
Kapitel 16
Erst am nächsten Tag – einem Mittwoch – begegnete ich Ally wieder. Sie trat wie an unserem ersten Tag an den Verkaufstresen des Nice Ice. Mit dem Unterschied, dass das Pistazieneis diesmal, um halb vier Uhr nachmittags, eher unwahrscheinlicher ihr Frühstück war.
„Das Übliche, bitte", sagte sie mit einem schelmischen Blick. Irgendwie hatte ich nach unserem Kuss mit einem peinlicheren Zusammentreffen gerechnet, aber sie verhielt sich fast so, als wäre nie etwas passiert.
„Kommt sofort", antwortete ich und dankte Gott dafür, dass gerade nicht viel los war und sie nicht gleich zur Seite gehen musste. Auch Erwachsene konnten verdammt ungeduldig werden, wenn sie an so sonnigen Tagen Eiscreme wollten – schon irgendwie seltsam, wie Eis die Zeit zurückdrehen und manche Anzugträger wieder in Kinder verwandeln konnte. Mir wurden schon mehr als einmal wütende Blicke und dumme Kommentare an den Kopf geworfen, wenn ich mit den Bestellungen nicht hinterherkam.
„Hast du morgen Zeit, Ben?" Ihre Stimme war ruhig, ein wenig zu ernst für meinen Geschmack und ihre blauen Augen durchbohrten meine braunen. „Ich denke, wir sollten reden."
Oh-oh. Das klang gar nicht gut.
„Klar, sicher." Ich zwang mich zu einem Lächeln, auch wenn ich innerlich am Explodieren war. Wahrscheinlich wollte sie mir nur weißmachen, dass ich mir das mit uns aus dem Kopf schlagen sollte. Dass wir höchstens Freunde bleiben konnten. Dass ich sie doch noch gar nicht wirklich kannte. Dass ich mich noch gar nicht in sie verliebt haben konnte. Und, dass sie mir auch nicht die Zeit dazu geben würde, mich in sie zu verlieben.
„Treffen wir uns bei mir im Wohnheim? Neunzehn Uhr?"
Ich reichte ihr die Eistüte. „Klingt gut."
„Danke", sagte sie mit einem Schmunzeln. „Ich sollte dann wohl gehen... Du hast sicher noch zu tun, meine ich. Ich will nicht, dass du meinetwegen Ärger kriegst."
„Das wär's mir wert", erwiderte ich mit einem Grinsen. Wieso war ich nur so... besessen von ihr?
„Du solltest deine Prioritätenliste umschreiben, Hunter. Wenn du willst, helfe ich dir sogar dabei." Mit ihrem echten, bezaubernden Lächeln kehrte auch ein Funke meiner Hoffnung zurück. Aber dabei blieb es. Sie wandte sich ab, winkte mir noch im Gehen zu und ich fand mich im öden Arbeitsalltag des Eisverkaufens wieder.
An diesem Abend fiel es mir besonders schwer, für die Prüfung in „analoge und digitale Technologie der Fotografie" zu lernen und irgendwann gab ich auf, die Texte in meinen Kopf hämmern zu wollen. Ich hatte noch eine ganze Woche Zeit, um mein Hirn zu foltern und vermutlich würde ich mich nach dem Gespräch mit Ally auch leichter konzentrieren können. Hoffte ich jedenfalls.
Zu besagter Zeit war ich an besagtem Ort. Beziehungsweise davor. Gerade, als ich an Allys Zimmertür klopfen wollte, hatten mich wieder Zweifel und eine große Portion Nervosität heimgesucht und ich zögerte. Ich ließ die leicht verschwitzte Hand sinken und wischte sie an meiner Jeans ab. Rannte ich gerade wirklich einem Mädchen hinterher, das mich nicht wollte? Oder waren meine Sorgen unbegründet?
„Sei ein Mann", hatte Mike gesagt. Und wie so oft hatte er mit solchen Aussagen Recht. Ich würde nie erfahren, was Ally dachte, wenn ich jetzt nicht an diese Tür klopfte.
