Kapitel 6
Drei Stunden, zwölf Minuten und achtundzwanzig Sekunden. So viel Zeit war vergangen, nachdem Gabe sich wieder auf den Stuhl neben mir gesetzt hatte und der eigentliche Beginn der Lagebesprechung eingeleitet worden war. Zu Beginn hatte ich versucht, dem Wortaustausch aufmerksam zu folgen, doch mit jeder Minute stellte sich dies als ein unmögliches Unterfangen heraus. Zum Einen rumorte mein Magen, da ich heute nicht sonderlich viel zu mir genommen hatte. Zum Anderen war es mir unglaublich schwer gefallen, thematisch zu folgen, da die anderen seit zwei Monate über nichts anderes redeten und mein Kopf von den ganzen neu erhaltenen Informationen schmerzte. Einfach gesagt hatten sich diese drei Stunden gezogen wie zähes Kaugummi. Nicht nur ein Mal war mein Blick zur Wanduhr mir gegenüber gewandert und der Wunsch in mir aufgestiegen, schnurstracks den Raum zu verlassen. Doch wenn ich ehrlich zu mir selbst war, hatte das Gespräch nur mäßig zu meinem allgemeinen Unwohlsein beigetragen. Immer wieder war ich kaum merklich auf meinem Stuhl herumgerutscht, wenn die Anziehungskraft zwischen Gabe und mir meine Gefühlswelt dominierte und mich ihm näher bringen wollte. Doch selbst dieses Gefühl hatte nicht die Tatsache überschattet, meine lebendigen Eltern vor mir sitzen zu sehen und vor Augen gerufen zu bekommen, dass mein vorheriges Leben eine einzige Lüge gewesen war.
Ihre Stimmen zu hören brachte das Unwohlsein in mir auf ein vollkommen neues Level. Eine Mischung aus Wut und Traurigkeit ummantelte meine Sinne, wenn ich nur die engelsgleiche, samtene Stimme meiner Mutter oder den italienisch behafteten Tenor meines Vaters vernahm. Zuvor, als ich sie nur mit meinen Augen wahrgenommen hatte, war es mir möglich gewesen, sie zu ignorieren. Ein Blick in eine andere Richtung hatte sie bereits wieder aus meinem Gedächtnis gedrängt oder wenigstens die Möglichkeit dazu dargeboten. Doch mit der Stimme kam eine neue Ebene der Wahrnehmung hinzu, die meinen Schädel zum Dröhnen brachte und das Leugnen nicht mehr so einfach machte.
Nicht nur ein Mal war in mir die Frage aufgekeimt, ob es für sie genauso eigenartig war, mich - ihre leibliche Tochter - vor ihnen sitzen zu sehen, während sie kein Stückchen gealtert waren. Mit dieser Frage hatten sich weitere Fragen dazugesellt und meinen Kopf beinahe zum Explodieren gebracht.
War es möglich, dass sie mich die ganze Zeit über aus der Ferne beobachtet hatten? Wie hatten sie es geschafft, meine Großeltern innerhalb solch kurzer Zeit zu beschwichtigen? Würde auch ich irgendwann einmal in der Lage sein, ihnen zu verzeihen? Ich wurde das Gefühl nicht los, dass keine Zeit der Welt jemals dafür ausreichen würde, um mir alle noch ungeklärten Fragen, die in meinem Gehirn umher geisterten, zu beantworten.
Elise' Rat, mich mit ihnen auszusprechen und Antworten auf zumindest einen Teil der Fragen zu erhalten, kam mir wieder in den Sinn. Der vernünftige Teil von mir stimmte dem Vorschlag vollends zu. Doch der andere, stolze Teil wollte dies nicht zu lassen. Jedenfalls nicht heute.
Das Quietschen von Stühlen auf dem Boden brachte meine Aufmerksamkeit in das Hier und Jetzt zurück. Der Großteil in dem Raum hatte sich bereits von ihren Stühlen erhoben und war bereits auf dem Weg, den Raum zu verlassen. Auch ich schob den Stuhl zurück und atmete erleichtert aus. Mit geschlossenen Augen massierte ich meine pochenden Schläfen.
Erst der Ausruf meines Spitznamens brachte mich dazu, wieder meine Augen zu öffnen und geradewegs zu der Quelle der Unruhestifterin zu sehen.
