Kapitel 11
Als ich dieses Mal meine Augen aufriss und nur die Umrisse meines provisorischen Schlafzimmers erblickte, lag ein Lächeln auf meinen Lippen. Ich hätte schwören können, dass mich immer noch der salzige Duft des Meeres umgab und jeden Moment Sand zwischen meinen Zehen knirschen würde, wenn ich sie nur zusammenziehen würde. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal mit solch einem wunderbaren Gefühl aufgewacht war. Niemand würde mir heute das Lächeln nehmen können. Da war ich mir sicher.
Mit viel mehr Elan als in den Tagen zuvor sprang ich aus dem Bett und kümmerte mich im Schnelldurchlauf um meine Morgentoilette. Mein Magen verlangte nach Essbarem, noch bevor ich das Zimmer verließ, um mich ins Speisezimmer zu begeben.
Aufgrund der immerwährenden Dunkelheit draußen konnte ich nicht einschätzen, welche Uhrzeit es war. Doch das Speisezimmer war nur spärlich gefüllt, als ich dieses betrat. Trotzdem durchströmte Wärme meinen Körper und ich wusste, dass Gabe ganz in der Nähe sein musste. Mein Blick huschte durch den Raum, nur um ihn hinter einem der Tische stehen zu sehen. Augenscheinlich war er mit Lian in ein Gespräch vertieft.
Mit kaum merklich schnelleren Schritten ging ich auf die beiden zu. Noch schien mich keiner der beiden bemerkt zu haben. Ihre Augen hafteten an dem Gesicht des jeweils anderen. Selbst von Weitem konnte ich die aufgeladene Aura um sie herum spüren, was meinem Magen einen weiteren Grund gab, zu rumoren.
"Sie ist kein Spielzeug, Lian. Siehst du denn nicht, dass sie noch Ruhe braucht?", erreichte mich Gabes tiefe Stimme. Ein Hauch eines Zitterns ließ sie vibrieren.
Ich hielt inne und wagte es nicht auszuatmen, Lians Reaktion abwartend.
"Wir haben schon genug Zeit verloren. Sie muss fit werden. Und du weißt das genauso gut wie ich."
"Das werde ich nicht zulassen!"
Gabe machte einen Schritt auf Lian zu, sodass sich die Nasenspitzen der zwei gleichgroßen Männer fast berührten. Ich brauchte nicht meinen Namen in diesem Gespräch zu hören, um zu wissen, dass es um mich ging. Es war wie ein mentaler Schlag ins Gesicht. Noch vor einigen Augenblicken hatte ich gedacht, dass Gabe und ich uns einig waren. Dass er mich bei meinen Schlachten unterstützen und nicht gegen mich und meine Wünsche agieren würde. Jetzt musste ich mir wohl oder übel eingestehen, dass Gabe es wohl niemals lassen würde, meine Kämpfe als seine eigenen auszutragen.
So viel also zu Versprechen, die man sich in Traumwelten gibt.
Ich schüttelte den Kopf und blickte gen Boden.
Ich wusste nicht, ob er meine Gedanken gehört oder mich endlich bemerkt hatte. Im nächsten Moment hallte ein gehauchtes Micina durch meine Gedanken, welches ich gekonnt ausblendete.
In einem Satz drehte ich mich um. Ich ließ meinen Blick über den überdimensional großen Raum schweifen. Erleichtert atmete ich aus, als ich eine rundliche Frau in einem schwarzen Kleid mitsamt weißer Schürze erblickte. Meine Schritte führten mich zu ihr. Als sie mich auf sie zugehen sah, huschte ein strahlendes, mütterliches Lächeln auf ihre Lippen.
"Ach, Liebes. Ich hoffe, es ist alles in Ordnung?", fragte sie mit niedlichem, schwäbischem Dialekt. Meine Seele frohlockte, als meine Muttersprache zu meinen Ohren drang. Ihre warme Hand legte sich auf meinen Arm und drückte leicht zu. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, ob meine Emotionen wirklich für jeden so leicht in meinem Gesicht zu entziffern waren. Doch ich dachte gar nicht erst daran, ihr darauf zu antworten.
"Könntest du mir bitte zeigen, wo die Küche ist?"
Etwas irritiert blickte sie zwischen mir und etwas hinter mir hin und her. Doch mit einem Nicken und einem "Aber gerne doch" setzte sie sich in Bewegung.
"Ich bin übrigens Margarete", sagte sie, während unsere Schritte dumpf durch die Flure hallten.
"Cassie", erwiderte ich mit einem aufgesetzten Lächeln. Das schien Margarete jedoch nicht im Geringsten zu stören.
"Ich habe eine Tochter, die etwas älter ist als du. Sie arbeitet hier als Zimmermädle. Vielleicht hast du sie schon einmal gesehen. Sie ist ungefähr einen Kopf größer als ich und sehr schlank."
Ich schüttelte den Kopf. Obwohl ich keine Ahnung hatte, warum sie mir das erzählte, freute es mich, ihren Worten lauschen zu dürfen. So musste ich mich nicht meinen eigenen Gedanken hingeben, die nur auf eine freie Minute hofften.
"Meine Marie versucht gerade, schwanger zu werden. Ihr Verlobter Robbie arbeitet auch hier. Als Koch. Er ist ein ganz anständiges Bürschle und ich bin mir fast schon sicher, dass ich bald Oma sein werde."
"Das freut mich sehr zu hören, Margarete." Das Lächeln auf meinen Lippen erstarb. Wie schön musste es sein, ein normales Leben mit normalen Problemen leben zu dürfen. Ganz ohne Feuerkräfte und fiese Schurken, die die Weltherrschaft an sich reißen wollten. "Ich weiß noch nicht einmal, ob ich überhaupt Kinder haben möchte. Und ob ich sie überhaupt in diese Welt setzen will."
"Ach, Kindchen. So jung und so verbittert..."
Bevor Margarete ihren Satz zu Ende sagen konnte, bogen wir in einen Raum ein, der stark an eine Großküche erinnerte. Zig Elektrogeräte glänzten in silbrigem Metall mit den Schränken um die Wette. Die weißen Fließen an den Wänden und am Boden erinnerten an die Waschküche, in der mein Opa vor seinen Leiden ab und zu erlegtes Wild ausgenommen hatte. Doch all das war es nicht, was mein Herz in die Hose rutschen ließ.
Eine Frau mit rotblonden Locken stand mit dem Rücken zu mir an einem der Unterschränke. Sie trug ein rotes Kleid, welches sich sanft um ihre Kurven schmiegte. Das Geräusch eines Messers, welches auf ein Holzbrett traf, war mitsamt eines fröhlichen Summens das einzige Geräusch, das durch den Raum hallte. Es erinnerte mich stark an meine Oma, die genau dieselbe Angewohnheit bei der Zubereitung von Essen hatte. Ich schluckte.
Wie sehr ich mich heute Morgen doch geirrt habe.
"So, Kindchen. Hier wären wir. Kann ich dich allein lassen?"
Kurz zuckte ich zusammen. Dass Margarete mich in diesen Raum geführt hatte, war mir vollkommen entfallen. Bevor ich zu einer Antwort ansetzen konnte, hörte ich, wie der Laut ihrer Schritte immer leiser wurde. Das Geräusch von Klinge auf Holz war verstummt. Wie in Zeitlupe blickte die Frau vor mir in meine Richtung.
Obwohl es für mich keinen Zweifel daran gegeben hatte, wer die Person vor mir war, war es eine gänzlich andere Sache, die Gewissheit zu haben. Vor mir stand nämlich niemand geringeres als Sophia Rosso, geborene Winter. Meine tot geglaubte, wiederauferstandene Mutter.