Das Geräusch von meinen Fingerknöcheln auf dem hellen Holz ließ mein Herz noch schneller Blut durch meinen Körper pumpen. Schließlich zog jemand die Tür nach innen auf und ehe ich irgendeine Begrüßung von mir geben konnte, lagen fremde Lippen auf meinen eigenen. Ally zog mich in den Raum, schloss die Tür hinter mir mit Schwung und zerrte mich weiter. Allerdings konnte ich nicht sagen, wohin, denn ich hatte bereits meine Augen geschlossen, die Mundwinkel gehoben und die Hände auf ihren schmalen Hüften platziert. Irgendwie landeten wir auf einer weichen Matratze und küssten uns weiter. Das hier war kein Vergleich zu dem Kuss am Montag. In jener Nacht waren wir beide zurückhaltend, aber liebevoll, minimalistisch, aber genießend gewesen. Heute war anders. Heute war... wow. Ally suchte die Nähe zu mir, als wäre ich der letzte Sauerstofftank in einem soeben gesunkenen Schiffswrack. Ihre Nase rieb seitlich gegen meine, sie lächelte in den Kuss hinein und ihre Hände krallten sich in meine Haare und zogen meinen Kopf näher an ihren heran.
Noch saßen wir auf dem Bett, aber nun ließ sie sich nach hinten sinken, während sie die Hände hinter meinem Hals verschränkt hielt und mich mitzog, sodass ich letztendlich über ihr lag.
Es fiel mir schwer. Wirklich wirklich wirklich wirklich schwer. Wirklich. Die merkwürdige magnetische Wirkung, die sie auf mich ausübte, war in diesem Moment so stark wie nie – trotzdem zwang ich mich, ein bisschen Abstand zwischen uns zu bringen. Ich wollte mir nicht ausmalen, was passieren würde, wenn ich jetzt nicht die Pause-Taste betätigte. Allein daran zu denken, machte mich ganz... wirr. Ich zog meinen Kopf ein Stück zurück und atmete schnell. Dann erst öffnete ich die Augen und sah sie so nah bei mir und schöner als jemals zuvor. Ihre Augenlider hielt sie geschlossen, aber die leichte Röte stand ihrem Gesicht gut und ließ sie lebendiger aussehen, während ihr Lächeln sie zur Definition von absolutem Glück machte.
„Ally...", murmelte ich benebelt. „Was soll das?"
„Ich hab keine Ahnung."
„Okay?" Ich lachte ein wenig verlegen, aber ihr schien es überhaupt nicht peinlich zu sein. Hätte ich so etwas bei ihr abgezogen, hätte ich wohl erst mal eine Ohrfeige abbekommen und dann hätte sie mich ausgelacht.
Vorsichtig kletterte ich von Ally herunter und ließ meine Augen über den Rest des Zimmers wandern, um mich ein bisschen abzulenken und mich wieder in den Griff zu kriegen. Auf dem kleinen Tisch am Rande des Zimmers stand eine gläserne Vase: gefüllt mit den Sonnenblumen, die ich ihr geschenkt hatte.
„Also... willst du jetzt reden oder nicht?", fragte ich schließlich. All der Ballast war von mir abgefallen und ich war rundum froh. Sie würde ja wohl nicht so hemmungslos mit mir rummachen, um mich dann in der nächsten Sekunde abzuservieren.
„Hm... Nein, ich denke, du kannst wieder gehen. Wir haben für heute genug geredet", antwortete sie mit spielerischem Tonfall.
Ich saß am Bett und sie lag immer noch mit geschlossenen Augen da, weshalb ich auf sie hinabblicken musste. „Also wenn du nicht reden willst, können wir auch gern wieder-"
Sie fiel mir ins Wort: „Ich mag dich, Ben. Mach das nicht kaputt."
Ich brannte. Jede Faser meines Körpers fing Feuer und ich ging in leuchtende Flammen auf. Allison Dyer, das unglaublichste Wesen der Welt, mochte mich. Wer brauchte schon Einhörner und solchen Scheiß, wenn es Ally gab? „Hah! Wusste ich's doch. Du magst mich!"
„Ich sagte: Mach es nicht kaputt." Ein breites, wundervolles Lächeln nahm wieder ihr Gesicht ein und erzeugte Grübchen.
„Du musst dir schon was Besseres einfallen lassen, wenn du mich zum Schweigen bringen willst", erwiderte ich und sah sie abwartend an.