"Willst du uns in den Trainingsraum begleiten?", fragte Ilvy mit einem einnehmenden Lächeln. Ihre Augen strahlten und ich konnte ihr ansehen, dass sie sich nichts sehnlicher wünschte, als dass ich zusagte.
Das Wort Trainingsraum brachte mich kaum merklich zum Erschaudern. Bilder von dem Trainingsraum geradewegs aus der Hölle stiegen vor meinem inneren Auge auf. Umherspritzendes Blut. Verzerrte Laute des Schmerzes und der Angst. Böse Blicke und stetiger Konkurrenzkampf.
Trotz des unguten Gefühls in meiner Magengegend spürte ich, wie sich ein Schmunzeln auf meinen Lippen ausbreitete. Der Gedanke daran, meiner unterschwelligen Aggression endlich etwas Luft zum Atmen zu geben, fühlte sich gut und richtig an. Außerdem durfte ich Akuma zufolge keinerlei Zeit mehr verlieren. Schließlich musste ich Dorian helfen, mit seinen Kräften umzugehen. Auch wenn ich selbst immer noch keinen blassen Schimmer hatte, was es mit seinen Fähigkeiten auf sich hatte.
"Das hört sich nach einem verdammt guten Plan an."
Ebenso wie meine ehemaligen Mitstreiter erhob ich mich von meinem Stuhl. Doch mit einer warmen Hand, die sich leicht um meinen Arm legen würde, hatte ich nicht gerechnet. Angenehm warme Blitze durchzuckten meinen gesamten Körper und bestätigten diesem, was mein Herz bereits seit langer Zeit wusste. Ich blickte zu meinem anderen Sitznachbarn und ertappte mich dabei, wie ich mich unmittelbar in seinen grünen Tiefen verlor.
"Micina, kann ich dich kurz sprechen?"
Gabes tiefe Stimme klang wie eine lang verschollene Melodie, die mich in ihren Sog ziehen wollte. Erinnerungen an Sizilien, Sommer und Meer rieselten auf mich ein und erinnerten an einen eher unbeschwerteren Teil meines Lebens. Verschwunden war die gesamte Umwelt um uns herum. Nur noch wir beide existierten in unserer eigenen, kleinen Welt.
Mit dem letzten Funken Kraft und Verstand, den ich aufbringen konnte, entriss ich mich diesem Gefühl des Ankommens und versuchte stattdessen in Gabes Gesicht zu lesen, worüber er mit mir sprechen wollte. Doch außer eines Gefühlssturmes, der meinem sicherlich glich, konnte ich nichts darin erkennen. Um ein Gespräch würden wir dieses Mal nicht herum kommen.
Ich wandte mich wieder an Ilvy und sagte: "Geht schon einmal vor. Ich komme gleich nach."
Ilvys Blick huschte von mir zu Gabe und blieb schließlich an seiner Hand um meinen Arm hängen. Sie schluckte, bevor sie mir mit einem gezwungenen Lächeln zunickte. Mein Blick folgte Dorian, Dimitri und Ilvy, bis sie durch die Tür traten und Gabe und mich allein zurück ließen. Erst als die Tür mit einem dumpfen Laut ins Schloss fiel, wandte ich mich wieder Gabe zu.
In seinen Augen lag ein unbeschreibliches Funkeln. Auch ohne zu ahnen, was er mit mir zu besprechen hatte, wussten wir beide, dass zwischen uns noch viele Worte zu ebenso vielen Themen unausgesprochen waren. Zig Gefühle pulsierten durch meinen Körper und es war nur eine Frage der Zeit, bis ich herausfinden würde, welche es an die Oberfläche schaffen würden.
"Micina...", whisperte Gabe und hinterließ damit ein Kribbeln in meinem gesamten Körper. Wie sehr hatte ich mich danach gesehnt, dieses Wort aus seinem Mund zu hören. Wie sehr darum gefleht, je diesen Moment erleben zu dürfen. Doch ein Blick auf das frisch gestochene Tattoo auf meinem Arm, das teils von seiner Hand bedeckt wurde, hinterließ einen faden Beigeschmack, den ich nicht länger leugnen konnte.
"Ich glaube nicht, dass dieser Begriff noch passend ist."
Er runzelte die Stirn und es schien, als ob er mir nicht recht folgen konnte. Ich schüttelte seine Hand ab und verschränkte meine Arme vor der Brust. Mit verengten Augen musterte ich ihn.
