Kapitel 19
Es war bereits einige Minuten her, seitdem Michail und Karina aus der Limousine ausgestiegen waren und mich und Dimitri mit der Hiobsbotschaft zurückgelassen hatten. Obwohl ich endlich die Antwort auf meine Frage, wofür dieses ganze Theater mit dem Training gewesen war, bekommen hatte, hätte ich niemals damit gerechnet, dass ich wieder hier sein würde. In Sizilien. Auf der Hochzeit von Giulia und Akos. Bei Gabe. Mit Michail, Karina und Dimitri im Schlepptau.
Die einzelnen Puzzleteile, die ich die letzten Tage mühsam gesammelt hatte, bildeten schlussendlich ein gesamtes Bild, das zum einen mein Herz beinahe zum explodieren brachte, jedoch auch die Gedanken wild umher kreisen ließ, ohne auch nur einen vollständigen, sinnvollen Satz zu hinterlassen.
Meine Hände taten bereits weh von dem Festkrallen in meine Oberschenkel, um meine Hände ruhig zu stellen. Die Nägel bohrten sich bereits schmerzhaft in das Fleisch unter meinem Kleid, doch das war mir egal. Dies war nur ein weiteres Zeichen dafür, dass ich nicht träumte und wirklich mit Dimitri in diesem Wagen saß. Kalter Schweiß begann bereits vor voller Aufruhr in leichten Tropfen von meinem Kopf herunterzuperlen. Möglicherweise lag dies aber auch daran, dass sich dort die einzigen Poren befanden, die nicht mit einer gefühlten Tonne Makeup oder irgendwelchen Cremes vollgestopft waren, um das Kunstwerk Cassandra perfekt zu machen.
Noch vor wenigen Minuten hätte ich nicht einmal im Traum daran gedacht, einen der Menschen aus meinem vergangenen Leben wiederzusehen. Jetzt, nach so vielen unerträglich langen Tagen voller Schmerz und Drill, sollte ich endlich die Chance bekommen, Gabe wiederzusehen. Obwohl mich dieser Umstand vor Freude hätte in die Höhe springen lassen müssen, gab es da etwas, das ich nicht vergessen durfte. Michail und Karina würden niemals zulassen, dass ich mich in Gabes Nähe aufhielt und irgendeinen Hinweis darauf gab, was sie mit mir anstellten. Wenn es etwas gab, worin ich mir sicher war, dann war es, dass Gabriel Delanotte von dem, was hier passierte, nicht den blassesten Schimmer hatte. Dennoch begriff ich immer noch nicht, was dieser ganze Auftritt mit Dimitri sollte. Gabe würde uns niemals dieses Schauspiel abkaufen. Jedenfalls hoffte ich das. Schließlich musste ich einfach daran glauben, dass Gabe mich besser kannte und dieses Theater durchschauen würde.
Sofort schämte ich mich für diesen Gedanken, als mir das Bild von meinen Großeltern im Einkaufsladen in den Sinn kam, das sich in mein Gehirn eingebrannt hatte. Niemals durfte ich es zulassen, dass ihnen etwas passierte. Der Zwiespalt in mir zerriss mich innerlich. Ich spürte, wie mein Atem sich beschleunigte und sich eine Gänsehaut über meinen Körper legte. Meine Hand legte sich von selbst auf meine Brust, die sich hektisch hob und senkte.
Oh nein.
Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte, war eine Panikattacke, die mir wieder nichts als Schmerzen bringen würde.
Ich muss mich ablenken.
Mein Blick schnellte zu Dimitri, der nichts von meinem inneren Sturm der Gefühle mitbekam. Er selbst war zu sehr damit beschäftigt, mit zitternden Beinen auf seinem Platz zu warten und nach vorne zu starren. Noch nie hatte ich ihn so nervös wie in diesem Moment erlebt, was mich keineswegs beruhigte. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, ob es das erste Mal war, dass er wirklich mal an die frische Luft kam und etwas von der realen Welt erlebte. Doch für Mitleid oder Gedanken diesbezüglich blieb jetzt keine Zeit. Ich hatte gänzlich andere Sorgen.