"Cassandra", entfuhr es ihren rotgeschminkten Lippen. Wie ein Windhauch streifte dieses Wort mein Gehör und hinterließ eine Gänsehaut der Erschütterung. Mit der Hand fuhr ich mir durchs offene Haar, nur um irgendeine Beschäftigung zu haben. Seitdem ich in dieser Schneehölle erwacht war, hatte ich geahnt, dass dieser Moment irgendwann kommen würde. Doch hatte ich nicht damit gerechnet, dass er an diesem Morgen sein würde, der doch so gut begonnen hatte.
Tränen glänzten in Sophias bernsteinfarbenen Augen, die einen Ticken dunkler schienen als meine eigenen. Ihre Mundwinkel zuckten, so als könnte sie nicht entscheiden, ob ein Lächeln oder ein Schluchzen in dieser Situation angebracht sein würde. Doch die Antwort war: Nichts war in dieser Situation angebracht. Sie verkürzte den Abstand zwischen uns um einen Schritt.
"Wenn du bereit dazu bist, zu reden, sind wir für dich da."
Ihre Stimme klang weich. Engelsgleich. Sie war viel höher als meine eigene und mit unerfüllten Versprechen getränkt. Ihre Worte waren diplomatisch gewählt. Genauso wie der Abstand, der uns voneinander trennte. Wenigstens gab sie mir die Freiheit, selbst zu entscheiden, ob ich bereit für dieses Treffen war. Und ehrlich gesagt sträubte sich alles in mir gegen eine Unterredung mit ihr. Es war nicht die Angst vor dem Ungesagten, die mich zurückhielt. Vielmehr hatte ich die Befürchtung, dass irgendwelche tief verborgenen Hoffnungen an die Oberfläche gelangen und ungeahnten Kummer ans Tageslicht befördern würden. Doch wenn ich ehrlich zu mir selbst war, würde ich vermutlich nie wirklich bereit dazu sein, die Büchse der Pandora zu öffnen. Mein Entschluss stand fest.
Ich gönnte mir einen tiefen Atemzug und trat auf die Frau zu, deren Blick mich unentwegt fixierte. Meine Stimme war tiefer als sonst, als ich fragte: "Warum habt ihr bis zu meinem 21. Geburtstag mit der Hiobsbotschaft gewartet? Und jetzt sag mir nicht, dass ihr mich beschützen wolltet. Vielleicht konntet ihr Oma und Opa täuschen. Vielleicht auch alle anderen um euch herum. Aber mich nicht. Meine Fähigkeiten hätten schon viel früher ans Tageslicht kommen und alles und jeden um mich herum zerstören können. Also... Warum habt ihr so lange gewartet?"
Ihre Augen blickten gen Boden. Ihr Mund öffnete sich. Doch keine Worte wollten daraus entrinnen. Gerade als ich sie daran erinnern wollte, dass ich ihre Gedanken nicht lesen konnte, erwiderte sie: "Michails 25-Jahres-Plan."
Ich runzelte die Stirn.
"Wie bitte?"
"Hat dir Lian nicht davon erzählt?"
Ein abschätzendes Lachen entrang meiner Kehle.
"Natürlich nicht."
Schließlich erzählt mir hier keiner irgendetwas, ergänzte ich in Gedanken und konnte nicht verhindern, dass meine Augen genervt zur Decke sahen.
"Vielleicht solltest du es dir in Ruhe in dem Reisetagebuch durchlesen, welches..."
"Oh nein!" Ich trat einen Schritt näher auf die Frau zu, die einst ein besseres Spiegelbild meiner Selbst gewesen wäre. "Du sagst es mir mitten ins Gesicht! Und zwar hier und jetzt!"
Sie schluckte und blickte erneut zu Boden. Ihre Hand fuhr durch die perfekten, rotblonden Locken. So wie meine es tat, wenn ich nicht wusste, was ich als nächstes tun sollte.
"Möchtest du dich nicht lieber...?", begann sie, hielt jedoch nach einem Blick zu mir inne.
"Fang einfach an."
