Kapitel 23
Der Gang vom Frühstücks- zum Unterrichtsraum stimmte mich heute äußerst freudig. Auch wenn das Gefühl der Freude noch lange nicht mit der Freude zu vergleichen war, die ich einst in meinem früheren Leben empfunden hatte, war es doch etwas Schönes, dieser Hölle etwas Positives abgewinnen zu können. Heute war wieder Körperkontrolle mit Lian an der Reihe und ich war bereits aufs Äußerste gespannt, was wir dieses Mal durchnehmen würden. Mit jedem weiteren Tag, an dem ich Lians Anweisungen folgte und die Techniken, die er uns beibrachte, verinnerlichte, spürte ich, wie die Kontrolle stetig über meinen Körper und die damit einhergehenden Emotionen wuchs. Wut, Hass und Enttäuschung begleiteten mich weiterhin tagtäglich, doch es war ein berauschendes Gefühl, zu wissen, dass ich jegliche Emotionen hinunterfahren konnte, wenn ich es nur wollte.
Als ich den Unterrichtsraum betrat, war das Erste, was mir auffiel, dass die gesamten Tische und Stühle an die Seite gerückt worden waren. So blieb uns allen nichts anderes übrig, als uns im Raum zu verteilen und auf die Anweisungen von Lian zu warten. Er selbst saß bereits an seinem Pult, der nicht verrückt worden war, und vertiefte sich gänzlich in der Lektüre eines alt wirkenden Buches.
Doch selbst nach einigen Minuten der vollkommenen Stille hatte Lian nicht mal ansatzweise gezeigt, dass er uns registriert hatte. Ich war nicht die Einzige, die bereits ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat. Deshalb wunderte es mich auch nicht, als Logan sich laut räusperte. All unsere Blicke waren auf Lian gerichtet, der langsam von seinem Buch aufblickte und die Brille von seiner Nase gleiten ließ.
"Manche sagen, dass Ungeduld eine Sünde ist."
Langsam erhob er sich und schaute im Raum umher. Noch hatte er keinen einzigen Blick in unsere Richtung verschwendet, musterte stattdessen die Plakate an den Wänden, als würden sich dahinter besondere Schätze verbergen.
"Ich persönlich bin der Meinung, dass Ungeduld unnötig ist. Die meisten Dinge brauchen ihre Zeit, um sich zu entwickeln."
Mittlerweile war er vor dem Pult angekommen und lehnte sich an. Die Brille, die Lian in der Hand gehalten hatte, legte er langsam auf den Tisch, nur um einem jeden von uns daraufhin einen forschenden Blick zu schenken.
"Außerdem hätte jemand, der klug ist, diese nun vergeudete Zeit genutzt, um bereits die Atemtechniken zu wiederholen, die wir letztes Mal geübt haben."
Mein Blick wanderte zum Boden, als das Ausmaß seiner Worte zu mir durchdrang. Obwohl er es nicht explizit gesagt hatte, war die Enttäuschung in seiner Stimme kaum zu überhören. Sofort kam die Erinnerung von meinem letzten Gespräch mit meinem Opa hoch, welches genau das Gleiche in mir hervorgerufen hatte. Ich spürte, wie meine Hände sich langsam zu Fäusten ballten und die Emotionen überhand gewinnen wollten. Stattdessen jedoch konzentrierte ich mich auf meine eigene Atmung und den Herzschlag, den ich dumpf in meinen eigenen Ohren vernahm. Erst als sich meine Atmung normalisiert hatte, blickte ich wieder auf. Ich war nicht die Einzige, die die Worte Lians getroffen hatten. Ein jeder meiner Mitstreiter stand da und wusste nicht, wo er hinsehen sollte. Lian hatte es, ganz ohne Geschrei und Drohungen geschafft, uns unter Kontrolle zu bringen, was in mir nur einen Gedanken aufkeimen ließ:
Er ist der geborene Anführer.
Dieses Mal war es Lian, der sich räusperte, um unsere Aufmerksamkeit vollends wieder zu gewinnen.
"Heute möchte ich einen Schritt weitergehen."
Als wollte er seine Aussage unterstützen, setzte er einen Fuß vor den anderen.
"Die zuvor gelernten Atemtechniken werden wir weiterhin nutzen, um die Energie kontrolliert durch unseren gesamten Körper fließen zu lassen, während wir unterschiedliche Körperstellungen ausprobieren werden. Dabei ist es insbesondere wichtig, stets auf eure innere Stimme zu hören und, komme was wolle, die Kontrolle zu behalten."
