Nur eine Entscheidung
"NEIN!!", der Schrei zerriss die Stille der Nacht, bevor ich es verhindern konnte. Ich presste meine Hand auf den Mund, versuchte mich in der Dunkelheit zu verbergen, doch sie hatte mich gesehen. Ich merkte es daran, wie ihre Statur in der Ferne vor Anspannung gerader wurde und ihr Kopf sich mit wehendem Haar mal zu mir und dann wieder zurück drehte. "Nein", diesmal war es nur ein Flüstern, was mir über die Lippen wich, während es in meinem Kopf immer und immer wiederhallte. Nein. Nein.
Nein.
Ein starkes Wort, ein Wort, das alles ändern konnte, doch diesmal schien es keine Wirkung zu haben. Oder die falsche. Ich wusste es nicht, doch ich würde es erfahren, dessen war ich mir sicher. Ob ich es wollte oder nicht.
Ich setzte langsam einen Fuß vor den anderen, wartete, dass mich jemand aufhielt. Doch niemand tat es. Scherben auf dem Beton knirschten unter meinen Füßen, meine Beine wurden schneller, noch zehn Meter. Neun. Acht. Sieben. "STOP!" Ich erstarrte und meine Hoffnung anzukommen schwand schneller als sie gekommen war. Doch während meine Stimme eben vor Verzweiflung getrieft hatte, klang die andere in ihrer Bestimmtheit beinahe unsicher. "Bleib, wo du bist. Nicht einen Schritt näher!" Die Stimme klang zitternd, ausgelaugt. Doch sie hatte ihre Wirkung, ich bewegte micht nicht. Sogar mein Atem wurde flacher, auch wenn mir das Herz bis zum Hals schlug. "Bitte", auch meine Stimme zitterte, doch es fehlte die bodenlose Hoffnungslosigkeit. Ich hatte noch Hoffnung. "Wo stehst du?" Vor oder hinter dem Geländer? Davor oder dahinter? Niemals hätte ich geahnt, dass dieser Unterschied vielleicht ein Leben retten konnte. "Oh, glaub mir", so schwach kam es von der Silhuette, so unglaublich schwach, "meine Zehen sehen den Abgrund, sie sehen ihn besser als ich." Davor. Die Erkenntnis fühlte sich an wie ein Schlag in die Magengrube.
"Warum?", ich stellte die Frage wohl eher mir, doch ich stellte sie laut, weshalb mir ein Schnauben antwortete. "Als hättest du es nicht geahnt. Als hättet ihr es nicht gewusst. Und wenn nicht, ist es noch schlimmer. So viel schimmer. Ich habe erzählt und du hast mir nicht zugehört. Ich habe alles gegeben und du hast es nur genommen. All meine Hoffnung kam wieder und wurde nur umso brutaler wieder zerstört. Sag du mir, warum." Es wäre mir lieber gewesen, hätte sie mir ins Gesicht geschlagen. Sie klang noch nicht einmal wütend, sie klang enttäuscht. Und das ist so viel schlimmer. "Es tut mir leid." Mehr konnte ich nicht sagen, ich wusste nichts. Auch wenn es wahrscheinich zu spät war. "Das macht es nicht gut." "Ich weiß." "Ich weiß?" "Es ist das einzige, was ich noch weiß." Ich hatte Unterhaltungen mit ihr geliebt, ich hatte es nicht gewusst. "Bitte lass mich zu dir kommen, wir schaffen das. Zusammen. Ich helfe dir. Ich verspreche es. Und ich breche keine Versprechen." Keine Antwort. Hoffnung keimte auf, auch wenn ich sie stoppen wollte. Mehr und mehr Hoffnung.
