Kapitel 5
Dumpfe Schritte hallten durch den unendlich lang wirkenden Flur. Sie waren im Einklang mit meiner eigenen Atmung, die langsam und ruhig war. Als hätte mein Körper auf diese Verwandlung gewartet, die ich ihm heute gespendet hatte, streckte er sich zu voller Größe empor. Das Leder der Jacke knirschte leicht bei jedem Schritt und machte mir mit jeder Sekunde bewusst, dass ich jetzt nicht mehr die Gleiche war, die noch vor einigen Stunden hier herum gegeistert hatte. Von der verwirrten, ungepflegten Frau war nichts mehr übrig geblieben. Meine Hände ballten sich kampfbereit zu Fäusten. Schon lange hatte ich mich nicht so selbstbewusst gefühlt wie in diesem Moment. Obwohl ich keinerlei Angst verspürte, hielt ich inne. Die Hände legten sich um den kalten Metallhenkel der schwer wirkenden Holztür. Ich schloss die Augen und nahm einen tiefen Atemzug. Mit einem einzigen Stoß öffnete ich die Tür, die in den nächsten Stunden meine Destination darstellen würde.
Ich trat einen Schritt in den Raum hinein. Das Zimmer war zu meinem Erstaunen von nur geringer Größe. Der weiße, runde Tisch nahm beinahe den gesamten Raum ein. Insgesamt waren fünfzehn Stühle um den Tisch platziert worden. Lian hatte sich bereits zwischen einem der Stühle und dem Smartboard an der Wand platziert, um alsbald in der Runde starten zu können. Er schenkte mir ein Nicken, das ich erwiderte. Mein Blick wanderte wieder zu den Personen, die bereits auf den Stühlen am Tisch Platz genommen hatten. Direkt vor mir saßen meine Eltern, die mich mit geweiteten Augen musterten. Neben ihnen befanden sich vier weitere Personen, zu deren Gesichtern ich noch keine Namen zuordnen konnte. Es folgten Dimitri, Dorian und Ilvy, die mich mit teils geöffneten Mündern, teils amüsierten Blicken anstarrten. Der Stuhl neben Ilvy war unbesetzt. Ein Lächeln schlich sich bereits auf meine Lippen, als ich diesen Platz als meinen eigenen identifizierte. Doch dieses erstarb sogleich, als ich meinen anderen Sitznachbarn in Augenschein nahm.
Gabe.
Seine grünen Iriden bohrten sich geradewegs in meine. Die Lippen waren unter dem leichten Bartschatten aufeinandergepresst. Obwohl er optisch zu dem Gabe passte, den ich in Sizilien kennengelernt hatte, war mir bewusst, dass ich so gut wie nichts über diesen Mann wusste. Es war mir nicht einmal möglich zu entschlüsseln, was in ihm vorging, obwohl die Verbindung zwischen uns präsenter als jemals zuvor war. Und ich war mir auch gar nicht sicher, ob ich das überhaupt wollte. Das Einzige, was ich in meinem tiefsten Inneren verspürte, war das Versprechen von Vollkommenheit, wenn ich mich ihm und dieser Verbindung nur hingeben würde.
Diese eigenartige Verbindung wird irgendwann noch mein Untergang sein.
Ich musste meinen Kopf schütteln, um mich von Gabes intensivem Blick lösen zu können. Erleichtert darüber, Giulia neben ihrem Bruder zu sehen, schlich sich ein leichtes Lächeln auf meine Lippen. Giulia ließ es sich nicht nehmen, mir zuzuzwinkern. Anna und Miguel grinsten mich ebenfalls an. Doch ich hatte das ungute Gefühl, dass es nicht auf meine Wiederkehr zurückzuführen war. Vielmehr huschten ihre Blicke zwischen Gabe und mir hin und her, was nichts Gutes bedeuten konnte. Das war das Zeichen worauf ich gewartet hatte.