Ich sprang leicht von meinem Sitz auf, als Dimitri plötzlich in die Stille des Autoinnenraums ein leises "Ja" entließ. Die Verwirrung über diese merkwürdige Aussage blieb jedoch nur kurz bestehen, denn wenige Sekunden später hörte ich Karinas Stimme in meinem Ohr.
"Antworte mir, wenn du mich hörst!"
Obwohl ihre Stimme so ruhig wie immer war, konnte ich dem leichten Zittern entnehmen, dass auch sie sichtlich nervös war.
Vielleicht liegt das ja daran, dass der Erfolg des Plans, wie auch immer dieser genau aussieht, von mir abhängt.
Dieser Gedanke ließ mich für wenige Sekunden vergessen, in welchen Schwierigkeiten ich steckte und ein überlegenes Lächeln auf meinen Lippen erscheinen.
"Klar und deutlich."
"Gut. Cassandra, du gehst vor Dimitri heraus. Und zwar genau jetzt."
Just in diesem Moment wurde die Tür der Limousine geöffnet und die zwei Kolosse, die mich zuvor zum Wageninneren begleitet hatten, erwarteten mich bereits. Dieses Mal war ich tatsächlich froh, als mir einer der Männer eine Hand entgegenhielt, da meine Beine wie Wackelpudding vor sich hin zitterten. Niemals hätte ich es geschafft, in den hohen Schuhen aus diesem Auto zu steigen, ohne mir etwas zu brechen.
Der klimatisierte Innenraum des Autos wich schnell der warmen Außenluft von Sizilien, während das Meeresrauschen mich von allen Seiten begrüßte. Die Sonne war bereits nahe dem Horizont und die Meeresbrise kühlte angenehm meinen erhitzten Körper. Ich spürte bereits, wie sich Tränen in meinen Augen bildeten. Noch immer weigerte ich mich zu glauben, dass ich wieder in der realen Welt hier draußen war. Nur noch einige Schritte entfernt von Gabe, Giulia und meinen anderen Nachbarn aus Sizilien. Ein Blick auf meine linke Seite genügte und ich wusste, in welche Richtung ich gehen musste.
Die Live-Musik und das Murmeln einer großen Menschenmenge war bereits gedämpft zu hören. Hin und wieder hörte ich ein erheitertes Lachen und das Klirren von Gläsern. Nichts deutete auch nur ansatzweise daraufhin, wie grausam die Welt in Wirklichkeit war. Auch ich hatte das Ausmaß der Grausamkeit gerade einmal vor ein paar Wochen richtig begreifen können.
Erst als ich das sanfte Drücken nach vorne in meinem Rücken spürte, setzte ich einen Fuß vor den anderen. Obwohl meine Füße immer noch von den ganzen Tanzstunden schmerzten, musste ich feststellen, dass ich in diesem Moment dankbar war, dass die Schuhe bereits eingelaufen waren. Die Wiese forderte meinen Gleichgewichtssinn ungemein heraus, sodass mein Blick stets auf dem Boden blieb. Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte, war es den Boden mit meinem Körper abzumessen.
Das Gelände, auf dem die Feier stattfand, war von hohen Hecken umsäumt. Der Eingang selbst bestand aus einem Torbogen, der mit Lavendel in Rosa- und Blautönen verziert worden war und einen angenehm blumigem Duft spendete. Mit jedem Schritt, den ich näher an das Tor herantrat, spürte ich, wie mir der Atem stockte. Als ich nach einer gefühlten Ewigkeit endlich durch das Tor getreten war, blieb ich stehen, um die Szenerie in mich aufzunehmen.
An jeder Ecke waren enorme Sträuße von Blumen untergebracht und bildeten das Herzstück dieser Feier. Ich erinnerte mich noch sehr genau an das Thema der Hochzeit, Florale Unschuld, und konnte nicht anders, als diese Kulisse als wunderschön zu empfinden. Auch wenn es für mich eindeutig zu viel Dekoration war, so passte es hervorragend zu Giulia und Akos. Alles wirkte so bunt und lebendig auf mich, das ich mir wünschte, nie wieder etwas anderes zu sehen. Nach den ganzen grauen Betonwänden und blauen Overalls, mir denen ich in letzter Zeit konfrontiert gewesen war, wirkte dieses Bild wie das Paradies auf Erden.