Ich hob einen Fuß, ging einen Schritt, setzte ihn wieder ab. Ein leichter Vorgang, Menschen können es ohne nachzudenken, doch es kam mir vor, als wäre mir nie etwas schwerer gefallen. Der andere Fuß. Stille. Und wieder von vorne, immer näher. Sechs Meter trennten uns. Fünf. Vier. Drei. Zwei. "Wage es nicht", es war beinahe ein Hauchen, doch ich verstand es, erstarrte, die Hoffnung klumpte sich wie Blei in mir zusammen und verschwand beinahe. Nichts kann so wehtun wie Hoffnung. Man sagt, sie stirbt zuletzt, doch ich bin sicher, sie stirbt auch am qualvollsten. Und trotzdem hielt ich an dem minimalen Funken fest, der nicht ganz verschwunden war. "Fass mich nicht an." Es tat so weh. Niemals würde ich meinen Schmerz über ihren stellen, doch es tat weh. Unglaublich.
"Geh nicht." Es war ein Flehen, doch die Person vor mir, die ich beinahe zittern sehen konnte, drehte noch nicht einmal den Kopf zu mir. "Du verstehst mich nicht." "Erklär es mir." "Du würdest es nicht verstehen." "Ich kann es versuchen." Eine Pause. "Nein." Da war es wieder, das Wort, was soviel Stärke hatte wie kaum ein anderes, doch dieses Mal aus einem Mund, der jemandem gehörte, der keine Stärke mehr aufbringen konnte. Es wirkte, als wäre kaum noch Leben in dem Körper vor mir, obwohl ich ihn atmen hören konnte. Was wollte ich beschützen? Ich wusste nicht einmal mehr, ob ich das richtige tat? Was war richtig? Was war falsch? Würde ich es schaffen, hätte ich dann wirklich ein Leben gerettet? Wie rettete man ein Leben? Gab es Regeln? Grenzen? Oder versuchte ich nur, mich über ein Leben zu stellen?
Ein fernes Licht riss mich aus meinen Gedanken. Dann wurden es zwei. Sie wurden größer und größer. Und größer. Alle meine Muskeln spannten sich an. Zwei Schritte waren es bis zum Geländer, ihre blassen Hände klammerten sich um das Metall, ihr Körper lehnte sich nach vorne, doch noch hielt sie sich. Ich müsste sie nur festhalten, nur greifen. Der Körper war zu weit weg, doch die Arme waren noch da. Ich hatte Angst, dass sie mir zuvor kam, große Angst. Ist Todesangst schlimmer, wenn man sie um einen geliebten Menschen hat? Vielleicht. Ich wollte ihr Leben retten, ihr eine zweite Chance geben, auch wenn mein Gewissen mir sagte, dass ich kein Recht dazu hatte. Ich ignorierte es. Und warum? Aus Hilfsbereitschaft? Liebe? Oder Egoismus?
Die Lichter kamen näher und langsam bildete ich mir ein, auch etwas zu hören, bis ich sicher war. Der Zug kam näher und ich war nicht die einzige, die das bemerkt hatte. Ich merkte es daran, dass der Kopf vor mir nicht mehr herunter schaute, sondern in die Ferne, genau dahin, wo zwei Punkte immer heller wurden. Ich traute mich nicht, etwas zu sagen, wollte auf ihre Entscheidung vertrauen, dass sie bei mir blieb. Doch ebenso wie die Lichter wuchsen meine Zweifel. Größer und größer. Fühlt es sich so an, wenn man die Kontrolle abgibt? Selbst wenn es nicht die Kontrolle über einen selbst ist, ein Leben hängt daran. Oder?
Atmen fühlte sich so unglaublich schwer an, ich wollte nicht atmen, nicht zwinkern, nur hoffen. Doch die Hoffnung schwand, der Zweifel erdrückte sie. Noch konnte ich mich entscheiden, aber tat ich es? War das überhaupt meine Entscheidung? Nein.
"NEIN!!", das Wort kam aus meinem Mund wie ein Kampfschrei, während ich nach vorne sprang. Die Finger um ihre kalten, nackten Arme legte, nass vor Schweiß. Wie in Zeitlupe sah ich, wie sich die Schemen des Zuges aus der Dunkelheit brachen. Spürte, wie die Spannung in ihren Armen nachließen. Merkte, dass meine Hände sie nicht halten könnten. Zu nass. Zu kraftlos. Und ich wusste, dass es bei ihr lag. Ich könnte nichts tun. Es war ihre Entscheidung.
Und dann entschied sie sich.
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