Sie gönnte sich einen tiefen Atemzug, bevor sie mit einem Seufzen begann:
"Als ich deinen Vater kennenlernte, wusste ich, genauso wie du damals in Sizilien, nichts von der Existenz dieser Parallelwelt. Während ich als Haushälterin auf sein Haus aufpasste, arbeitete dein Vater im Geheimen als Anwalt für Michail. Deshalb war er zu der Zeit auch kaum Zuhause gewesen. Keiner, insbesondere Gabriel, wusste von dem wahren Grund, wieso er fortgereist war. Denn keiner durfte zu der Zeit von seiner eigentlichen Tätigkeit als Michails Anwalt erfahren."
Meine Augen weiteten sich. Obwohl ich mit allem gerechnet hatte, überraschte mich dennoch diese Aussage. Entweder bedeutete es, dass mein Vater, wenn auch vor langer Zeit, Anhänger von Michail gewesen war. Oder dass er, genauso wie augenscheinlich Lian, als Spion fungiert hatte. Ehrlich gesagt gefiel mir keine der beiden Möglichkeiten besonders gut.
"Dein Vater hatte einen hohen Stellenwert bei Michail inne, doch selbst dies verschaffte ihm nicht das Wissen, das wir heute über ihn haben."
Ich sah dabei zu, wie sich ihre Zähne in die Unterlippe bohrten.
"Eines Tages war dein Vater etwas zu früh dran und belauschte ein Gespräch zwischen Lian und Michail. Er hörte, wie sie über das Phönixprojekt sprachen. Wie Michail Lian als seinen führenden Genetiker nach den Möglichkeiten des Projekts aushorchte. Natürlich kannte dein Vater das Phönixprojekt vom Hörensagen. Jeder wusste von dem Phönixprojekt. Doch keiner hatte es überhaupt in Erwägung gezogen, dass diese abscheulichen Praktiken immer noch stattfanden. Michail jedoch hatte andere Pläne."
Sie trat einige Schritte zurück, bis sie ihre Hände auf dem Tresen abstützen konnte.
"Seine Pläne nach mehr Ansehen und Macht hatten bereits damals Form angenommen. In dem Gespräch damals fragte Michail Lian, wie lange es seiner Meinung nach dauern würde, bis das Phönixprojekt nach der Reaktivierung endlich Früchte tragen würde. Lians Antwort darauf war 25 Jahre, wenn man die Zeugung, Aufzucht, die Tests und so weiter miteinbezog."
Ich spürte, wie sich die Magensäure an die Oberfläche kämpfen wollte, als die Bedeutung ihrer Worte bei mir ankam. Dass sie derart gleichgültig darüber sprechen konnte, bescherte mir erneut eine Gänsehaut.
"Seit Beginn war Michails totale Machtergreifung als ein langfristiges Projekt geplant. Denn nur der Erfolg des Phönixprojekts würde Michail nicht nur Einfluss geben, sondern auch eine Streitkraft wie keine andere. Man wusste bereits zu der Zeit, dass wenige solche Kinder außerhalb des Phönixprojekts existierten. Kinder zwischen Langlebigen und Sterblichen. Zuvor hatte man sie einfach geduldet. Sogar vollkommen ignoriert. Doch Michails nächste Anweisung ließ nicht lange auf sich warten. Ausnahmslos alle diese Hybride sollten zu ihm gebracht und aktiv für die Umwandlung vorbereitet werden."
Und natürlich gehorchten ihm alle ausnahmslos wie rückgratlose Gespenster und lieferten ihre Kinder aus...
Auch wenn dieser Gedanke nicht mehr als ein grauenvoller Witz sein sollte, konnte ich mir gut vorstellen, dass dies leider gar nicht so weit hergeholt war.
"Als ich deinem Vater mitteilte, dass wir schwanger waren, war er außer sich. Wie konnten wir ein Kind in diese Welt setzen, wenn Michail es für seine abartigen Experimente missbrauchen würde? Was sollten wir nur tun?" Sie atmete tief ein und aus. "Es gab nur einen Ausweg."
Eine Abtreibung - oder Verhütung, damit so etwas gar nicht erst passiert, ergänzte ich in Gedanken und schmunzelte. Das wäre im Nachhinein vermutlich das einzig Richtige gewesen.