"Aus dem Kätzchen, das du aus Sizilien kennst, nur leicht kratzt und niemandem etwas zu Leide tun kann, ist ein erwachsener und ziemlich gefährlicher Tiger geworden. Oder bist du da anderer Meinung?"
Sein Mund öffnete sich, ohne dass Worte ihn verließen. Wir starrten uns an, als würde unser beider Leben davon abhängen. Pulsierende Stille war das Einzige, was um uns herum existierte. Jeden Moment erwartete ich, dass er die Stille durchbrechen würde. Mir vielleicht sagen würde, dass ich recht hatte. Oder dass ich vollkommen übertrieb. Doch er hielt weiterhin inne. Auch wenn ich mir selbst keine Illusionen darüber machte, wie gefährlich meine Fähigkeiten in Kombination mit meinem impulsiven Verhalten für meine Umwelt waren, spürte ich, wie mein Herz sich zusammenzog, als er es nicht abstritt. Stattdessen trat er einen Schritt auf mich zu, sodass unsere Körper nur noch wenige Millimeter voneinander trennten.
"Du könntest mir nie etwas zu Leide tun, Micina."
Die Betonung, die er auf meinen persönlich von ihm bestimmten Spitznamen legte, ließ meinen Herzschlag beschleunigen und die Romantikerin in mir zu neuem Leben erwachen. Meine Augen wanderten zu seinen vollen, leicht geöffneten Lippen, die durch den leichten Bartschatten noch mehr zur Geltung kamen. Es wäre ein Leichtes, den kaum vorhandenen Abstand zu überbrücken und das Unausweichliche endlich geschehen zu lassen. Doch es ging nicht länger nur um ihn und mich. In dem verworrenen Spiel, in dem wir beide mehr oder weniger freiwillig gefangen waren, hatte jede Aktion eine Reaktion, die wiederum ungeahnte Konsequenzen mit sich bringen würde, mit denen ich mich einfach nicht befassen wollte. Obwohl es mir schwer fiel, die Kontrolle über meinen Körper zurückzugewinnen, räusperte ich mich und trat einen Schritt zurück.
"Was willst du, Gabe?"
Dieses Mal blickte er nicht zu mir. Vielmehr wanderte sein Blick vom Boden zu einem Punkt, der hinter mir zu liegen schien. Er seufzte, bevor er zu einer Antwort ansetzte.
"Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll."
Ich konnte nicht anders, als zu schmunzeln. Mit diesem einen Satz hatte er den Nagel ziemlich gut auf den Kopf getroffen. Obwohl es mir nicht anders ging, konnte ich mir einen sarkastischen Kommentar nicht verkneifen.
"Wie wäre es am Anfang?"
Er fuhr mit seiner Hand durch die bereits verwuschelten Haare, die, anders wie in Sizilien, ungewollt in alle Richtungen abstanden. Leichte Schatten zeichneten sich unter seinen Augen ab und offenbarten mir, dass ich nicht die Einzige in diesem Raum war, die litt. Auch wenn es nicht unbedingt beabsichtigt war, spürte ich schlechtes Gewissen in mir aufkeimen.
Ich seufzte und fügte etwas versöhnlicher hinzu: "Vielleicht wäre es besser, wenn ich anfange."
Ich schloss meine Augen und nahm einen tiefen Atemzug, bevor ich erneut in die tiefgrünen Iriden blickte.
"Eigentlich hatte ich vorgehabt, dich anzubrüllen, weil du derart dumm gewesen warst und Michail grundlos das Heilmittel überreicht hast. Aber das hat sich nach der Offenbarung von vorhin ja irgendwie erledigt."
Ein Schmunzeln schlich sich auf Gabes Lippen, auch wenn es seine Augen nicht erreichte. Wieder gönnte ich mir einen tiefen Atemzug, bevor ich fortsetzte.
"Deshalb komme ich direkt zur nächsten Sache, die ich unbedingt loswerden muss. Du brauchst dir für nichts die Schuld zu geben, okay? Du wusstest nichts von meinen Fähigkeiten und deshalb auch nicht von der Gefahr, in der ich geschwebt habe. Außerdem hat Michail alles bis ins kleinste Detail durchgeplant. Hat Dimitri und mich Tanzstunden nehmen lassen, um dir zu zeigen, dass ich über dich hinweg bin. Du konntest nicht anders, als in die Falle zu tappen."
Gabes Lippen öffneten sich, doch ich ließ ihn mit der Hand innehalten. Meine Stimme brach, weshalb ich nur noch wispernd hervorbringen konnte: "Es gibt jedoch eine Sache, die mich wirklich überrascht hat. Du hast diesem Schauspiel so schnell geglaubt."
Bilder von unserer abendlichen Unterredung auf Giulias Hochzeit erweckten Erinnerungen, die ich so schnell nicht wieder erleben wollte. Immer noch spürte ich, wie mein gesamter Körper in Ilvys Armen bebte und sich nichts sehnlicher wünschte, als in einen dumpfen Schlaf zu finden. Auch wenn seitdem vieles geschehen war, das dieses eine Ereignis übertraf, spürte ich immer noch den Kummer, der mich von Innen heraus peinigte. In diesem Moment war es mir vollkommen gleichgültig, dass ich Gabe vollends ausgeliefert war. Ich war mir sicher, dass er den puren, ungefilterten Schmerz in meinen Augen sehen konnte und sich seinen Teil dachte. Seine Hand bewegte sich vorsichtig in meine Richtung. Er hielt kurz inne, um eine Reaktion meinerseits abzuwarten. Doch ich hielt inne und ließ ihn gewähren. Als sich seine Hand um meine Wange schmiegte, begann diese sofort zu prickeln. Das Gefühl, endlich angekommen zu sein, fuhr durch meinen gesamten Körper und ließ mich meine Augen schließen. Wenigstens einen Moment wollte ich einfach nur innehalten und mich diesem Gefühl von Vollkommenheit hingeben. Selbst mit dem Gewissen, dass es nur eine kurzzeitige Illusion war.
Es tut mir unendlich Leid.
Gabes Stimme, die meinen Körper zum Vibrieren brachte, ließ mich schließlich wieder meine Augen öffnen und dem unausweichlichen Ende entgegenblicken. Der kleine Augenblick der Vollkommenheit war dahin. Der Schmerz in seinen Augen war unbestreitbar und doch machte er mir bewusst, dass wir aus einem bestimmten Grund hier standen. Und der Grund war nicht, uns gegenseitig zu bemitleiden. Meine Hand legte sich auf seine, um sie sanft von meiner Wange zu führen. Wieder trat ich einen Schritt zurück, um etwas Abstand zwischen unsere Körper zu bringen.
"Ilvy hat mir von deinen nächtlichen Besuchen in meinem Zimmer erzählt, als ich im Koma lag."
Eine verdächtige Röte legte sich auf seine Wangen, während er seinen Blick auf alles richtete, nur nicht auf mich. Ich seufzte und erregte somit wieder seine gesamte Aufmerksamkeit.
"Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass du solche Sorge um mich hattest, Gabe, doch du brauchst das nicht mehr aufgrund von irgendwelchen Schuldgefühlen mir gegenüber zu tun, in Ordnung? Ich kann auf diese Mitleidstour genauso verzichten wie auch damals in Sizilien."
Es vergingen gefühlte Minuten, in deinen seine Augen etwas in meinen suchten und das Blut in meinen Ohren zu rauschen begann. Ich konnte nicht genau sagen, ob er fündig wurde, doch Erkenntnis ließ seine Augen groß werden.
"Denkst du wirklich, dass ich das alles nur aus Mitleid getan habe?"
Dieses Mal war ich es, die versuchte, in seinen grünen Tiefen fündig zu werden. Mein Herz sagte nein. Auch seine Augen schrien mir zu, dass dieser Gedanke vollkommen absurd war. Doch mein Verstand sah nur die Tatsachen und konnte die Motive nicht so einfach entschlüsseln.
"Ich weiß ehrlich gesagt nicht mehr, was ich denken oder glauben soll", murmelte ich und fuhr mit den Händen durch meine Haare. Gabe nutzte diesen schwachen Moment meinerseits und trat einen Schritt auf mich zu. Mittlerweile spürte ich die Wand in meinem Rücken. Ein Entkommen war zwecklos.
"Ist der Schaden zwischen uns derart groß?", flüsterte Gabe. Der Duft nach frisch gemähter Wiese im Sommer ließ mich einen intensiven Atemzug nehmen und vernebelte mir die Sinne. Sein warmer Atem erweckte in mir den Wunsch, den kaum vorhandenen Abstand zwischen uns zu überbrücken. Doch wieder war es mein Verstand, der mich dazu zwang, standhaft zu bleiben und ihm stattdessen stumm in die Augen zu sehen. Viel zu viel war geschehen, als dass diese Gefühle zwischen uns ausreichen würden. Außerdem gab es Wichtigeres, das nun oberste Priorität hatte.
"Ich verstehe", erwiderte Gabe, auch ohne eine Antwort von mir zu hören, und ging einige Schritte nach hinten.
Binnen einiger, weniger Sekunden baute sich eine imaginäre, undurchdringbar wirkende Wand zwischen uns auf, die mein verräterisches Herz schmerzhaft zusammenziehen ließ. Alles in mir schrie danach, dies zu verhindern und einfach alles Vergangene zu vergessen, doch ich blieb weiterhin standhaft.
Es ist einfach besser so für uns beide.
Seine Hände fuhren durch das volle, zerzauste Haare, während er auf und ab lief. Ich ließ ihn gewähren und gab ihm die Zeit, die er brauchte. Denn auch ich brauchte sie mindestens genauso sehr, um die protestierenden Stimmen in meinem Inneren auf ein erträgliches Minimum zu reduzieren.
Als er wieder vor mir stehen blieb, war jegliche Emotion aus seinem Gesicht verschwunden. Wie eine gottgleiche Marmorstatue blickte er mir entgegen und ich wusste, dass dies meine Schuld war. Nur der Sturm in seinen Augen verriet, wie aufgewühlt er in Wahrheit war.
"Können wir wenigstens wie zivilisierte Leute miteinander umgehen und aufhören, uns andauernd aus dem Weg zu gehen?", fragte Gabe mit noch tieferer Stimme als zuvor.
Erleichtert ließ ich die angestaute Luft aus meiner Lunge entweichen. Diese Bitte würde ich ihm gewähren.
"Nichts lieber als das. Schließlich müssen wir in den nächsten Wochen zusammenarbeiten und Gefühle jeglicher Art würden uns nur im Weg stehen."
Obwohl ich zugeben muss, dass es etwas verstörend ist, dich neben meiner Mutter und Elise sitzen zu sehen, fügte ich lautlos hinzu. Als sich seine Lippen zu einem schiefen Grinsen verformten, hätte ich mich am liebsten geohrfeigt. Auch wenn es unbeabsichtigt geschehen war, so hatte Gabe meine Gedanken gehört.
Diese dumme Verbindung...
Ich musste endlich lernen, diese Verbindung zwischen uns zu kontrollieren.
Die Wut darüber, dass ich ihm so hilflos ausgeliefert war, ließ mich ihm schließlich entgegen speien: "Weißt du was? Streich das etwas in dem Satz. Es ist einfach nur verstörend, meine Eltern am Leben zu sehen und zu wissen, dass du und meine Mutter... Das ist einfach nur krank!"
Erneut fuhr ich mir mit den Händen durch das Haar und versuchte kläglich, die Bilder in meinem Kopf von meiner Mutter und Gabe zu ignorieren. Es war schon recht komisch. Nach all dem Schmerz und Leid, welches ich in dem Bunker in Japan durchlebt hatte, störten mich solche vergleichsweise Nichtigkeiten trotzdem noch. Auch wenn ich mich schämte und am liebsten die letzten Worte zurückgenommen hätte, blickte ich wieder zu Gabe, der ein leichtes Schmunzeln nicht unterdrücken konnte.
"Du sprichst wirklich alles aus, was du denkst. Wenigstens das hat sich nicht geändert."
Früher hätte ich mich für diese Eigenschaft von mir geschämt, vor allem in der Anwesenheit dieses furchtbar gutaussenden Sizilianers, der mich um den letzten Funken Verstand bringen konnte. Doch dies lag nunmehr in der Vergangenheit. Ich straffte meine Schultern und blickte entschlossen in Gabes Gesicht, der zuvor stirnrunzelnd meinen viel zu dürren Körper taxiert hatte.
"Ich mache niemandem mehr etwas vor. Entweder man kommt damit klar, wer ich jetzt bin, oder eben nicht. Außerdem hättest du blind, taub und ein gefühlskalter Mistkerl sein müssen, wenn du nicht verstanden hast, dass ich damals - in Sizilien - wirklich etwas für dich übrig hatte."
Das Schmunzeln auf Gabes Gesicht erlosch. Zurück blieb nur noch eine emotionslose Maske, hinter der zig Gefühle brodeln mussten. Ich hatte für heute genug gehört.
"Wenn es sonst nichts gibt, würde ich jetzt gerne in den Trainingsraum gehen und meinen Muskeln, die noch übrig geblieben sind, gerne einen guten Grund dafür geben, mich zu hassen."
Einige Augenblicke starrten wir uns an, bis er mir mit einem Nicken zu verstehen gab, dass auch er nichts mehr zu sagen hatte. Auf der Stelle drehte ich mich um, den Ausgang im Blick. Doch eine Sache musste ich noch loswerden. Ich drehte mich wieder zu Gabe, sein intensiver Blick immerwährend auf mir.
"Eine Sache noch: Irgendwann, nach einigen sehr starken Drinks, musst du mir deine gesamte Geschichte erzählen, Gabriel Delanotte. Von Anfang bis Ende. Bis ins kleinste Detail. Keine Lügen. Und keine Lücken."
Er nickte, während seine Mundwinkel zu zucken begannen. Sein intensiver Blick war auf mich gerichtet und erhöhte geradewegs meinen Puls. Plötzlich hatte ich das Gefühl, von innen heraus zu verbrennen und ich fragte mich, ob jemand die Heizung ins Unermessliche aufgedreht hatte. Doch dies war reine Ablenkung von einer nicht zu leugnenden Tatsache. Ich würde das zwischen uns nicht immer ignorieren können. Mit aller Kraft wandte ich mich von ihm ab.
Noch konnte ich nicht sagen, wie lange ich dem Drang, mich ihm endlich vollends hinzugeben, widerstehen konnte. Doch schneller als gedacht bekam ich eine Antwort darauf. Starke Arme umschlangen meinen fragil wirkenden Oberkörper. Der Wunsch, mich von seinem wohltuend warmen und festen Körper zu lösen, hielt nur Bruchteile von Sekunden an. Selbst wenn ich es gewollt hätte, würde mein Herz es dieses Mal nicht zulassen. Ein Hauch von einem Kuss landete auf meinem Haar und mein Herzschlag stoppte.
"Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr du mir gefehlt hast."
Es war kaum mehr als ein Raunen, doch dies genügte bereits, um das Kribbeln in meinem Körper zu verstärken. Ich traute mir nicht länger zu, sprechen zu können, weshalb ich mich einfach vollends meinen Gedanken hingab und meine Augen schloss.
Du mir auch.
Ich spürte, wie sich seine Lippen auf meinem Haar zu einem Lächeln verzogen.
"Außerdem solltest du wissen, dass ich jedes einzelne Wort Ernst gemeint habe. Damals, in dem Brief."
Von einem auf den anderen Moment war die wohltuende Wärme seines Körpers verschwunden. Stattdessen hörte ich, wie seine Schritte an mir vorbei und in Richtung Tür liefen. Ohne sich ein weiteres Mal zu mir umzudrehen, öffnete er die Tür und ließ mich in dem Raum zurück. Obwohl ich die gesamte Zeit über gut durchgehalten und meinen Gefühlen nicht die Oberhand gewährt hatte, war es Gabe doch gelungen, den Spieß umzudrehen. Mit geöffnetem Mund starrte ich immer noch zur Tür und konnte nicht glauben, was soeben geschehen war. Doch mein Körper wusste ganz genau, was ihm soeben widerfahren war. Mein Herz raste. Ich hörte und spürte meinen Puls, als würde das Blut gleich überkochen. Und das Verlangen nach mehr war geweckt.
*Räusper*... ähm... ja... für ein erstes Gespräch ist es doch gar nicht so schlecht gelaufen, oder? Ich meine, es gab kein Feuer und auch kein Geschrei. Zwar ging es immer wieder etwas Auf und Ab, aber das sind wir von den beiden ja nicht anders gewohnt. Meint ihr, unsere Cassie würde ein Happy End mit Gabe jemals zulassen oder seid ihr da eher skeptisch? 😅
Um 21 Uhr geht es weiter mit dem nächsten Kapitel 🙃
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