Ein spöttisches Ächzen ertönte neben mir. Überrascht drehte ich den Kopf zu meiner linken Seite, nur um in das verzerrte Gesicht von Logan zu sehen.
"Möchtest du uns etwas mitteilen, Logan?", fragte Lian unbeeindruckt. Vielmehr schien ihn Logans Reaktion zu amüsieren. Seine Mundwinkel zuckten verdächtig.
Logan selbst schien das nicht geheuer, da ich ihn laut schlucken hören konnte. Deshalb überraschte es mich umso mehr, als er erneut Worte an Lian richtete: "Nur, wenn ich frei reden darf."
Lians Augenbraue hob sich, während das Schmunzeln auf seinem Gesicht nun deutlich erkennbar war.
"Nur zu."
Logan holte einmal tief Luft, bevor er sich in einer Litanei aus Worten verlor: "Das, was du uns da beibringst, ist vollkommener Schwachsinn. Wir sollen auf unsere innere Stimme hören? Was soll das überhaupt bedeuten?"
Lian ließ sich von Logan nicht aus der Ruhe bringen. Stattdessen schien er tief in die Seele von Logan zu blicken, ohne ein Zeichen von sich zu geben, was er wirklich empfand. Stumm lieferten sie sich ein Duell der Extraklasse aus, das schnell ein Ende fand, als Logan schluckte und wieder zu Boden sah. Dies schien Lian schlussendlich dazu zu bewegen, das Wort erneut an ihn zu richten.
"Wenn du das so siehst, Logan, dann möchte ich dich nicht länger hier festhalten."
Ein Raunen ging durch die Menge, während ein jeder von uns überrascht zu Lian sah. Auch Logan schien nicht recht glauben zu können, was er gerade gehört hatte.
"Was... wie ist das gemeint?"
Ich konnte nicht leugnen, dass ich mehr als alles andere gespannt auf die Antwort von Lian war, für die er sich wieder etwas mehr Zeit ließ als unbedingt nötig.
"Jeder von euch, der der Meinung ist, dass ihn diese Art von Unterricht nicht weiterbringt, kann gerne gehen."
Als wollte er seine Aussage unterstreichen, schlenderte er entschlossenen Schrittes auf die Tür zu, die er ohne Weiteres öffnete. Die Lakaien hinter der Tür waren sofort zur Stelle und wollten den Raum betreten, doch Lian hielt sie davon ab und geleitete sie, nach ein paar gewechselten Worten, wieder hinaus. Als Logan dieses Mal sprach, war seine Stimme leise und voller Zweifel.
"Das ist doch ein Scherz. Da stehen sicherlich Michail und Karina hinter der Tür und warten auf uns."
Obwohl Logan sein Bestes getan hatte, seine Stimme ruhig zu halten, so hatte Lian doch gehört, was er gesagt hatte. Seine Augenbrauen zogen sich kaum merklich zusammen, als er sagte: "Ich brauche die beiden nicht, um meine eigenen Entscheidungen zu treffen. Mir ist es sowieso lieber, wenn man meinem Unterricht folgt, als unkonzentriert und gelangweilt hier zu verharren."
Lians Augen streiften einen jeden von uns und blieben schließlich an mir hängen. Sofort spürte ich das Verlangen, ebenfalls schlucken zu müssen, als sein Blick mich durchbohrte.
"Wenn ich also sage, dass ihr ohne Weiteres gehen könnt, dann meine ich es auch so."
Selbst wenn ich es versucht hätte, konnte ich mich einfach nicht Lians Blick entziehen, dessen fast schwarze Augen nichts über seine Gedanken preisgaben. Erst als Logan wieder zu Worten fand, konnte ich den schwarzen Tiefen entfliehen, die sowohl Abgrund als auch Zuflucht darstellen konnten.
"Na schön. Dann werde ich mal verschwinden."
Demonstrativ ging Logan auf die Tür zu, die immer noch offen stand.
"Möchte sich jemand von euch Logan anschließen?", fragte Lian in die Runde. Immer noch ließ er nicht hinter seine Fassade blicken, versteckte seine wahren Absichten hinter einer Mauer aus Granit.
