich zurück und wusste noch nicht so ganz wie ich mich verhalten sollte. Ich fühlte mich nicht unwohl, meine Freunde wieder um mich zu haben, war ein schönes Gefühl. Allerdings war es merkwürdig wieder in meine alten Normen zurückzukehren, mit dem Wissen, dass sich eigentlich alles verändert hatte, dass nichts mehr so war wie zuvor.
Poppy schien mein Unbehagen zu spüren und begann über unseren neuen Stundenplan zu schnattern, ein liebevoller Versuch mich abzulenken. Sofort nahm ich den Rettungsring an und spürte Erleichterung, dass mich keiner der beiden auf zwei bestimmte Themen ansprach; der Tod meiner Mum und Danny.
Wenn ich daran dachte, ihn heute in der Schule sehen zu müssen, was sich zwangsläufig nicht vermeiden ließ, wurde mir speiübel und ich bekam feuchte Hände.
Wie sollte ich mich bloß verhalten? Nach seiner Trennung, hatten wir uns nicht mehr gesehen, geschweige denn miteinander gesprochen. Zwar hatte er am nächsten Tag, als er erfuhr, dass meine Mutter bei einem Unfall verunglückt war, angerufen und mir zig SMS geschrieben, allerdings hatte ich alle davon ignoriert.
Mir war bewusst, dass ich Danny nicht egal war, schließlich waren wir zwei Jahre lang miteinander gegangen, kannten uns gegenseitig so gut wie kein anderer, aber er liebte mich nicht mehr. Und diese Erkenntnis schmerzte noch immer, sehr sogar.
Ich zwang mich dazu, diese trübseligen Gedanken beiseite zu schieben und konzentrierte mich auf Poppy und Timmy, mit denen ich gerade auf dem Weg zu unseren Spinden war. Es schien mir eine Ewigkeit her zu sein, als ich noch mit Poppy, Timmy und Danny die Schulflure entlang gelaufen war, doch so lange lag es noch gar nicht zurück, heute waren es genau zwölf Wochen.
An meinem Spind angekommen, öffnete ich ihn und wollte meine Bücher heraussuchen, als mein Blick auf ein Bild von Danny und mir fiel, das noch immer an der Innenseite der Spindtür klebte.
Augenblicklich spürte ich den Schmerz zurückkehren, meine Gliedmaßen versteiften sich und ich fühlte ein Stechen in der Brust. Poppy die meine Reaktion bemerkt hatte, riss das Bild herunter und zerknüllte es. Die Wut in ihren Augen war unübersehbar.
Sie war ebenfalls aus allen Wolken gefallen, als ich ihr von Dannys Trennung berichtet hatte. Denn auch Poppy war mit ihm befreundet gewesen und hatte nicht die geringste Ahnung, weshalb er mich plötzlich nicht mehr liebte.
Ich warf ihr einen dankbaren Blick zu. Im Augenblick aber wünschte ich mir nur noch alleine zu sein und meine Wunden lecken zu können, was meiner besseren Hälfte offenbar ebenfalls nicht entging.
»Timmy und ich gehen schon mal vor. Du weißt ja wo der Saal ist.« Sie lächelte mir noch einmal aufmunternd zu und strich mir mitfühlend über den Arm, bevor sie und Timmy sich auch schon auf den Weg machten. Erleichtert stieß ich die Luft aus und nahm meine Bücher aus dem Fach.
Gedankenverloren drehte ich mich um. Ich war gerade im Begriff alles in meiner Tasche verschwinden zu lassen, als ich mit jemandem zusammenstieß. Meine Tasche glitt mir aus der Hand, der gesamte Inhalt rutschte heraus und verteilte sich auf dem Boden.
Na klasse, dieser Tag konnte kaum noch besser werden. Ich murmelte eine kurze Entschuldigung an mein Gegenüber, ohne ihn anzusehen.
Sofort ging ich in die Hocke, um meine Schulsachen zurück in die Tasche zu stopfen. Zuletzt wollte ich nach meiner heiß geliebten Ausgabe von Sturmhöhe greifen, doch zur selben Zeit griff auch eine andere Hand danach und unsere Hände berührten sich.