"Ab jetzt folgst du genau meinen Anweisungen. Hast du verstanden? Nicke, wenn es so ist."
Beinahe war es mir gelungen, die Umstände, weshalb ich hier war, zu vergessen, doch Karinas Stimme brachte mich schnell in die Realität zurück. Ich nickte kaum merklich, doch das reichte ihr bereits aus, um weitere Anweisungen zu verteilen.
"Gut, jetzt gehst du..."
Karinas Stimme wurde unterbrochen, als neben mir eine laute Stimme ertönte, die ich überall wiedererkannt hätte.
"Cassie!"
Wie in Trance drehte ich mich langsam zu der Quelle und erkannte Giulia, die auf mich zurannte, so schnell das Kleid es zuließ. Der fließende, roséfarbene Stoff umspielte sanft ihre Figur. Die Blüten, die überall darauf verteilt waren, werteten das schlichte Kleid auf. Dieses Kleid war nicht mehr nur ein Kleidungsstück, sondern ein Teil von Giulia geworden.
Es war genauso schön wie ich es in Erinnerung gehabt hatte.
"Du glaubst gar nicht, wie sehr ich mich freue, dich hier zu sehen."
Ihre grünen Augen strahlten durch das frische Makeup mit den Diamant-Ohrringen um die Wette. Die aufwendig gestaltete Hochsteckfrisur war hin und wieder mit einigen Blüten bestückt worden. Oft schon hatte ich gehört, dass Bräute an dem Tag der Hochzeit ein gewisses Strahlen an den Tag legten, das sonst nie zu sehen war, doch bis zu diesem Moment hatte ich diesen Spruch nie gänzlich verstanden. Jetzt, wo ich Giulia vor mir erblickte und das Glück durch jede einzelne Pore ihres Körpers strahlte, wusste ich, was damit gemeint war. Ab heute begann ein gänzlich neuer Lebensabschnitt in ihrem Leben und nichts und niemand konnte sie an diesem Tag aufhalten.
"Giulia, du siehst einfach nur bezaubernd aus."
Es war kaum mehr als ein Flüstern, das ich hervorbrachte. Noch immer konnte ich nicht ganz glauben, dass ich Giulia vor mir stehen sah. Ihre Lächeln wurde noch breiter.
"Dafür muss ich mich ganz alleine bei dir bedanken!"
Bevor ich überhaupt wusste, was geschah, spürte ich, wie sich schlange Arme um mich legten und fest zudrückten. Der Duft von Giulias süßlichem Parfüm stieg mir direkt in die Nase und erinnerte mich an viele wundervolle Abendessen mit Wein und Gelächter in Sizilien. Meine Hände legten sich ebenfalls um Giulias Körper und drückten fest zu. Die Tränen, die ich zuvor so tapfer verdrängt hatte, kamen wieder, ohne dass ich es kontrollieren konnte. Erst als mir ein Schluchzen entwich, lösten wir uns wieder voneinander. In Giulias überglücklichen Blick mischte sich das erste Mal Sorge.
"Hey, das ist doch kein Grund, gleich loszuweinen."
Als wäre dies noch nicht genug, hörte ich Karina in meinem Ohr laut aufatmen.
"Oh Gott, ist das jetzt dein Ernst? Bieg das jetzt sofort wieder gerade!"
Da ich in diesem Moment noch weniger als sonst in der Lage sein würde, eine Lüge gut zu verkaufen, versuchte ich es mit der Wahrheit.
"Ich weiß, es tut mir Leid. Die letzten Tage waren nur sehr anstrengend für mich."
Im Kopf legte ich mir bereits zurecht, was ich als Begründung dafür liefern sollte, ohne meine Großeltern in Gefahr zu bringen, doch dies entpuppte sich als unnötig.
"Du brauchst nichts mehr zu sagen."
Giulia griff nach meiner Hand und drückte fest zu. Auch in ihren Augen glitzerte es verdächtig. Ich konnte nicht umhin, meine Stirn zu runzeln und sie fragend anzusehen.
"Ich verstehe das. Geht es deinem Großvater wieder besser?"
Bei der Erwähnung von meinem Opa im Kontext mit diesem Albtraum weiteten sich meine Augen.
Wovon zur Hölle spricht sie bloß?