Erneut sah ich die anderen Mitstreiter an, die sich ebenfalls gegenseitig musterten. Als Samantha mit einem Lächeln aus der Menge trat und auf Logan zu ging, spürte ich, wie mein Herz einen Schritt aussetzte.
Die können doch nicht, nach all dem, was hier passiert ist, wirklich glauben, dass das ohne Konsequenzen bleiben wird!
Nach Samantha wagte es niemand, die Gruppe zu verlassen, weshalb Lian an die Lakaien gerichtet sagte: "Geleitet die beiden zurück zu ihren Gemächern."
Bei den Worten rutschte mir das Herz in die Hose. Obwohl es mir wirklich schwer fiel, Mitleid mit den beiden zu haben, so konnte ich doch nicht leugnen, dass ich mir Sorgen machte. Das erste Mal, seitdem ich hier war und den Unterricht besuchen durfte, waren wir weniger als sieben Personen. Nur noch Ilvy, Dorian, Kamal, Dimitri und meine Wenigkeit waren übrig geblieben und musterten Lian, als wäre er das größte Mysterium der Welt.
Irgendetwas hatte sich verändert. Ob es nur an Lian lag oder an der Tatsache, dass unsere Gruppe zwei Mitglieder verloren hatte, konnte ich nicht greifen. Doch wenn ich auf das vertrauen konnte, was Lian zu Beginn des Unterrichts gesagt hatte, dann würde ich das bald erfahren. Ich musste mich nur in Geduld üben.
Am Ende des Unterrichts spürte ich jede einzelne Faser meines Körpers, als hätte ich ungeübt einen Marathon absolviert. Immer wieder unternahm ich den Versuch, meine Muskeln zu lockern, doch es schien nichts zu helfen. Ich konnte nicht genau sagen, wie lange wir in den jeweiligen, mehr als unbequemen, Körperpositionen hatten verharren müssen, doch es war auch nicht notwendig. Die Lektion, wie schwer es tatsächlich war, die Kontrolle über sich selbst zu behalten, hatte ich verinnerlicht. Nur ein starker Wille und die richtige Technik konnten einen dazu bringen, über sich selbst hinaus zu wachsen.
Der Schweiß perlte mir immer noch von der Stirn, als ich mich mit den übrig gebliebenen Mitstreitern zum Ausgang des Raums aufmachte. Noch bevor ich am Pult von Lian ankam, wurde ich von eben diesem zurückgehalten, als er, an die Kolosse gewandt, richtete: "Lasst Cassandra hier. Ich muss noch etwas mit ihr besprechen."
Meine Augen weiteten sich, als ich den anderen Mitstreitern hinterher blickte, von denen mir Ilvy und Dorian ebenfalls einen neugierigen Blick zuwarfen. Die Kolosse selbst schienen auch verwirrt von der Entwicklung der Situation, da sie sich noch keinen Zentimeter fortbewegt hatten.
"Ich bringe sie rechtzeitig zum Mittagessen", fügte Lian hinzu. Ich erwartete bereits, dass sie sich gar nicht mehr fortbewegen würden, doch nach einer gefühlten Ewigkeit setzten sie sich in Bewegung. Ich schrak kurz zusammen, als Lian sich erhob, zur Tür schlenderte und diese hinter sich ins Schloss fallen ließ. Langsam ging er auf mich zu, bis nur noch wenige Zentimeter zwischen uns blieben. Währenddessen taxierte er mich von Kopf bis Fuß, was mir eine ungewollte Gänsehaut verschaffte.
"Seit unserem ersten Aufeinandertreffen im Krankenzimmer hast du dich verändert."
Es überraschte mich, dass bei seiner Bemerkung sofort Gabes Gesicht vor meinem inneren Auge aufstieg. Schließlich war Lian nicht der Erste, der den Kommentar bezüglich meiner Veränderung an mich richtete. Die Wut, die wieder meinen gesamten Körper einnahm, führte schließlich dazu, dass ich den lang vergessenen Sarkasmus wieder für mich entdeckte.
"Mh... schon komisch, oder? Dabei werde ich hier doch so gut behandelt."
Seine Mundwinkel zuckten verdächtig und ich dachte tatsächlich, ein Funkeln in seinen Augen erkennen zu können. Doch, wie ich bereits nur zu gut wusste, konnte ich mich auch einfach irren. Dieses Mal wendete ich meinen Blick nicht ab, versuchte eher aus seinen dunklen Tiefen schlau zu werden. Doch ich erkannte einfach gar nichts darin.