Überrascht sah ich auf und für einen Moment stand die Welt still.
Stahlblaue Augen blickten unter dichten schwarzen Wimpern hervor und hielten meinen Blick für mehrere Sekunden lang gefangen. Ich war außerstande zu atmen und mein Herz begann zu rasen.
Aus einem mir unerfindlichen Grund setzte mein Herzschlag kurz aus. Ich hielt die Luft an und schluckte schwer. Erst dann bemerkte ich, dass ich den Mann mir gegenüber regelrecht anstarrte. Doch ich war nicht imstande wegzuschauen. Ich nahm markante Gesichtszüge wahr, die perfekter nicht hätten sein können und die von goldblonden, wirren Haaren umrahmte wurden. Einige Strähnen hatten sich gelöst und fielen ihm locker auf die Stirn.
Mit einem Mal wurde mir bewusst, dass sich unsere Hände noch immer berührten und ich fühlte ein Kribbeln. Verzweifelt versuchte ich meine Gedanken zu sammeln.
Ich spürte, dass mein Gegenüber sich langsam aufrichtete, was mich aus meiner Trance riss. Ich tat es ihm gleich und erhob mich.
Als ich aufsah, bemerkte ich erst wie hochgewachsen er war, gut über einen Kopf größer als ich. Er trug ein weißes Hemd, Krawatte und einen grauen Pullunder, unter dem sich versteckte stählerne Muskeln nur allzu deutlich abzeichneten.
Ich gab mir alle Mühe meinen rasenden Puls zu beruhigen.
»Emily Brontë?«, seine Stimme war tief, melodisch und rau. Sie jagte mir einen gewaltigen Schauer über den Rücken. Erst jetzt bemerkte ich, dass er meinen Roman in den Händen hielt und ihn betrachtete, dann hob sich seine Sicht wieder und er blickte mir direkt in die Augen. Erneut beschleunigte sich mein Puls, als hätte ich gerade einen Marathon hinter mir.
»Schullektüre?« Fragte er nochmals und sein Mundwinkel verzog sich zu einem schiefen Lächeln.
Kurz räusperte ich mich, da ich das Gefühl hatte, meine Stimme erst wieder finden zu müssen. »Ehm, nein. Ich lese es in meiner Freizeit«, ich richtete meinen Blick auf den Roman in seinen Händen, um mich einigermaßen zu konzentrieren. »Mein Lieblingsroman«, fügte ich an, in der Hoffnung, er würde mir das Buch endlich wieder zurückgeben.
Im Augenwinkel sah ich wie er die Brauen hob.
»Ein solch düsterer Roman weckt ihre Liebe zur Literatur?« Wollte er erstaunt wissen.
»Scheint so«, erwiderte ich und sah endlich wieder in seine stahlblauen Augen.
»Jane Austen? Stolz und Vorurteil?«, neugierig musterte er mich.
Ich lächelte leicht und blickte zu Boden. Natürlich hatte ich Stolz und Vorurteil gelesen - und geliebt. Doch das war, bevor ich all diese schweren Schicksalsschläge hatte erleiden müssen
»Ich schätze ich gehöre zu der anderen Sorte.«
»Sie mögen kein Happy End?«, er wirkte überrascht.
»Doch«, flüsterte ich. »Ich glaube nur nicht daran.« Bevor ich überhaupt darüber nachdenken konnte, was ich da sagte, waren die Worte bereits über meine Lippen. Erschrocken schaute ich auf. Er sah mir tief in die Augen und für einen kurzen Moment schien etwas in seinem undurchdringlichen Blick aufzuflackern. War es Neugierde? Wissen? Möglicherweise sogar Verständnis?
Bevor ich diesen Ausdruck jedoch deuten konnte, murmelte ich eine kurze Verabschiedung und machte auf dem Absatz kehrt. Auf halbem Weg zum Unterricht fiel mir auf, dass er noch immer meine Ausgabe von Sturmhöhe hatte. Ich kehrte jedoch nicht zurück.