Ich straffte meine Schultern und setzte einen Fuß vor den anderen. Mein Ziel war der einzige noch freie Stuhl zwischen Ilvy und Gabe. Dabei spürte ich, wie sich mein Herz mit jedem Schritt weiter beschleunigte. Die Blicke, die mich die gesamte Zeit taxierten, ließen meine Hände zu Fäusten zusammenballen. Denn einer von ihnen stach besonders aus der Menge heraus.
Je näher ich Gabe kam, umso schlimmer wurde der Sog, der mich gänzlich an ihn ketten wollte. Es wunderte mich nicht, dass der Wunsch, mich zu ihm zu drehen, schier unendlich war, als ich mich auf dem für mich vorhergesehenen Stuhl niederließ. Aus dem Blickwinkel erkannte ich, wie Gabes Gesicht sich meinem zuwandte. Sein Lippen öffneten sich etwas. Jeden Moment erwartete ich, dass ich seine tiefe Stimme hören würde. Doch es geschah nichts dergleichen.
Eine Hand legte sich auf meinen Oberschenkel. Ich zuckte leicht zusammen. Ich hatte mich dermaßen auf Gabe konzentriert, dass ich Ilvy vollkommen vergessen hatte. Den Hauch von Bedauern, dass es Ilvys und nicht Gabes Hand war, schüttelte ich schnell wieder ab. Ich wandte mich meiner ehemaligen Mitinsassin zu. Ihre großen, blauen Augen funkelten und das Lächeln, das sich auf ihre Lippen schmiegte, war echt und einnehmend.
"Du siehst einfach unglaublich aus, Cassie!"
Meine Wangen erwärmten sich verdächtig. In diesem Moment war ich froh darüber, dass Elise mich dazu gezwungen hat, eine Makeup-Schicht aufzutragen. Ein Lächeln legte sich auf meine Lippen, was Antwort genug für Ilvy sein musste.
"Da ist sie ja wieder, unsere Kämpferin", hörte ich Dorian im nächsten Moment sagen, der heute Morgen noch mein Aussehen im negativen Sinne kommentiert hatte. Ich schmunzelte und blickte geradewegs in seine stechend blauen Iriden.
"Das war ich auch vorher schon. Doch jetzt passt die Hülle endlich zum fiesen Inneren."
Dorian begann zu lachen. Während ich dabei zusah, wie er sich beinahe den Bauch halten musste, dachte ich zurück an den Dorian, den ich in der Hölle hatte kennenlernen dürfen. Nicht ich war diejenige, die eine Hundertachtzig Grad Wendung vollzogen hatte und es freute mich ungemein, dass Dorian zu solch einem Selbstbewusstsein gefunden hatte.
"Ist das ein echtes Tattoo?", hörte ich plötzlich Dimitri fragen, der mit Vorsicht zu mir herüberblickte.
Ich betrachtete die akkurat gestochenen, dünnen Linien, die meinen Unterarm zierten und nickte bestätigend. Die roten Umrandungen, die zuvor auf den entzündeten Stellen zu sehen gewesen waren, hatten sich verflüchtigt. Elise hatte Recht gehabt. Meine Wunden heilten sehr schnell.
Jedenfalls die Äußeren.
Bevor irgendwelche weiteren Fragen bezüglich meines Äußeren auf mich einrieseln konnten und mein Gehirn in eine Richtung treiben konnten, die nicht sonderlich schön war, wandte ich mich an die gesamte Runde. Es gab Wichtigeres zu erledigen und ich brannte bereits nach den Antworten auf die Fragen, die mir die gesamte Zeit im Kopf herum geisterten. Die hier Anwesenden folgten sowieso bereits interessiert dem Gespräch zwischen mir und meinen ehemaligen Mitstreitern, weshalb ich nicht einmal deren Aufmerksamkeit zu erregen brauchte.
"Warum sind nur so wenige Leute anwesend?"
Es war Lian, der sich gänzlich mir zuwandte und seine Hände auf der Stuhllehne platzierte.
"Das sind diejenigen, denen wir vertrauen können."