"In dir steckt sehr großes Potenzial", flüsterte Lian, was mich einen Schritt nach hinten setzen ließ. Seine Nähe machte mich unfassbar nervös. Dabei wurde ich das Gefühl nicht los, dass dies eine weitere, für mich unverständliche Art war, mich zu testen.
"Trotzdem hängst du noch weit hinterher", fügte er hinzu und wandte sich schließlich wieder der Tür zu. In jeder Sekunde rechnete ich damit, dass diese aufspringen und ein Sonderkommando unaussprechliche Dinge mit mir anrichten würde, obwohl ich dieses Mal überhaupt nichts falsch gemacht hatte. Meine schlimmste Befürchtung wurde jedoch nicht bestätigt. Es blieb einfach nur still, bis sich Lian wieder mir zuwandte.
"Aus diesem Grund möchte ich dir Nachhilfe geben."
Mit allem hatte ich gerechnet. Doch diese Worte überraschten mich so sehr, dass ich ihn einfach nur sprachlos mustern konnte.
Wovon redet er da?
Dass ich im Unterricht weit hinterher hänge und deshalb Nachhilfeunterricht benötigte, war dermaßen an den Haaren herbeigezogen, dass ich noch mehr Angst erhielt.
Was ist hier los?
Schließlich war ich die Letzte, die in diesem Unterrichtsfach zu wenig Fortschritte machte. Erst heute hatte ich wieder gemerkt, wie weit ich den anderen voraus gewesen war. Ich wusste das. Und ich wusste, dass Lian dies ebenso bewusst war.
"Heute Abend nach dem Kampfunterricht werde ich dich erwarten."
Die Worte, die ich ihm daraufhin als Antwort an den Kopf hatte werfen wollen, blieben in meinem Hals stecken, als ich seinen mehr als eindringlichen Blick registrierte. Stumm wartete ich darauf, dass er weitersprach.
"Wenn du aus deinem Zimmer kommst, gehst du nach links. Den ersten Gang, der zu deiner rechten Seite liegen wird, gehst du bis zum Ende entlang. Dort wirst du warten, bis sich ein Aufzug für dich öffnet und einsteigen."
Er griff in seine rechte Hosentasche und holte eine schwarze Box hervor, die er mir reichte. Mit leicht zitternden Händen nahm ich diese entgegen. Die Plastikbox war mit nichts anderem ausgestattet als einer kleinen Diode, die rot leuchtete. Fragend blickte ich zu Lian herauf.
"Das ist eine Art Ortungsgerät, welches anfängt zu vibrieren, wenn sich dir jemand nähert. Du darfst von niemandem gesehen werden."
Ich schluckte und wusste überhaupt nicht mehr, was ich denken sollte. Die einzige Frage, die sich in meinem Kopf herauskristallisierte, war: "Was soll ich Ilvy sagen?"
Dieses Mal schmunzelte Lian, bevor er zu einer Antwort ansetzte.
"Du bist doch kreativ. Denk dir etwas aus."
Mein Blick wanderte abwechselnd von der schwarzen Box zu Lian, während sich in meinem Kopf immer mehr Fragezeichen tummelten. Doch spätestens, als ich das Funkeln in seinen Augen erkannte, wusste ich, dass ich keine Antworten bekommen würde. Jedenfalls nicht hier und nicht jetzt. Trotzdem ließ ich es mir nicht nehmen, die eine, alles bedeutende Frage zu stellen.
"Wie kann ich mir sicher sein, dass das keine Falle ist?"
Lian kreuzte seine Arme übereinander und legte seinen Kopf schief, als er mir die Antwort schenkte, die ich so dringend benötigte.
"Ich fürchte, das kannst du nicht. Mittlerweile müsstest du wissen, dass du nur deinem Bauchgefühl trauen kannst. Also hör auch darauf!"
Einen wunderschönen Tag ihr Lieben,
ob Lian Cassie wirklich Nachhilfe geben will? Oder ist das eine Falle, in die er Cassie locken will? Was meint ihr dazu? 🤔
Nächste Woche werdet ihr es erfahren. Außerdem dürft ihr euch auf viele weitere Antworten freuen 🤗
Ich wünsche euch viele schöne und sonnige Tage. Wir lesen uns bald wieder!
Eure federwunsch ❤️
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