Die Antwort auf diese Frage kam prompt.
"Sie denkt, dass dein Opa im Krankenhaus war. Also spiel mit!"
"Oh Gott, dein Reaktion kann nichts Gutes bedeuten."
Auch Giulias Augen hatten sich geweitet. Immer noch hatte ich ihr keine Antwort auf ihre Frage geliefert, was sie auf die schlimmsten Gedanken kommen ließ. Obwohl es ein Leichtes gewesen wäre, ihr zu versichern, dass es meinem Opa gut ging, so konnte ich es nicht. Alles in meinem Inneren sträubte sich dagegen, auch nur ansatzweise laut auszusprechen, dass es ihnen bestens ging, obwohl ich mir jede einzelne Sekunde bewusst war, dass sie in ständiger Gefahr lebten. Deshalb fiel meine Antwort mehr ernüchternd aus als alles andere: "Tatsächlich weiß ich nicht so recht, wie ich diese Frage beantworten soll."
Giulia brauchte nicht mehr Informationen. Sie wusste, dass dieses Thema beendet war, bevor es überhaupt begonnen hatte. So wie ich es von ihr gewohnt war, legte sich bereits kurze Zeit später ein Lächeln auf ihre Lippen, das alles um mich herum wieder etwas mehr erstrahlen ließ.
"Die Zeremonie war so fantastisch. Du hättest dabei sein müssen. Wirklich schade, dass ihr es nicht früher geschafft habt. Aber genug von mir. Wo ist denn deine Begleitung? Wir sind schon alle sehr gespannt auf ihn."
"Wie bitte?"
Bei dem ganzen Chaos hatte ich Dimitri vollkommen vergessen. Ich schluckte bei dem Gedanken, dass er bald, in absehbarer Zeit, auch auf dieser Feier auftauchen würde und mich mit seiner gekünstelten Liebe überschütten würde. Alles in meinem Körper wehrte sich vehement auch nur daran zu denken.
Indes hatte sich bereits Giulias Stirn in Falten gelegt. Ihre Augen musterten mich genauer, als würden sie etwas suchen, das sie noch nicht gefunden hatten. Doch so schnell, wie dieser Ausdruck gekommen war, wich er wieder einem Lächeln.
"Na, deinen Freund natürlich. Ich freue mich schon, ihn endlich kennenzulernen."
"Er sucht noch einen Parkplatz und hat dich schon vorher herausgelassen."
Ich wiederholte die Worte Karinas wie eine Marionette, die ich in diesem Moment war. Jegliches Lächeln, das ich zuvor noch versucht hatte, aufrecht zu erhalten, war verschwunden. Giulia schien davon jedoch nichts zu bemerken und sagte herzlich wie immer: "Und ich freue mich wirklich, dass du wieder hier bist. Wir müssen uns unbedingt unterhalten."
"Sag ihr, dass ihr leider nicht mehr als ein paar Stunden bleiben könnt."
Je länger ich in Giulias grüne Augen blickte, desto unwohler fühlte ich mich. Diese Augen erinnerten mich so sehr an eine gewisse andere Person, bei der mir bloß bei dem Gedanken wild gewordene Schmetterlinge in der Bauchgegend umherkreisten. Und ich wusste, dass ein Treffen mit ihm unabdingbar war. Und genauso wie ihm würde ich auch Giulia jetzt das Lächeln aus dem Gesicht wischen müssen, was mir jetzt schon mehr Schmerzen bereitete, als ich jemals vermutet hätte.
"Weißt du? Wir können leider nicht so lange bleiben. Mein Opa braucht mich."
Genauso wie ich vermutet hatte, wich das Lächeln von ihren Lippen und ein trauriger Blick war das Einzige, was ich von ihr erhielt.
"Oh... Ich verstehe."
Am liebsten hätte ich sie gefragt, was genau sie verstanden hatte. Dachte sie, dass ich immer noch wegen gebrochenem Herzen so verletzt war? Oder vermutete sie, dass ihre Vergangenheit mich dazu bewegte, so abweisend ihr gegenüber zu sein? Egal, was sie auch vermutete, niemals wäre es ihr möglich gewesen, das gesamte Ausmaß dieser verfahrenen Situation zu verstehen. Niemals würde sie wissen, aus welchem Grund ich wirklich so abweisend ihr gegenüber war. Bei dieser Erkenntnis zog sich mein Magen zusammen.