Ein kurzer Blick in die voll besetzte Runde genügte, um zu wissen, dass ich dem nicht ganz zustimmen konnte. Mindestens sechs Personen in dieser Runde hatten mich angelogen und getäuscht. Auch Giulia schien nicht sonderlich begeistert von dieser Aussage zu sein, da ihr ein genervtes Stöhnen entfuhr. Auch wenn ich liebend gerne Giulia beigestimmt hätte, war dies nicht der richtige Zeitpunkt, um eine Diskussion zu starten. Für die größere Sache würde ich meinen Stolz hinunterschlucken müssen. So viel war klar. Ich blickte wieder zu Lian.
"Wann geht es denn los?"
"Wir warten noch auf jemanden."
Ich runzelte die Stirn und schaute mich nochmals in dem Raum herum.
"Ich verstehe nicht ganz. Sämtliche Stühle sind doch bereits besetzt."
Lian nickte, doch sein Blick war auf das Smartboard hinter ihm gerichtet, als würde er auf etwas warten.
"Akuma wird sich noch zu uns gesellen."
Meine Hände krallten sich in die Stuhllehnen. Mit großen Augen musterte ich Lian, der die Frage in ihnen sicherlich auch ohne es laut auszusprechen lesen konnte.
"Akuma? Ist er auch hier?"
Lian schüttelte den Kopf und sagte: "Er bewacht die Lage im entgegengesetzten Lager."
Der Gedanke, dass Akuma auf unserer Seite sein könnte, war mir bisher nicht gekommen. Stets hatte er wie ein loyaler Anhänger Michails gewirkt, der, ohne zu zögern, jedem Befehl Michails folgte. Das war wiederum ein Beweis dafür, dass mich nichts mehr zu überraschen brauchte.
"Ich verstehe. Und da wir selbst auf der anderen Seite einen Spitzel haben, ist nicht auszuschließen, dass wir nicht auch beobachtet werden."
Lian nickte bestätigend.
"Wir sollten vor allem jetzt, da du wieder wach bist, auf Nummer sicher gehen. Denn Karina ist sehr darauf aus, dich in die Finger zu kriegen."
Das Grinsen, das sich auf meine Lippen legte, war humorlos. Meine Hände krampften sich abermals in die Lehnen. Bei der Erwähnung dieses Namens wäre ich am liebsten knurrend aufgesprungen. Meine Stimme triefte nur so vor Hass, als ich hervorpresste: "Soll sie bloß kommen. Ich habe noch ein Hühnchen mit diesem Biest zu rupfen."
Schneidende Stille erfüllte den Raum. Abermals spürte ich alle Blicke auf mir ruhen. Mein Herz raste. Das Blut pulsierte in meinen Ohren. Erst als ich meine Augen schloss und mir einige Augenblicke gewehrte, um mich zu beruhigen, ließ die Anspannung wieder nach.
Mit viel ruhigerer Stimme setzte ich schließlich fort: "Sollte sie nicht eher damit zutun haben, das Heilmittel herzustellen und die Weltherrschaft an sich zu reißen, so wie es ihr Lover die gesamte Zeit geplant hat?"
Eine kalte, zierliche Hand legte sich über meinen Unterarm. Ich schaute zu meiner Sitznachbarin, die ein leichtes Lächeln auf den Lippen hatte.
"Cassie... Sie haben das Universalheilmittel nicht."
Mein Körper spannte sich an, während meine Augen groß wurden.
Was wird hier gespielt?
Das konnte nur ein schlechter Scherz sein. Ich musterte Ilvys Gesicht. Ihre Augen funkelten aufrichtig. Das Lächeln war nicht aufgesetzt. Auch wirkte es nicht so, als ob sie jeden Moment in Gelächter ausbrechen würde. Mir war bewusst, dass Ilvy über so etwas niemals Scherze machen würde. Dafür war sie einfach nicht der Typ. Es gab schlicht und einfach kein Anzeichen darauf, dass sie mich auf den Arm nahm. Ich entzog Ilvy meinen Arm und nutzte die freigewordene Hand, um damit die Locken aus meinem Gesicht zu streichen.