In der ersten Stunde hatte ich American History. Mein Platz war zwischen Poppy und Timmy und nun saß ich hier inmitten der beiden und war noch immer verwirrt über das vorherige Gespräch mit diesem Mann.
Wut sammelte sich in meinem Bauch, da ich meiner Trauer nachgegeben hatte und sie nach außen getragen hatte. Ich hatte einem Fremden für einen klitzekleinen Moment meine Trauer offenbart, ihm Einblick in meine Seele gewährt.
Wer war er überhaupt? Ein neuer Schüler? Nein, wohl kaum. Sein Kleidungsstil entsprach nicht gerade dem eines Jungen hier auf der High School. Sehr wahrscheinlich war er ein neuer Lehrer. Zugegeben, er sah noch relativ jung aus, ich schätzte ihn auf Mitte zwanzig, allerdings gab es selbst in diesem Alter bereits Lehrkräfte. Noch peinlicher.
Zuerst hatte ich ihn angestarrt wie eine Ertrinkende, um ihn danach auch noch zum Zeuge meiner schwarzmalerischen Weltanschauung zu machen. Ich konnte nur hoffen ihn in der Schule so wenig wie möglich sehen zu müssen.
Jedoch war er noch im Besitz meines Romans, den ich mir wohl oder übel zurückholen musste. Seufzend warf ich einen Blick auf die Uhr, noch ein paar Minuten und die erste Stunde wäre überstanden.
Poppy sah mich besorgt von der Seite her an und ich spürte die unausgesprochene Frage auf ihrem Gesicht. Ich schenkte ihr ein gezwungenes Lächeln, um ihr zu bedeuten, dass alles okay war.
Endlich klingelte es zur nächsten Stunde und ich begab mich zusammen mit Poppy auf den Weg zu unserem Englischsaal. Timmy dagegen hatte leider einen anderen Kurs. Gemeinsam schlenderten wir durch die Flure. Kurz vor dem Saal fasste Poppy mich plötzlich am Handgelenk und warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu. Zuerst verstand ich nicht, was sie mir mitteilen wollte, als sie jedoch mit einem Nicken nach vorne deutete, sah ich Danny vor dem Englischsaal stehen.
Er lehnte mit dem Rücken an der Wand und lachte gerade über etwas, das seine Freunde ihm erzählten. Seine blonden Locken umschmeichelten die klaren geraden Linien seines Gesichtes, das ich in- und auswendig kannte.
Sehnsucht packte mich und ich erinnerte mich an die vielen gemeinsamen Momenten und die Wärme, die sich in mir ausgebreitet hatte, wenn ich in diese vertrauten schokoladenbraunen Augen gesehen hatte.
Sofort verkrampften sich meine Hände und mein Herz gefror zu Eis. Mein Blick wurde starr und ich musste tief einatmen, um den Schmerz, der mein Herz gefrieren ließ zu vertreiben.
»Du schaffst das, Drea. Wir ignorieren ihn einfach.«
Ich nickte, sah zu Boden und folgte Poppy zu unserem Saal. Ich zwang mich nicht aufzuschauen, ihn einfach links liegen zu lassen.
»Drea... hey«, Ertönte es hinter mir. Beim Klang seiner Stimme zuckte ich zusammen und fuhr herum. Danny stand direkt vor mir und blickte auf mich herab. Er schien sich sichtlich unwohl in seiner Haut zu fühlen. Seine Augen wanderten ruhelos umher. Verlegen kratzte er sich am Hinterkopf und ließ seine Hände dann in den Hosentaschen verschwinden.
Mir wurde sofort wieder übel, als ich den Ausdruck von Mitleid in seinem Gesicht lesen konnte. Ich wollte sein Mitgefühl nicht, ich brauchte es nicht. Ich wusste, er konnte nichts gegen seine Gefühle tun. Wenn er schlicht und ergreifend nicht mehr genug empfand, dann war das so. Ich gab ihm keine Schuld, nicht im Geringsten, doch der Schmerz war trotzdem da und ich hatte es satt, ihn ertragen zu müssen.