"Lächle doch endlich mal ein bisschen. Muss man dir denn alles aus der Nase ziehen?"
Ich tat wie mir geheißen, auch wenn ich mir sicher war, dass es nicht mehr als aufgesetzt wirkte. Nach Lächeln war mir nämlich gar nicht zu Mute. Dank dem immerwährenden Bild meiner Großeltern in meinem Hinterkopf, schaffte ich es, tatsächlich noch einige beschwichtigende Worte zu finden.
"Aber wir werden bestimmt einige Minuten finden, wo wir uns unterhalten können."
Ich konnte förmlich vor mir sehen, wie Karina missmutig ihre Augenbrauen um einige wenige Millimeter zusammenzog. Doch das war mir vollkommen egal. Sie wollte, dass ich hier ein mehr oder weniger überzeugendes Schauspiel hinlegte? Dann musste sie eben mit Improvisationen meinerseits zurechtkommen!
Langsam spürte ich, wie sich eine kalte Hand um meine legte und Giulia sagte: "Nichts lieber als das. Jetzt muss ich aber langsam weiterziehen. So eine Hochzeit ist ganz schön stressig. Bis später. Und amüsiert euch!"
Bevor ich etwas erwidern konnte, hatte sie bereits meine Hand losgelassen und sich umgedreht. Ich sah ihr hinterher, bis sie hinter einer lachenden Menschenmenge verschwunden war, und ließ erleichtert die Luft aus meinen Lungen entweichen.
"Endlich ist sie weg. Cassandra, jetzt solltest du schnellstens zu Gabriel gehen. Und dieses Mal bitte etwas mehr Begeisterung, ja? Ich dachte an solch einer Kunsthochschule bringen die euch etwas bei..."
"Ist das jetzt wirklich relevant?", unterbrach ich sie lauter als nötig, was mir nicht nur einen komischen Blick von den mir unbekannten Gästen bescherte. Schließlich war weit und breit keine Person um mich herum, mit der ich sprechen konnte. Innerlich schalt ich mich einen Narren, mal wieder nicht meinen Mund halten zu können, wenn es wirklich nötig war. Karina ging auf meinen Protest nicht ein und überbrachte direkt die nächste Anweisung.
"Gabriel steht direkt vor dir und unterhält sich mit Michail."
Die weißen Haare mitsamt schwarzer Kluft sah ich als Erstes, als ich das ungleiche Paar vor mir in Augenschein nahm. Michail war kleiner, dünner und wirkte viel schwächlicher als der von der Sonne geküsste Gabe, der in einem maßgeschneiderten, dunkelblauen Anzug wie ein römischer Gott aussah. Seine Haare waren, im Gegensatz zu sonst, ordentlich nach hinten gekämmt. Auch wenn ich ihn stets in alltäglichen Klamotten als sehr attraktiv erachtet hatte, so war das nicht gleichzusetzen mit dem Bild von einem Mann, das ich gerade vor mir erblickte.
Mein Atem stockte. Ich spürte, wie sich mein Herzschlag unnatürlich schnell beschleunigte. Die Musik, die noch vor Kurzem im Hintergrund gespielt hatte, war für mich verstummt. Endlich hatte ich es geschafft. Endlich sah ich ihn direkt vor mir stehen, als hätte es einen Abschied nie gegeben.
Bei dem Gedanken, mich gleich mit ihm unterhalten zu müssen, wurde mir bang. Zum Einen war es genau das gewesen, was ich mir bereits seit Tagen gewünscht hatte. Zum Anderen aber gab es da immer noch die Tatsache, dass Michail daneben stand und jeden einzelnen Schritt mit Argusaugen verfolgte. Von Karina ganz zu schweigen.
"Na los, geh schon!"
Tatsächlich hatte ich Karinas Kommando gebraucht, um mich wieder aus meiner Gefühlswelt zu befreien. Langsam setzte ich einen Fuß vor den anderen, ließ Gabe dabei keinen einzigen Moment aus dem Auge. Sein Haar leuchtete rötlich im schwachen Sonnenlicht. Beim Sprechen zeichnete sich ein leichtes Grübchen ab, das mir zuvor noch nicht allzu oft aufgefallen war. Sein Körper wirkte angespannt, was zu seinem ernsten Gesicht passte.