"Das ist doch... Aber... Michail hat es doch groß präsentiert!", stotterte ich hervor.
In meinem Kopf drehte sich alles. Schließlich hatte ich das Heilmittel mit eigenen Augen gesehen. Und Michail war sich sehr sicher gewesen, dass es funktionierte. Wenn man Michail etwas hätte zugute halten wollen, dann wäre es, dass er keineswegs dumm war. Er hätte doch geahnt, wenn man ihn derart hinterging.
"Ich habe Michail getäuscht."
Gänsehaut breitete sich auf meiner Haut aus, als ich Gabes tiefe Stimme mit dem kaum merklichen, italienischen Akzent vernahm. Ich hatte bereits vorher geahnt, dass ich ihm nicht für immer aus dem Weg gehen konnte. Doch ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich bereits so schnell damit konfrontiert werden würde. Langsam drehte ich meinen Kopf zu ihm. Sofort stieg mir der Duft von frisch gemähter Sommerwiese in die Nase, an dem ich ihn immer und überall wiedererkannt hätte. Obwohl ich am liebsten nichts anderes tun würde, als für immer diesen speziellen Duft einzuatmen, schaute ich geradewegs in seine grünen Tiefen, die voller Leben zu sein schienen. Es war derart einfach, die komplette Welt auszublenden, wenn ich nur ansatzweise die Nähe dieses einen Mannes spürte.
"Würdest du dich bitte genauer ausdrücken?", entgegnete ich mit kratziger Stimme, wofür ich mich innerlich sofort verfluchte.
Gabes Mundwinkel zuckten kaum merklich. Er wusste ganz genau, was für einen Effekt er immer noch auf mich hatte. Doch auch ihn schien unsere Konversation nicht gänzlich kalt zu lassen. Seine Hände waren krampfartig zu Fäusten geballt und seine Brust hob und senkte sich merklich schneller.
"Michail hat nicht die vollständige Rezeptur von mir erhalten."
Ich erinnerte mich noch gut an die blaue Substanz in den zig Reagenzgläsern, die Michail unter anderem den Langlebigen bei der Jahreszeremonie präsentiert hatte.
"Aber Michail war sich doch derart sicher, das Heilmittel in seiner Hand zu haben. Er hat es sicherlich zuvor an einer Versuchsperson getestet. Schließlich war Michail alles, aber nicht dumm."
Gabe nickte bestätigend. Ein kaum merkliches Schmunzeln legte sich auf seine Lippen.
"Ich habe einen alten Freund um Hilfe gebeten, der mir noch einen Gefallen schuldig war. Er war einer der Wächter Michails gewesen und hat eine Versuchsperson aufgetrieben, die bereits längst von mir verwandelt worden war. So haben wir Michail in dem Glauben gelassen, dass er das wahre Heilmittel hat."
Zwei Monate waren eine lange Zeit, in der vieles geschehen konnte. Und ich hatte aufgrund unserer Festung in dieser abgeschiedenen Schneelandschaft und dem Heilmittel erwartet, dass dort draußen die Hölle los sein musste. Konnte es wirklich wahr sein? Hatten wir noch eine Chance, von der ich vorher nicht einmal zu träumen gewagt hatte? Ein Leben, in dem Menschen immer noch nichts von der Existenz der Langlebigen wussten? Ein Gefühl kämpfte sich geradewegs von meinem Herzen in den ganzen Körper hindurch. Etwas, das ich schon lange nicht mehr verspürt hatte. Hoffnung.
Ich entriss mich Gabes Blick und schaute erwartungsvoll in die gesamte Runde.
"Das heißt, dass mich nicht das volle Chaos erwartet, wenn ich jetzt einen Blick in die Nachrichten werfe?"
Wieder war es Lian, der mir eine Antwort gab.
"Noch nicht. Doch mit dem, was sie mit dem Abriss der Rezeptur bekommen haben, sind sie näher als jemals zuvor, herauszufinden, wie das Heilmittel funktioniert. Von dem Chaos, das wir nach deinem Auftritt auf der Bühne angerichtet haben, ist leider nicht mehr viel übrig. Sie haben sich schnell neu organisiert."
Chaos?
Doch bevor ich nachfragen konnte, was er genau mit dem Chaos nach meinem Auftritt während der Jahreszeremonie gemeint hatte, wurde der Bildschirm hinter Lian erhellt. Im Hintergrund war eine düster wirkende Bibliothek zu sehen, vor der sich Akuma allmählich platzierte. Auch Lian hatte sich bereits umgedreht, um zum Bildschirm zu sehen.
"Akuma...", begann Lian, doch er wurde sofort von Besagtem unterbrochen.
"Ich habe keine Zeit. Und ihr genauso wenig. Sie sind schneller, als wir erwartet haben. Es kann sich nur noch um Wochen handeln, bis sie bereit sind."
Stille prägte den Raum nach dieser bedeutungsschwangeren Aussage. Akuma positionierte sich neu vor der Kamera, indem er noch näher an die Kamera heranrückte. Mit flüsternder Stimme fuhr er fort.
"Cassandra? Du musst Dorian dazu bringen, seine Kräfte vollständig zu aktivieren. Bring ihm das bei, was du bereits verinnerlicht hast. Er wird eine große Hilfe bei dem Kampf sein, der uns bald bevorstehen wird."
Dorians Kräfte aktivieren?
Anstatt Akuma eine Antwort darauf zu geben, blickte ich zu Dorian, der geradewegs auf den Tisch vor sich starrte. Weg war das Selbstbewusstsein, das er vor Kurzem noch an den Tag gelegt hatte. Vor mir sah ich wieder die zerbrechliche Person, die ich damals hatte kennenlernen dürfen.
Akuma setzte fort.
"Lian, ich melde mich, sobald ich nähere Informationen habe. Leider gehöre ich nicht zu dem engsten Kreis der Vertrauten, was mir die Sache erheblich erschwert. Halt mich auf dem Laufenden."
Von einem auf den anderen Moment verschwand Akuma von der Bildfläche und hinterließ einen schwarzen Hintergrund. Einige Augenblicke war es still. Ein jeder schien seinen Gedanken hinterherzuhängen. Ich selbst sah wieder die Bilder des Trainingsraums vor mir, in dem ich so viele Schmerzen hatte erfahren dürfen. Die Erinnerungen an das Training im Untergrund brachte die Erinnerungen an meine zwei Mitstreiter mit, die ich hier noch nicht gesehen hatte.
"Was ist eigentlich mit Logan und Samantha?"
Lian blickte zu Boden. Auch als ich zu meinen ehemaligen Mitstreitern blickte, schien keiner eine Antwort für mich parat zu haben.
"Also kämpfen sie für Karina?", mutmaßte ich, was mich tief schlucken ließ.
Lians Stirn legte sich in Falten, was stets ein Anzeichen für sein Missfallen gewesen war.
"Wir wissen es nicht genau, aber wir gehen stark davon aus. Karina lässt die beiden stark bewachen, sodass Akuma nicht an nähere Informationen kommt."
Auch wenn wir nicht genau wussten, was Karina mit den beiden vor hatte, konnte der Großteil der hier Anwesenden es sich vorstellen. Zu Genüge hatte ich gesehen, wie skrupellos die beiden vorgingen. Ich nutzte die Stille, die im Raum eingekehrt war, um mir einen Moment zum Nachdenken zu geben.
"Wenn ich noch einmal kurz zusammenfassen darf: Karina hat das Heilmittel nicht, ist aber kurz davor herauszufinden, wie es herzustellen ist. Damit will sie Michails Plan von einer neuen Weltordnung in die Tat umsetzen und die Menschheit unterwerfen. Wenn wir etwas tun wollen, dann muss das vor dem Angriff auf die Menschheit sein. Schließlich wollen wir, dass nicht die ganze Welt ins Chaos gestürzt wird. Also haben wir nur wenige Wochen, um uns vorzubereiten."
Mein Kopf begann bereits zu schmerzen. Ich schnappte kurz nach Luft, bevor ich zu Lian emporblickte.
"Bitte sag mir, dass ihr einen Plan habt."
Als hätte er nur auf ein Zeichen meinerseits gewartet, drehte er sich zum Smartboard, ohne mich aus den Augen zu lassen.
"Es gibt zwei Operationen."
Er nahm einen Präsenter in die Hand und ließ ein Bild von der Weltkarte erscheinen.
"Die erste Operation ist die Phase der Eliminierung. Denn ohne Ressourcen ist es schwer, einen Krieg zu führen."
Bei dem Wort Eliminierung schluckte ich. Das Bild von Michails brennendem Körper stieg vor meinem geistigen Auge auf. Wieder hörte ich die vor Angst erfüllten Schreie der Langlebigen. Trotz dem beklemmenden Gefühl in meiner Brust blieb mein Blick weiterhin auf die Karte an der Wand gerichtet.
"In der Eliminierungsphase werden wir alle Standorte zerstören, von denen Karinas Gefolgsleute aus operieren. Es gibt insgesamt fünf Standorte, um die wir uns kümmern müssen."
Auf der Weltkarte erschienen fünf rote Punkte, die die jeweiligen Standorte markierten. Diese waren in der ganzen Welt verteilt. Österreich, Ägypten, England, Japan und Neuseeland zierte jeweils ein Punkt, der den zu zerstörenden Standort darstellte.
"Wir haben nach reichlicher Überlegung die Gruppen eingeteilt, die die jeweiligen Unteroperationen durchführen werden."
Lian betätigte den Knopf auf dem Präsenter. Neben den jeweiligen Standorten erschienen allmählich die Namen aller in den einzelnen Operationen beteiligten Personen. Dorian war zuständig für die Eliminierung des Standortes in Österreich. Lian war der Kopf der Operation in Neuseeland. Anna und Miguel würden gleichermaßen für Ägypten zuständig sein. Als ich Dimitris Namen unter dem Standort England ausmachte, staunte ich nicht schlecht. Alle hier Anwesenden schienen Dimitri so weit zu vertrauen, dass sie ihm die Leitung einer der Unteroperationen gaben. Dieser Umstand hinterließ bei mir einen faden Beigeschmack. Doch dafür war jetzt nicht die richtige Zeit. Mein Name zierte den Kopf der Einheit, die in Japan tätig sein würde. Als ich unter meinem eigenen Namen die Namen meiner Eltern erkannte, rumorte es in meinem Bauch.
"Wie du sehen kannst, Cassandra, bist du Teil der ersten Operation. Wenn etwas schief gehen sollte, sind Dorian und du die stärksten Kräfte, die wir im Kampf haben. Das ist auch der Grund, warum ihr für die zwei größten Standorte verantwortlich seid."
Wenn etwas schief gehen sollte..., wiederholte ich für mich und schluckte. Auch wenn ich mir meiner Fähigkeiten bewusst war, konnte ich nicht glauben, dass ich solch eine große Rolle in dieser Operation spielen sollte. Ein Blick zu Dorian genügte, um auch bei ihm diese Unsicherheit zu sehen. Seine Lippen waren aufeinandergepresst und sein Blick auf die Tischplatte gerichtet. Ich musste unbedingt herausfinden, was es mit Dorians Fähigkeiten auf sich hatte und warum er sich dafür derart zu schämen schien.
"Da wir mit dieser ersten Operation nichts weiteres als Zerstörung erreichen werden und die Gegenseite sich schnell neu formieren wird, gibt es eine zweite Operation."
Lian nutzte den Präsenter, um die Ansicht zu ändern. Eine Art Grundriss zeigte sich auf dem Bildschirm, der zig Tunnel und kleine Räume zu zeigen schien.
"Wir bezeichnen sie als Aufklärungsoperation. Gabriel?"