Endlich öffnete sie ihre Augen und erwiderte meinen Blick. „Also soll ich mein Lieblingsmesser holen und es dir in die Kehle rammen, Psycho?" Sie richtete sich auf, indem sie ihre Hände in die Matratze stemmte und saß nun ganz dicht neben mir.
„Hm...", machte ich bloß. „Ich glaube, es gibt wirksamere Methoden."
Sie lehnte sich noch weiter in meine Richtung, bis ihre Stirn schließlich sanft gegen meine stieß. „Das ist doch verrückt", murmelte sie.
„Es ist verdammt schön, mit dir verrückt zu sein, Allison." Ich schloss die Augen. So wie dieser Moment war, konnte meinetwegen mein ganzes Leben sein.
Plötzlich hörten wir ein lautes, mechanisches Klicken und fuhren erschrocken auseinander – wobei wir nicht verhindern konnten, wieder mit den Köpfen zusammenzustoßen. Diesmal allerdings um einiges unsanfter. „Au", „Shit", stöhnten Ally und ich gleichzeitig.
„Hey, Ally, ich..." Liz verstummte. „Oh." Ihre Miene glich einem leeren Blatt Papier. Die Situation war ihr weder peinlich, noch tat es ihr leid, dass sie herein geplatzt war. „Ich will mich nur kurz umziehen, dann gehen Adam und ich essen. Wollt ihr mitkommen?", sagte sie ganz beiläufig, so als würden wir jeden zweiten Tag etwas miteinander unternehmen.
Ally sah mich fragend an und ich zuckte bloß mit den Schultern und lächelte. Essen wäre eigentlich gar nicht so schlecht. Auch wenn die Alternative – mit diesem unglaublichen Mädchen hierzubleiben – auch ziemlich verlockend war. Ich überließ es also ihr. Wir hatten Zeit. Wenn die Welt uns nicht genug Zeit geben würde, würde ich sie ihr eben selber aus ihren gierigen Klauen entreißen.
„Gut. Ich werde mir auch schnell noch was anderes anziehen", antwortete Ally also und sprang vom Bett auf. Sie drehte sich zu mir um und lächelte, während ihre Augen meinen Blick festhielten. Wie hatte ich sie bloß verdient?
„Ben, du wartest doch draußen, oder?", murrte Liz wieder um einiges griesgrämiger. Hätte sie mir auch noch mit erhobenem Finger gedroht, hätte mich das nicht gewundert.
Aber es war mir mehr als egal. Ich war, verdammt nochmal, überglücklich. „Klar", meinte ich also brav und folgte ihrem Befehl.
-
„Ich schätze ab diesem Tag waren wir richtig zusammen", meinte Ben. Er hasste sich für das kleine Lächeln, das nun auf seinem Gesicht lag. Es fühlte sich eigentlich an wie immer, aber irgendwie war es doch nicht seines.
„Puh. Das ist so süß, ich glaub ich muss jetzt erst mal eine Flasche Desinfektionsmittel exen. Oder zwei", gab Nicky von sich und nahm eine Flasche Whiskey aus dem Schrank. „Normalerweise trinke ich während der Arbeit nichts." Sie nahm zwei frische Gläser zur Hand, gab mit klirrendem Geräusch ein paar Eiswürfel hinein und schenkte großzügig Jack Daniels ein. „Der geht aufs Haus."
„Das ist nicht-"
„Sei nicht dumm", unterbrach Nicky ihn und stellte das Glas mit der orange-bräunlichen Flüssigkeit vor ihm auf den Tresen. Sie zog eine Augenbraue hoch und musterte ihn eindringlich. „Ich denke, du bist ein guter Kerl. Und ich weiß, dass es von solchen nicht mehr allzu viele gibt. Also hoffe ich, dass du noch nicht ganz kaputt bist." Sie hob ihr eigenes Glas ein Stückchen an und hielt es ihm entgegen, um anzustoßen. „Auf die ach-so-schöne, komplett beschissene Liebe."
-------------------------------
Ui, das ging schnell xD (aber das richtige Drama kommt ja erst, muhahaha)
(Und nur weil Ben es ab hier als Beziehung definiert, heißt das nicht, dass Ally das auch wirklich schon tut xD)
Übrigens: Wir haben ein neues, wunderschönes Cover, das mir wieder die liebe @chapped erstellt hat ^^ <3
Ich wünsche euch ein schönes Wochenende!
~KnownAsTheUnknown
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro