Kapitel 6
Nach diesen Worten hatte Candra mich wieder unter Deck gebracht, zurück in den kleinen Raum, in dem ich auch die letzten Stunden verbracht hatte. Candra hatte mir nochmal einen warnenden Blick zugeworfen, bevor sie mich allein gelassen hatte. Einige Momente starrte ich nur an die Wand. Es war wie eine Art Trance. Meine Gedanken waren leer. All das hier war so unglaublich verrückt. Vor ein paar Tagen war ich noch bei meiner Familie und mein größtes Problem war Adrien gewesen und jetzt... jetzt war ich allein. Ich hatte niemanden. Meine Familie hatte mich verlassen und mich freiwillig diesen Piraten überlassen. Diese Crew vertraute mir nicht und behandelte mich, wie eine Gefangene. Ich war ganz allein. Die Gedanken quälten mich und ich fuhr mir mit der verschwitzten Hand übers Gesicht. Das war alles so verwirrend, dass ich selbst jetzt noch nicht ganz verstand, was eigentlich passiert war. Ich war entführt worden und jetzt? Jetzt saß ich hier fest. Auf einem Schiff, mitten im Ozean, ohne Plan, wo es hingehen sollte. Zu allem Überfluss hasste Ciaran mich ohne Grund und zeigte mir das bei jeder Gelegenheit. Auch Candras Warnung blieb mir im Kopf. Wenn ich diese Crew enttäuschte, dann würde sie das ausbaden müssen. Candra hatte mir das Leben gerettet und wenn es eine Sache gab, die ich ihr auf keinen Fall antun wollte, dann war das sie zu verraten. Ich konnte ja sonst auch nirgends hin.
Trotzdem war der Gedanke daran, dass ich ihnen beim Stehlen und Erpressen helfen sollte, erschreckend. Ich war eine Adlige und keine Diebin. Ich wollte niemandem weh tun oder Leute berauben. Candra hatte gesagt, ich wüsste, wie sie in die reichen Villen reinkamen. Wusste sie überhaupt, wie das funktionierte? Nur, weil ich zu den Adligen gehörte, bedeutete das nicht gleich, dass ich jedes Haus kannte. Nein. Das, was sie da von mir erwarteten, war unmöglich und das würde ich ihnen irgendwie klarmachen müssen.
Es vergingen einige Stunden, in denen ich einfach nur nachdachte, über mein Leben, die Crew und all das andere, bis mich plötzlich ein helles Klirren aus den Gedanken riss. Verwirrt sah ich auf und hörte kurz darauf ein Brüllen. Aufgeschreckt stand ich auf und ging zur Tür. Vorsichtig lauschte ich und hörte es schon wieder. Kämpfte da jemand? Oder trainierten die Piraten bloß? Neugierig lauschte ich weiter, doch ich hörte nichts. Plötzlich blieb mein Blick am Fenster hängen. Ein Grinsen schlich sich auf mein Gesicht und ich stellte mich auf die Zehnspitzen, um durch das Fenster zu sehen. Natürlich verlor ich sofort das Gleichgewicht und ich krallte mich an der Tür fest. Zu meiner Überraschung schwang diese auf und ich stolperte einige Schritte zurück. Entgeistert sah ich die Tür an. Sie war offen. War sie das vorher auch schon gewesen? Wenn ich so drüber nachdachte, hatte ich nie einen Schlüssel gehört oder ähnliches, als die Leute mich besucht hatten. War die Tür etwa die ganze zeit offen gewesen und ich hatte es nicht gemerkt? Scheiße. Ich hätte die ganze Zeit verschwinden können und nun war es zu spät. Innerlich verfluchte ich mich selbst, als ich erneut die Kampfgeräusche hörte. Einen Moment zögerte ich. Was wenn Ciaran mich erwischte? Ich wollte gar nicht daran denken, was passierte, wenn er noch mehr Gründe hatte, um mich von Bord zu werfen, denn ich war davon überzeugt, dass er das tun würde. Dieser Gefühllose Arsch.
Trotzdem konnte mich diese Angst nicht bremsen und schließlich gewann die Neugierde. Vorsichtig schlich ich hinaus in den Flur und folgte den Geräuschen des Kampfes. Jedes Mal, wenn ich um eine Ecke bog, blieb mein Herz kurz stehen. Ich hatte schreckliche Angst entdeckt zu werden, doch ich ging unbeirrt weiter, bis ich schließlich an einem großen Raum ankam. In der Mitte standen Candra und eine andere Frau, die ich nicht kannte. Ihr Haar war dunkel und kalt, ein großer Kontrast zu ihrer hellen, makellosen Haut. Sie war dünn und noch ein Stück größer als Candra. Einer der vielen Unterschiede. Sie waren Gegensätze und dennoch schienen sie perfekt zusammen zu funktionieren. Die beiden waren offenbar in einen Trainingskampf verwickelt und bemerkten mich nicht.
Candra wich einem von ihren Schlägen aus und griff selbst an, in dem sie ihr Schwert durch die Luft schwang. Die andere Frau wich problemlos aus und ließ sich auf den Boden gleiten, wo sie Candra in die Kniekehle kniff. Diese quiekte auf und war völlig überrumpelt, wodurch die schwarzhaarige Frau einen Vorteil hatte. Innerhalb weniger Sekunden hatte sie Candra entwaffnet. Triumphierend grinste sie Candra an und hielt ihr das Schwert vor die Nase.
„Du hast mir versprochen das nicht zu tun!" protestierte Candra, doch auch sie konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Es war so eine einfache Szene und doch berührte sie mich irgendwie. Liliane war immer eine gute Freundin für mich gewesen, aber so eng waren wir nie gewesen. Diese zwei Mädchen hatten eine unglaublich tiefe Bindung und zum ersten Mal in meinem Leben war ich wirklich neidisch.
„Na sieh mal einer an. Wir werden beobachtet" riss mich die raue Stimme der fremden Frau aus meinen Gedanken. Kaum hatte ich realisiert, dass sie mich entdeckt hatte, stand sie auch schon vor mir.
„Du bist doch die kleine Adlige, die Rick angeschleppt hat, nicht wahr? Du hast es also endlich aus der Zelle geschafft. Candra hat schon erzählt, dass die Jungs wetten abgeschlossen haben, wie lange es dauert, bis du die unverschlossene Tür bemerkst" brummte sie amüsiert und musterte mich eindringlich. Unsicher sah ich zu Candra, weil ich nicht wusste, wie ich auf die fremde Frau reagieren sollte.
„Verschreck sie nicht Aspen" meinte Candra und kam nun endlich auch zu uns. Aspen hieß die fremde Frau also. Das passte perfekt. Candra wirkte trotz ihres Lebensstils nett und verständnisvoll aber Aspen? Sie war die typische „Ich bring dich um, wenn du es wagst mich schief anzusehen"-Typ von Frau, weshalb sie mich so stark einschüchterte.
„Keine Sorge, niemand hat Wetten abgeschlossen, aber ich war in der Tat neugierig zu sehen, ob du den Mumm dazu hast aus der Zelle rauszukommen. Jetzt, wo du das getan hast, können wir endlich mit dem Training anfangen" erklärte mir Candra. Training? Überfordert sah ich sie an. Was wollten sie denn mit mir trainieren? Mein Blick fiel auf das Schwert. „Nein. Vergesst es. Ich bin keine Kämpferin. Ich kann das nicht" stieß ich geschockt aus. Ich war eine Baroness und keine Piratin. Selbst, wenn ich jetzt Teil dieser Crew war... ich konnte nicht kämpfen. Nein. Auf gar keinen Fall.
Aspen seufzte und verdrehte die Augen. „Du kannst das noch nicht. Wir bringen es dir bei und im Handumdrehen kannst du dich verteidigen" versicherte Aspen mir. Doch das beruhigte mich nicht. Ganz im Gegenteil. Was, wenn sich herausstellte, dass ich das selbst mit Training nicht konnte? Ich war schon immer ein sehr unsicherer Mensch, woran vor allem Adrien und meine Eltern dran schuld waren. Es wunderte mich also nicht, dass mich schon wieder die Angst lähmte, beim Gedanken daran zu versagen.
Aspen antwortete mir nicht, sondern drückte mir bloß ein Schwert in die Hände. Unsicher ergriff ich es und versuchte herauszufinden, wie ich es am besten halten sollte. Ich hatte nicht mal mit Messern hantieren dürfen, weil sich das für eine Dame nicht gehörte, ein Schwert kam da erst recht nicht in Frage.
Die beiden Piratinnen schien das jedoch herzlich egal zu sein, denn Aspen bedeutete mir bloß das Schwert zu heben, in eine Verteidigungshaltung. Meine Hände waren schwitzig und ich spürte das Adrenalin, dass durch meinen Körper pumpte, als ich an das Kämpfen dachte.
„Gut festhalten" warnte Aspen mich noch, bevor sie so fest angriff, dass mir das Schwert aus den Händen geschleudert wurde. Reflexartig zuckte ich zurück und sah meine Gegnerin überrascht an. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie sofort zuschlagen würde, geschweige denn so fest.