Neben mir ertönte das Quietschen eines Stuhles. Aus dem Blickwinkel konnte ich sehen, wie Gabe sich erhob und gemächlich auf das Smartboard zuschritt. Er nahm Lian den Präsenter ab, der sich wiederum auf seinem Stuhl niederließ. Mit festem Stand stellte er sich neben das Smartboard und blickte geradewegs zu mir.
"Worauf beruht die Macht, die Michail und damit auch Karina innehat? Auf zwei Grundpfeilern: Dem Heilmittel als Druckmittel zum Einen und dem Einfluss in der Welt zum Anderen."
Ich nickte kaum merklich. Gabe nahm dies als Zeichen dafür, um weiterzumachen.
"Das heißt es genügt nicht, wenn wir ihre Ressourcen eliminieren, was in der ersten Operation geschieht. Wir müssen ihre Macht von innen heraus angreifen. Und das erreichen wir nur mit Informationen."
Einige der Räume im Grundriss wurden in einem Grün markiert, als Gabe den Präsenter betätigte.
"Aus meiner vorherigen, gemeinsamen Zeit mit Michail weiß ich, dass vieles im Untergrund geschehen ist, womit Michail viele seiner Anhänger verlieren würde. Geheimnisse, die er über einen jeden hier gesammelt hat, um Druckpunkte zu haben. Forschung, die über das hinaus geht, was man als vertretbar ansehen würde."
Es war kein Geheimnis, dass alle Langlebigen von der Existenz des Camps wussten, in dem ich und die drei Personen neben mir trainiert worden waren. Obwohl dies bereits meiner Meinung nach ein triftiger Grund war, die Grausamkeit dieser Personen anzuerkennen, erfuhr ich nun, dass es weitere, viel schlimmere Projekte gab, die im Untergrund existierten. Mich schüttelte es. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, wie genau diese geheimen Experimente aussahen.
Gabe zeigte mit der Hand auf die grün eingefärbten Räume im Grundriss.
"Diese Informationen werden der Schlüssel sein, um deren Machtergreifung ein für allemal im Keim zu ersticken. Denn wenn wir ihnen die Anhänger und Sympathisanten nehmen, wird Karina und ihr engster Kreis keine Gefahr mehr für uns und die unwissende Menschheit darstellen."
Gabe blickte ein weiteres Mal zu mir, als wollte er sicher gehen, dass ich noch folgte. Mit einem Nicken meinerseits setzte er weiter fort.
"Der Hauptstandort in Japan beinhaltet eine Bunkeranlage, wie ihr sie hier auf der Karte seht. Einige von euch durften diese bereits genauer kennenlernen."
Ein Blick in meine Richtung genügte, um zu wissen, dass ich zu der Gruppe gehörte, die diesen Bunker bereits kannte. Die gesamte Zeit während des Trainings hatte ich also in Japan verbracht.
"Genau dort werden wir einbrechen und uns alle Informationen beschaffen, die uns von Nutzen sein können."
Auf dem Bildschirm erschien ein weiterer, eingefärbter Raum, auf den Gabe als Nächstes zeigte.
"Von Akuma wissen wir, dass alle Informationen auf einem zentralen Server gelagert werden, der in Österreich gespiegelt wird. Somit führt die Zerstörung des Standortes in Österreich dazu, dass sie die redundaten Informationen verlieren, wir jedoch weiterhin Zugang auf alle Informationen in Japan behalten. Akuma wird uns die notwendigsten Informationen bereitstellen, die auf dem Server sind, damit wir diese nur noch abzuholen brauchen."
Ich runzelte die Stirn.
"Wenn die Informationen doch alle auf einem Server sind und Akuma uns diese zur Verfügung stellt, warum geht er nicht einfach mitsamt der Informationen aus dem Gebäude heraus und bringt sie uns? Das wäre doch viel einfacher für alle Beteiligten", stellte ich fest und lehnte mich mit verschränkten Armen in meinem Stuhl zurück.
Gabe schüttelte den Kopf.