»Ich habe dich versucht zu erreichen, ich habe angerufen und geschrieben«, sprach er und sah dabei beschämt zu Boden, die Situation war ihm mehr als unangenehm. Ich schluckte schwer und riss mich zusammen, um eine vernünftige Antwort zustande zu bringen.
»Ja, ich weiß.« Ich wollte nicht mit ihm darüber reden, nicht zwischen Tür und Angel. Und schon gar nicht vor den anderen Schülern, die das Geschehen offenbar mehr als interessant fanden und nun alle leise tuschelnd ihre Köpfe in unsere Richtung drehten. Generell wollte ich gar nicht mehr mit ihm sprechen, es schmerzte einfach zu sehr und rief Erinnerungen in mir wach, die lieber verschlossen blieben.
Mit einem Mal hob er den Kopf wieder und sah mich voller Mitleid an. Wie ich diese Blicke hasste. Sie erinnerten mich daran, dass meine Mutter tot war und nie wieder zurück kommen würde.
»Wie geht es dir?«, fragte er schließlich. Ich konnte die Unsicherheit förmlich von seinem Gesicht ablesen, als stünde sie ihm auf die Stirn geschrieben. Ich wollte diese Frage nicht beantworten. So oft hatte ich sie schon gestellt bekommen in den letzten Wochen und jedes Mal antwortete ich mit »gut«, was natürlich gelogen war. Aber was sollte ich schon sagen?
Meine Mutter ist gestorben, mein Freund hat mich verlassen, ich bin völlig am Ende und sehe keinen Sinn mehr im Leben?
Plötzlich hörte ich, wie Poppy neben mir ein spöttisches Lachen ausstieß. Ich sah zu ihr rüber, ihre Hände waren zu Fäusten geballt. Wut verzerrte ihr Gesicht und ihre gesamte Körperhaltung drückte pure Ablehnung aus. Dann trat sie einen Schritt vor mich und sah Danny mit Augen an, in denen ein Eissturm hätte toben können.
»Was denkst du wohl wie es ihr geht? Dass du dich überhaupt wagst, sie auch noch anzusprechen! Lass Drea gefälligst in Ruhe, sonst garantiere ich für nichts, Danny.«
Ich war schockiert über Poppys Wutausbruch und warf ihr einen entgeisterten Blick zu. Danny schien es offenbar nicht anders zu ergehen. Doch in seinen Augen lag noch etwas anderes, er wirkte auf gewisse Weiße verletzt. Was nur natürlich war, schließlich hatte Poppy auch zu Dannys Freunden gezählt und nun stieß sie ihn derart vor den Kopf. Wegen mir.
»Poppy...«, setzte ich an, um sie zu beruhigen, aber sie ließ mich nicht zu Wort kommen.
»Nein«, fuhr sie nun auch mich an. »Er...« Mit einem Mal hielt sie abrupt inne und stoppte ihre Erzählung..
»Was ist?«, ich musterte sie argwöhnisch. Normalerweise konnten keine zehn Pferde Poppy aufhalten, wenn sie in Rage war. Verwirrt kniff ich die Brauen zusammen und warf nun auch Danny einen skeptischen Blick zu, dessen Kopf hochrot angelaufen war.
»Ich...«, Danny räusperte sich geräuschvoll. »Ich werd dann mal rein gehen.« Beschämt wandte er sich ab und verschwand schnellen Schrittes in unserem Englischsaal.
Ich wandte mich wieder an Poppy und musterte sie erwartend.
»Was war das eben?«,
Sie schüttelte lediglich den Kopf, während sie in ihrer Tasche zu wühlen begann. »Ach nichts. Ich kann nur nicht glauben, dass er sich rausnimmt, dich auch noch anzusprechen, nachdem er dich so mies abserviert hat.«
Poppy schaute mir nicht in die Augen, während sie sprach und ich bekam das Gefühl nicht los, dass mehr dahinter steckte. Warum sonst sollte sie derart feindselig Danny gegenüber gewesen sein? Schließlich war Danny doch ursprünglich auch einer ihrer besten Freunde gewesen.