„Was sollte das denn?" fragte ich entgeistert und sah erneut zu meinem Schwert, welches einige Meter weit weg lag. Aspen sah mich allerdings völlig ruhig an und auch Candra schenkte mir bloß ein sanftes Lächeln. Ich verstand das nicht so richtig. Wieso tat sie das?
„Im Gefecht schont dich dein Gegner nicht. Ich weiß, dass Aspen sehr hart zugeschlagen hat, aber du musst wissen, worauf du dich einstellen musst, weißt du Aurelia? Sie hätte dir nicht weh getan, keine Sorge" erklärte Candra mir und sah mich dabei mitfühlend an. Ihre Erklärung war logisch und trotzdem war ich geschockt von dieser Brutalität. Wie sollte ich damit jemals klarkommen?
„Ja, aber ich bin eine Baroness und keine Piratin" begann ich, doch Aspen unterbrach mich. „Nichts aber Aurelia. Du bist nicht mehr bei deinen Adligen Freunden. Deine Eltern haben dich verlassen und du gehörst jetzt zu uns, ob du willst oder nicht. Du musst damit klarkommen, dass jeder von uns so festzuschlagen wird und unsere Gegner noch härter, also reiß dich zusammen, wenn du überleben willst!" fuhr sie mich an. Erneut erstarrte ich und sah Aspen ungläubig an. Sie hatte recht. Meine Eltern hatten mich verlassen und ich war Teil einer Piratencrew. Ich schwebte bei jedem Gefecht in Lebensgefahr. Die Realisation kam so plötzlich, dass etwas in mir zerbrach. Mir stiegen die Tränen in die Augen und ich stolperte langsam zurück. Ich musste hier weg. Ich war wütend, verletzt und geschockt gleichzeitig. Das war zu viel für mich.
Candra rief mir irgendwas nach, doch ich war bereits losgerannt. Immer schneller bahnte ich mir einen Weg durch die dunklen Flure, bis ich schließlich an Deck ankam. Orientierungslos sah ich mich um. Scheiße. Was wenn mich jemand fand? Gerade wollte ich wieder loslaufen, da traf ich auf etwas hartes. Eher gesagt jemandes harte Brust. Der plötzliche Zusammenprall brachte mich aus dem Gleichgewicht und ich stolperte, doch starke Arme schlangen sich um meine Hüften und fingen mich auf. Mein Herz raste und es dauerte einige Sekunden, bis ich realisiert hatte, was gerade passiert war.
Langsam sah ich nach oben, um meinem Retter zu danken. Mein Herz setzte aus. Meine Sicht war zwar noch tränenverschleiert aber diese dunkelgrünen Augen erkannte ich überall. Ciaran. Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken. Es waren Ciarans starke Arme, die sie davon abhielten zu fallen. Von all den Menschen, in die sie hätte reinlaufen können, musste es ausgerechnet er sein. Natürlich.
„Na sieh mal einer an. Realisiert, dass dich deine ach so großartige Familie nicht mehr will, oder warum weinst du Prinzessin?" fragte er provokant. Wenn Aspens Worte mein Herz nicht gebrochen hatten, dann waren es wohl Ciarans, die mir den Rest gaben. Gott, dieser Typ war so ein Arsch. Gerade wollte ich ihm etwas entgegenschleudern, da ließ er mich einfach los. Ich verlor endgültig das Gleichgewicht und fiel nach hinten. Hart landete ich auf dem Boden und sofort durchzuckte mich ein Schmerz, der so stechend war, dass ich reflexartig aufschrie. Ich war genau auf die Stelle an meinem Rücken gefallen, an der ich einen großen blauen Fleck von Adrien hatte. Scheiße. Der Schmerz nahm meinen ganzen Körper ein und ich spürte, wie mir schwindlig wurde. Ich sah Sterne und konnte mich nicht mehr bewegen.
„Aurelia? Scheiße, was ist passiert? Was hast du getan Ciaran?!" rief Candra. Ihr Stimme war schwammig und ich bekam kaum mit, was die beiden besprachen. Auch Aspen schien dazugekommen zu sein und kurze Zeit später halfen sie mir auf. Ich hatte so etwas schon öfter gehabt, weshalb ich nicht besonders besorgt war.
„In 2 oder 3 Stunden geht es mir wieder gut" murmelte ich den beiden zu, während sie mich langsam unter Deck brachten. Immer wieder sagten Candra oder Aspen etwas zu mir, doch das Einzige, was ich neben dem stechenden Schmerz spürte, was Ciarans Blick in meinem Rücken. Jetzt war ich vor ihm zusammengebrochen. Konnte ich noch schwacher wirken?
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