"Marco wandte sich an Lian und bat ihn um Hilfe."
"Wie bitte?", stieß ich hervor. Mein Herz raste. "Woher wusste er denn, dass Lian nicht auf Michails Seite ist und euch bei der nächsten Gelegenheit verrät?"
"Wir wussten es nicht. Es war nur eine Vermutung deines Vaters."
Ein humorloses Lachen entwich meiner Kehle. Das wurde ja immer besser.
"Na schön. Fahr bitte fort!", ermunterte ich sie, obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich den Rest noch hören wollte.
Ich spürte, dass die Frau vor mir noch etwas zu meiner Anmerkung beitragen wollte. Doch sie war klug genug, sich ihre Kommentare für einen anderen Zeitpunkt aufzusparen.
"Es stellte sich heraus, dass Lian ebenfalls nicht sonderlich begeistert von Michails Plänen war und uns Unterstützung bei unserem Vorhaben zusicherte. Ich flog nach Deutschland. Noch hatte keine Kontaktperson Michails von der Verbindung zwischen mir und deinem Vater Wind bekommen, weshalb es ein Leichtes war, den Kindsvater geheim zu halten."
Waren meine Großeltern deshalb so schlecht auf meinen Vater zu sprechen gewesen? Weil sie schlicht und einfach nicht so viel über ihn gewusst hatten? Dies ergab jedenfalls Sinn.
"Währenddessen planten wir die nächsten Schritte. Ich wusste, dass du in der Obhut meiner Eltern sicher sein würdest. Bis du das 21. Lebensjahr erreichen und aus dem Radar Michails verschwinden würdest. Bis die Zeit endlich reif sein würde."
"Reif wofür?"
"Um Michail gemeinsam mit uns zu stürzen."
Ich runzelte die Stirn. Sie hatten die gesamte Zeit geplant, mich in diese grauenvolle Welt einzuweihen? Die Fragezeichen tummelten sich nur so in meinem Kopf.
"Und warum dann dieses ganze Theater? Warum sollte ich erst nach Sizilien fliegen, Gabe und den anderen begegnen? Warum habt ihr nicht einfach an der Tür geklopft und mir... uns das ganze Theater erspart?"
"Wir wollten auf Nummer sicher gehen, dass keiner um dich herum von deinen... Umständen erfährt. Und unser Haus in Sizilien war einfach die bessere Wahl. Noch als du in meinem Bauch warst, hat Lian deine DNA untersucht und wir wussten, dass du etwas ganz Besonderes sein würdest."
Vielleicht war ich altmodisch zu glauben, dass Eltern ihre Kinder aus einfachen Gründen als etwas Besonderes ansehen konnten. Schließlich hatte ich in ihrem Brief, als sie genau das über mich gesagt hatten, niemals daran gedacht, dass sie damit meine besondere DNA meinen würden. Und nicht mich selbst. Kurzzeitig blieb mir die Luft zum Atmen weg, doch Sophia setzte fort.
"Ich war es, die während deiner Sizilienreise das Reisetagebuch im Keller hinterlassen hat."
Die gesamte Zeit hatte ich gedacht, ich sei verrückt geworden.
"Wir dachten, dass dir die Lektüre dessen helfen würde. Dass es einfacher für dich sein würde, es aus einem Buch zu erfahren als von deinen tot geglaubten Eltern."
Tja... falsch gedacht, würde ich sagen.
"Und dann wurde es kompliziert." Sophia seufzte. "Wir hatten einfach nicht mit deiner vorzeitigen Abreise aus Sizilien gerechnet. Wir dachten..."
Ich hatte genug gehört.
"Was? Dass ich bis zum bitteren Ende durchhalte? Dass ich einfach so, ohne Murren, eine neue Welt akzeptiere? Dass ich selbst lerne, meine Fähigkeiten zu kontrollieren und damit zu leben? Dass ich in Sizilien bleibe und euch, einfach mir nichts dir nichts, bei einem Kampf unterstütze, der nicht mein eigener ist? Im Planen seid ihr wohl nicht sonderlich gut!"
Sophia blieb stumm. Ich war wohl nicht die Einzige, die fand, dass sie genug zu diesem Thema gesagt hatte. Die angestaute Luft entließ ich mit einem langsamen Stoß.
"Es spielt jetzt auch keine Rolle mehr. Michail hat mich vor euch gekriegt und für seine Pläne missbrauchen wollen." Das Atmen fiel mir erheblich schwerer. "Was ist nach meiner Geburt passiert?"
Dieses Mal nahm Sophia sich Zeit, bevor sie zu einer Antwort ansetzte.
"Lian schwärzte Marco wegen anderer, gefälschter Beweismittel bei Michail an und sicherte sich damit sein langfristiges Vertrauen. So konnte Lian in den letzten Jahren immer an Michails Seite bleiben und von Innen heraus agieren. Entschuldige, ich schweife ab..."
Wieder folgte eine Pause, bevor ihre samtene Stimme die Stille brach.
"Es war schon immer Michails feige Art, seine Geschäfte geheim und von anderen erledigen zu lassen. Und ein Flugzeugabsturz, in dem sein untreuer Anwalt unterwegs sein würde, kam ihm geradezu gelegen."
"Moment einmal...!"
Fassungslos schnappte ich nach Luft.
"Das heißt, ihr wusstet von vornherein, dass über 150 unschuldige Passagiere ihr Leben lassen würden? Und ihr habt das einfach zugelassen?"
"Unser Ableben musste einfach echt wirken."
Die Frau vor mir blieb vollkommen ruhig. Nicht ein Anzeichen darauf, dass dieser Umstand sie irgendwie bewegte oder interessierte. Umso mehr brodelte es in mir.
"Das heißt also, dass du nicht nur dein eigenes Baby für die größere Sache geopfert hast. Sondern auch gleich 150 unschuldige Menschen. Das ist natürlich sehr heroisch."
"Weißt du was, Cassandra?"
Sophia überbrückte den Abstand zwischen uns und baute sich vor mir auf, wie es mein Opa tat, wenn er wütend auf mich war.
"Werde du erst einmal Mutter in den entsprechenden Umständen, bevor du über mich urteilst! Es ist nicht immer alles Schwarz und Weiß! Und weiß Gott, das war es auch damals nicht."
Wenn sie dachte, dass sie mich damit beeindrucken konnte, lag sie falsch. Stattdessen blickte ich geradewegs in ihre glänzenden, bernsteinfarbenen Augen. Jegliche Emotionen waren mir abhanden gekommen.
"Ich danke dir für deine Offenheit, Sophia. Ob du es glaubst oder nicht: Diese Abwechslung ist wirklich erfrischend. Dann lass mich genauso offen zu dir sein." Ich trat einen Schritt zurück. "Du... ihr... seid keinen Deut besser als Michail. Ich hoffe, dass euch das bewusst ist."
Der Mund meiner Mutter klappte auf, während ihre geweiteten Augen in meine blickten. Tränen glänzten in ihren Fenstern zur Seele und verpassten mir einen ungewollten Stich ins Herz. Genauso gut hätte ich ihr eine Ohrfeige verpassen können.
Vielleicht war es ungerecht von mir gewesen, sie derart zu verurteilen. Vielleicht, wenn auch nur ein kleines Bisschen, konnte ich verstehen, wieso sie so gehandelt hatten. Doch dieses Vielleicht reichte nicht aus, dass ich mich ihr wohlgesonnen gegenüber zeigen wollte. Bevor ich es mir anders überlegen konnte, machte ich kehrt.
Wie oft hatte ich mir als Kleinkind vorgestellt, wie das erste Gespräch mit meinen Eltern ablaufen würde? Im Himmel würden sie mich umarmend begrüßen und mich vor allem Bösen beschützen. Oder eines Tages würde ich die Treppe heruntergehen und meine Mutter in der Küche einen Kuchen backen sehen. So viele Vorstellungen. Doch die Realität hatte nichts mit solchen Fantasien gemein. Ganz gleich, wie ich mir dieses Treffen zuvor ausgemalt hatte: So sicherlich nicht.
Seit einer gefühlten Ewigkeit wusste ich nicht, wohin ich sehen sollte. Die handbemalte Deckenplatte des Bettes hatte ihren Reiz verloren. Die Rankenmuster in den teuren Vorhängen um das Bett herum hatte ich bereits in Gänze verinnerlicht. Selbst die Schnitzereien in den Kirschholzmöbel hatten ihren Charme verloren. Alles in diesem Zimmer war in irgendeiner Weise rötlich angehaucht, was es mir erschwerte, das Bild von Sophia aus meinem Kopf zu verbannen. Langsam spürte ich den Würgereiz in mir aufsteigen und ich war mir sicher, dass dies nicht unbedingt mit meinem knurrenden Magen zusammenhing.
Ein Klopfen an der Tür riss mich aus meinen Gedanken. Doch ich dachte gar nicht erst daran, zu antworten.
"Cassie? Das Tablett wird langsam echt schwer", hörte ich eine engelsgleiche, von der geschlossenen Tür gedämpfte Stimme zu mir durchdringen. Wider Erwarten schlich sich ein Schmunzeln auf meine Lippen, als ich an die feenhafte Kreatur dahinter dachte, die ganz und gar nichts mit der Farbe Rot gemein hatte. Mit einem Satz ging ich zur Tür und öffnete diese.
Ilvy hatte nicht gelogen. Das überdimensional große Silbertablett passte geradeso durch den Türrahmen und erfüllte den Raum binnen Sekunden mit dem Duft von frisch gebackenen Pancakes und geschnittenem Obst. Ilvy hastete an mir vorbei, nur um das beladene Tablett mit einem Grinsen auf meinem Bett abzustellen.
"Ich dachte, dass es vielleicht eine gute Idee wäre, dir beim Frühstück Gesellschaft zu leisten."
Oder mich dazu zu zwingen, etwas zu essen, wolltest du wohl eher sagen.
Ich verschränkte meine Arme. Es war unmöglich zu sagen, wer sie zu diesem Besuch angestiftet hatte. War es meine ach so fürsorgliche Mutter gewesen? Oder doch der Mann, der Versprechen nicht so ernst zu nehmen schien und immer noch krankhaft versuchte, einen Beschützer für mich abzugeben? Ich seufzte. Es war mir schlicht und einfach egal. Ein Blick in Ilvys herzliches Gesicht genügte. Ich konnte ihr nicht sauer sein, nur weil sie eine der Wenigen war, die sich ehrlich um mich sorgte.
Ich betrachtete ihr von langen, hellblonden Haaren umrahmtes Gesicht. Erstaunt stellte ich fest, dass von der einstigen Kindlichkeit darin nicht mehr viel übrig war. Ihre rötlichen, vollen Lippen hatten einen sinnlichen Zug bekommen. Ihr Gesicht war kantiger, entschlossener. In diesem Licht wirkten ihre Augen beinahe grau und weise. Rosige Wangen, die einst blass wie Papier gewesen waren, zeigten mir, wie sehr sie an diesem Ort über sich hinauszuwachsen schien. Vor mir stand kein eingeschüchtertes Mädchen mehr. Vor mir stand eine Frau, die sehr gut für sich selbst und ihre Liebsten einstehen konnte.
"Du bist ein echter Engel, weißt du das?", entfuhr es mir.
Das Rosa in ihren Wangen wurde noch intensiver, was mir ein leichtes Schmunzeln entlockte. Es war derart leicht, sie in Verlegenheit zu bringen. Ilvy räusperte sich, bevor ihre Augen wieder die meinigen fanden.
"Möchtest du reden, Cassie?"
Das Bild von Dimitris Arm um ihre Schultern kam mir in den Sinn und erinnerte mich daran, dass sie nicht die Einzige war, die vielleicht noch unbeantwortete Fragen offen hatte. Doch für den Moment würde ich es dabei belassen. Um unser beider willen.