"Das Problem ist, dass die wirklich grausamen Projekte in Papierform dokumentiert werden. Akuma könnte dies allein und unauffällig niemals meistern. Das Wichtigste bei dieser Operation ist, dass uns niemand bemerkt. Anderenfalls könnten sie versuchen, die Informationen zu zerstören, bevor wir sie in die Hände kriegen."
Auch wenn ich immer noch nicht vollkommen überzeugt war, schenkte ich Gabe ein Nicken.
"Ich kenne mich in den abgesperrten Bereichen am Besten aus, weil ich bei der Entstehung dieses Gebäudes dabei gewesen war. Das ist auch der Grund, warum ich diese Operation leiten werde. Wir müssen unauffällig in das Gebäude eindringen und auch unauffällig wieder hinausgelangen."
Auf dem Smartboard erschien eine Auflistung aller, die an der besagten zweiten Operation beteiligt waren. Unter den Namen erkannte ich den von Ilvy und Elise.
Ich ließ ein weiteres Mal den Plan in meinem Kopf Revue passieren. Eine Unklarheit war noch offen. Ich blickte geradeswegs zu Gabe, der bereits meine nächste Frage erwartete.
"Wenn ich die Eliminierungsoperation in Japan leite und die Aufklärungsoperation ebenfalls in Japan stattfindet, heißt das, dass unsere Gruppen gleichzeitig agieren müssen? Wird meine Operation diejenige sein, die Ablenkung von Außen verschafft, während ihr euch die notwendigen Informationen im Inneren des Bunkers besorgt?"
Gabe hielt einen Moment inne, bevor er nickte. Seine Lippen öffneten sich, doch kein Wort entkam ihnen. Das war auch nicht länger nötig.
Mit einem Mal wurde mir bewusst, warum ich für die Operation in Japan bestimmt worden war. Schließlich gab es keine bessere Ablenkung, als mich vor die Tore des Gebäudes zu stellen, in dem Karina tätig war. Noch vor dem Tod Michails hatte ihr Hass mir gegenüber überdimensionale Ausmaße gehabt. Und nach dem Mord an Michail würde sie sicherlich alles stehen und liegen lassen, nur um mich in ihre perfekt manikürten Finger zu kriegen. Auch wenn es keiner auszusprechen wagte, wusste doch jeder Anwesende in diesem Raum, was der eigentliche Zweck meiner Wenigkeit in diesem Plan war. Es waren nicht meine Fähigkeiten, die hier eine übergeordnete Rolle spielten.
Ich bin der Köder für Karina.
Auch wenn ich Karina mindestens genauso gern tot sehen würde wie sie mich, konnte ich die Bilder aus dem Folterkeller mit Karina nicht einfach ignorieren. Die Wahrheit war, dass ich Angst vor dieser Psychopathin hatte. Daran konnten auch meine Fähigkeiten nichts ändern. Doch wenn es bedeutete, dass wir damit erfolgreich sein und Karina aufhalten würden, war ich gewillt, dies zu akzeptieren.
Ich räusperte mich, bevor ich eine für mich äußert wichtige Frage an die Gesamtheit im Raum stellte.
"Wie gehen wir mit den Menschen und Langlebigen um, die sich während der Eliminierungsoperationen in den Gebäuden befinden?"
Dieses Mal war es Lian, der mir eine Antwort schenkte.
"Wir werden ihnen die Möglichkeit einräumen, das Gebäude zu verlassen. Doch mit Verlusten ist auf beiden Seiten zu rechnen."
Auch wenn ich mir nicht sicher war, ob die Pläne, die sich die hier anwesenden Personen überlegt hatten, überhaupt funktionieren würden, so war ich mir doch einer Sache bewusst. Die sieben tätowierten Kreise auf meinem Unterarm würden sicherlich nicht die Einzigen bleiben.
Hallihallo da draußen,
der Plan steht fest und Cassie ist endlich schlauer geworden. Was haltet ihr von den Plänen? Meint ihr, es wird alles beizeiten so klappen?
Ich wünsche euch noch einen schönen Abend 🌹
Eure federwunsch ❤️
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