Ich warf ihr einen letzten prüfenden Blick zu. Doch ich vertraute meiner besten Freundin und ließ von dem Thema ab. Wenn es etwas gab, das ich wissen sollte, hätte sie es mir sicherlich gesagt.
Ich atmete tief ein und wieder aus, um mich zu beruhigen. Jetzt wurde ich auch noch paranoid. Ich schüttelte den Kopf, um all diese wirren Gedanken beiseite zu schieben und um den Schmerz, der mir noch immer nach diesem Gespräch in den Knochen steckte, zu vertreiben.
Es wäre besser, wenn ich von nun an auf Abstand zu Danny ging. Es würde zwar schwierig werden, da wir einige Kurse zusammen hatten, aber nicht unmöglich.
Poppy und ich folgten dem Beispiel der anderen Schüler und traten in den Saal. Sofort ließen wir uns auf einem Platz möglichst weit hinten nieder, in der Hoffnung, Danny würde sich nicht in unsere Nähe setzen. Im Augenwinkel bemerkte ich, dass er sich ein paar Reihen weiter vorne einen Tisch suchte. Erleichterung machte sich in mir breit und das Atmen fiel mir etwas leichter, was sich jedoch sofort wieder ändern sollte.
Ich war gerade im Begriff meine Bücher auszupacken, als ich eine Bewegung an der Tür wahrnahm und aufblickte. Ich sah einen jungen Mann mit einem grauen Pullunder, weißem Hemd und Krawatte herein schlendern. Mein Herz klopfte für ein paar Augenblicke etwas schneller, beruhigte sich aber sogleich wieder.
Der Mann, mit dem ich vorhin zusammengestoßen war und anschließend dieses eigenartige Gespräch geführt hatte, er war mein Englischlehrer. Mit Sicherheit hielt er mich für eine depressive, selbstzerstörerische Schwarzmarlerin.
Noch hatte er mich nicht gesehen, also rutschte ich etwas tiefer in meinen Stuhl herein und warf meine braunen Locken nach vorne. Vielleicht würde er mich ja nicht gleich erkennen, was jedoch sehr unwahrscheinlich war. Leider hatte ich nicht dieses Allerweltsgesicht. Meine Lippen waren etwas zu üppig, mein Kiefer etwas zu ausgeprägt und meine Augen waren zu groß. Eindeutige Erkennungsmale, die ich nicht sehr mochte.
Poppy bemerkte meinen Versuch mich unsichtbar zu machen und hob eine Braue. Schnell sah ich nach vorne, was sich jedoch ebenfalls als einen Fehler erwies. Denn genau in diesem Moment nahm unser neuer Lehrer die Tasche von seinen Schultern, ließ sie aufs Pult fallen und blickte auf. Direkt in meine Augen.
Erneut lähmte mich die Intensität seines Blickes und ich konnte das Blut in meinen Ohren rauschen hören. Es kam mir vor, als wäre eine Ewigkeit vergangen, während wir uns einfach nur ansahen. In Wahrheit waren es wohl nur ein paar Sekunden, bevor diese Intensität verschwand und er den Blick flüchtig über die Klasse wandern ließ. Meine Wangen begannen zu glühen und mein Herz klopfte noch immer in einem beunruhigend schnellen Tempo. Ich spürte Poppys Augen auf mir. Als ich zu ihr rüber sah, schaute sie schnell weg. Doch ein schelmisches Grinsen umspielte ihre Lippen, während sie mit verschränkten Armen stur nach vorne stierte.
»Mein Name ist Logan Black und wie sie sich sicher alle denken können,« ein seichtes Lächeln erschien auf seinem Gesicht und er klatschte in die Hände, »werde ich sie in Englisch unterrichten.«
Mir entging nicht wie einige der Mädchen gebannt an seinen Lippen hingen oder ihre Haare zu zwirbeln begannen. Sie starrten ihn an, als stünde Adonis höchstpersönlich vor ihnen. Poppy hob bei diesem Anblick die Brauen und warf mir einen vielsagenden Blick zu. Jedoch konnte ich es diesen Mädchen kaum verdenken, Mr. Black war mehr als attraktiv.
»Mr. Black?« Ertönte nun eine schrille Stimme, Madison Lively. Ich hatte nicht viel mit ihr zu tun, aber hörte man auf die Gerüchteküche, so war sie als die typische Barbie und Oberzicke der Schule bekannt. Selbstverständlich musste jede High School eine eingebildete Schnepfe haben, die immer im Mittelpunkt stehen wollte, sonst wäre es ja nicht die High School. An Poppys abfälligem Schnauben konnte man deutlich erkennen, dass die beiden sich nicht sonderlich gut ausstehen konnten.
»Was werden wir denn bei Ihnen durchnehmen? Nur, dass wir uns natürlich schon einmal auf den Unterricht vorbereiten können?« Sie klapperte ein paar Mal mit den Wimpern und überschlug dann ihre Beine. Entweder wollte sie sich bei unserem neuen Lehrer Mr. Black einschleimen, oder aber sie stand auf ihn. Okay, ich mochte sie ebenso wenig wie Poppy es tat.
»Nun,« begann Mr. Black mit seiner tiefer Stimme, »wir werden uns hauptsächlich mit dem Thema Literatur im neunzehnten Jahrhundert beschäftigen. Hierzu werdet ihr leider auch einige Werke lesen müssen.« Einige im Kurs stöhnten laut auf, woraufhin Mr. Black nur leise lachte. Sein Lächeln war unglaublich schön und zog mich sofort in seinen Bann.
Mr. Black ging die Kursliste durch und wir sollten bei unserem jeweiligen Namen Handzeichen geben, sodass er sich die Gesichter besser einprägen konnte. Er begann und mit jedem weiteren Namen, den er vorlas wurde ich nervöser, mein Herzklopfen setzte wieder ein und mein Mund fühlte sich trocken an.
»Drea Dupree?«
Ich hob lediglich den Arm und fixierte die Liste, die er in den Händen hielt, um nicht in das fesselnde Blau seiner Augen sehen zu müssen.
»Alles klar«, nachdem er die Liste durch war und sie neben sich auf dem Pult ablegte, ließ er seinen Blick wieder über den Kurs schweifen. »Dann können wir zum Einstieg auch gleich schon mit der Frage beginnen, welche bekannte, englische Werke von welchen Schriftstellern im neunzehnten Jahrhundert entstanden sind?«
Jane Austen, Charles Dickens, Emily Brontë, Thomas Hardy... Natürlich kannte ich sie alle, aber ich meldete mich nicht. Ich hatte mich noch nie groß an der Mitarbeit beteiligt, selbst wenn mir das Thema lag. Ein paar meiner Mitschüler meldeten sich und nannten einige bekannte Werke, sowie ihre Künstler. Doch niemand nannte meinen Lieblingsroman. Kurz erwog ich, mich zu melden und bevor ich den Gedanken wieder verwerfen konnte, wurde mir die Entscheidung abgenommen.
»Drea? Wissen sie vielleicht noch ein bekanntes Werk aus dem neunzehnten Jahrhundert?«
Ich konnte nicht anders und sah perplex auf, geradewegs in seine klaren, blauen Augen, die mich nun erwartungsvoll anstarrten. Es schien, als wollte er auf etwas Bestimmtes hinaus und ich wusste auch genau, worauf.
»Sturmhöhe.« Meine Stimme sollte eigentlich fest klingen, doch es war kaum mehr als ein Flüstern.
»Emily Brontë.« Beendete er meinen Satz und seine Lippen verzogen sich erneut zu einem kleinen Lächeln. Jäh fühlte ich mich an das vorherige Gespräch auf dem Flur zurückerinnert, als er meinen Roman in den Händen gehalten hatte. In diesem Moment wusste ich, dass er an genau dasselbe dachte und plötzlich, wie aus dem Nichts, erschien ein Lächeln auf meinem Gesicht. Es war echt.
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