"Nein, nicht wirklich."
Ich setzte mich auf das Bett und widmete mich vollkommen dem Essenstablett vor mir. Schon lange hatte ich nicht mehr solch ein wundervolles Frühstück vor mir erblickt. Die duftenden Pancakes waren nicht die Einzigen, die es auf das Tablett geschafft hatten. Eier, Käse, Speck, Aufschnitt, Brötchen, Brot, und Marmelade besetzten das gesamte Tablett, weshalb es nicht verwunderlich war, dass Ilvy mit dessen Gewicht zu kämpfen gehabt hatte. Ich nahm mir einen der Teller und platzierte den obersten, noch warmen Pancake darauf. Meine Augen fanden ein Messer. Ich begann, damit etwas von der Marmelade auf dem Pancake zu verteilen, als sich eine Hand auf meine legte. Mein Blick fand den Ilvys. Ihre Augen funkelten mit ihren weißen Zähnen um die Wette.
"Ich habe dich..." Sie blickte zu unseren Händen hinab, nur um daraufhin wieder zu mir zu blicken. "... das wirklich vermisst."
Dieses Mal war ich es, die die Wärme in meine Wangen aufsteigen spürte. Ein Lächeln legte sich auf meine Lippen, als ich in ihre blauen und doch so warmen Iriden blickte.
"Ich auch."
Binnen Sekunden änderte sich etwas. Ilvy fing an, auf dem Bett herumzurutschen. Außerdem war da dieses Funkeln, welches ich schon lange nicht mehr an ihr gesehen hatte.
"Was denn?", fragte ich und lehnte mich näher zu ihr heran.
"Ich habe eine grandiose Idee! Erst einmal gehen wir uns schön auspowern, bis uns mindestens die Arme abfallen. Und dann machen wir uns einen schönen Mädelstag. Mit Sekt und ganz vielen Disney-Filmen. Ohne viel Gequatsche, versprochen! So wie wir uns das immer gewünscht haben!"
Sie klatschte in ihre Hände, als wäre es bereits beschlossene Sache. Ich spürte, wie sich meine Mundwinkel immer weiter nach oben bewegten, bis sie die volle Streckung erreichten.
"Oh, das ist eine tolle Idee, Ilvy! Ich werde gleich Suz fragen, ob sie ihren weltbesten Tacco-Salat zaubern kann." Noch bevor ich den Satz beendet hatte, wich die Begeisterung in Ilvys Gesicht einer anderen Emotion, die ich nicht recht deuten konnte. Vorsichtig fügte ich hinzu: "Ist es denn für dich in Ordnung, wenn ich Suz auch frage? Weißt du, ich habe sie sehr lange nicht gesehen und..."
"Aber natürlich! Das wird sicherlich schön!", plapperte sie herein. Das strahlende Lächeln war wieder zurückgekehrt, als wäre nie etwas gewesen.
Auch wenn ich mir ebenfalls ein Lächeln abgewinnen konnte und mich ebenso wie Ilvy auf einen entspannten Abend freute, blieb nach ihrer Reaktion doch ein komisches Gefühl zurück.
Hallo ihr Lieben,
in den letzten Tagen ist so vieles passiert. Eine meiner Kurzgeschichten ist in einem richtigen Buch erschienen (siehe "Neuigkeiten"-Link in meiner Bio). Ich habe euch mein Pseudonym preisgegeben. Und der NaNoWriMo ist in vollem Gang. Außerdem steht noch ein weiteres Projekt in den Startlöchern, welches ich euch schon sehr bald präsentieren werde... 😍
Bis dahin hoffe ich, dass ihr Spaß mit diesem Kapitel hattet und würde mich sehr über euer Feedback freuen. Egal ob hier, oder auf Instagram, oder auf meiner Webseite 🤗
Mich würde interessieren: Was ist eure Meinung zu Cassies Mutter? Könnt ihr ihre Entscheidung nachvollziehen? Habt ihr solch eine Begründung erwartet?
Eure Kat ❤️
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