Von Weitem schon hörte ich Michails Stimme, die so falsch wie eh und je klang: "Ach, Gabriel, lange ist es her, mein Freund!"
"Nicht lange genug, wenn du mich fragst...."
Gabe wirkte noch angespannter als noch vor einigen Augenblicken.
Allzu gute Freunde scheinen sie nicht zu sein.
Dieser Gedanke beruhigte mich nur einige, wenige Sekunden, da ich bereits bei Michail und Gabe angelangt war. Gabe war immer noch zu sehr beschäftigt, Michail mit Blicken zu erdolchen, weshalb er mich nicht bemerkte. Auch Michail schien zu sehr in dem Blickduell festzuhängen. Am liebsten wäre ich einfach umgedreht und weggerannt. Doch dies war leider keine Option.
Pure Enttäuschung machte sich in mir breit, als ich Gabe versuchte, mit meinen Blicken und Gedanken dazu zu bringen, zu mir zu sehen. Ehrlich gesagt hatte ich erwartet, dass zwischen uns wieder dieses Kribbeln sein würde, das früher omnipräsent gewesen war. Doch ich wartete vergeblich. Deshalb blieb mir nichts anderes übrig, als die altmodische Variante der Begrüßung vorzubringen, die leider weniger freundlich herauskam, als ich beabsichtigt hatte.
"Hallo Gabe."
Ich wusste nicht, wie es anatomisch möglich war, doch Gabes Körper versteifte sich noch mehr als zuvor. Er brauchte sehr lange, um seinen Kopf in meine Richtung zu bewegen. Doch als seine grünen Tiefen endlich in meine blickten, wollte ich niemals irgendwo anders sein. Die Anziehung, die ich vor einigen Momenten noch vermisst hatte, war mit einem Schwung wieder zurückgekehrt. Ich wollte nichts lieber, als mich in seine Arme fallen zu lassen und ihn nie wieder loszulassen. Auch in seinen Augen brodelte ein Sturm der Gefühle, der mich absolut nicht kalt ließ. Im Gegenteil. Mir wurde unfassbar heiß.
"Wer ist denn dieses reizende Geschöpf, Gabriel?"
Michails nasale Stimme durchdrang die Zweisamkeit, die Gabe und ich binnen einiger, weniger Sekunden aufgebaut hatten. Doch noch wollte ich diesen Augenblick nicht zergehen lassen. Karina, die sich wieder in meinem Ohr meldete, war anderer Meinung als ich.
"Reiß dich zusammen und sieh als Erste weg! Und lächeln nicht vergessen!"
Sofort war das Bild von meinen Großeltern vor meinem inneren Auge und ich tat wie mir geheißen. Der Blick in Michails eiskalte Augen nach Gabes wunderschönen, verheißungsvollen Tiefen, war wie ein Sprung ins kalte Wasser. Ich musste mich wirklich zusammenreißen, um ihm nicht in sein dämlich grinsendes Gesicht zu spucken und stattdessen ebenfalls ein einnehmendes Lächeln auf meinen Lippen zu platzieren.
"Ich bin Cassandra."
Tatsächlich gelang es mir, ihm meine Hand entgegen zu strecken. Doch anstatt mir einfach die Hand zu schütteln, zog er die Hand an sich und drückte einen feuchten Kuss auf den Handrücken. Alles in mir schrie danach, die Hand wegzuziehen und Michail stattdessen eine saftige Ohrfeige zu verpassen. Doch ich lächelte brav weiter, während ich ein anderes paar grüner Augen auf mir spürte, die mich nicht mehr aus den Augen ließen.
"Michail, freut mich sehr."
Michail hatte sich vollkommen auf mich fixiert, schenkte Gabe keine Beachtung mehr.
"Woher kennst du denn meinen alten Bekannten hier?"
Alter Bekannter?
Am liebsten hätte ich ihm die gleiche Frage gestellt, doch das war wohl nicht im Sinne des Schauspiels, das Michail und Karina geplant hatten, weshalb ich brav antwortete: "Ich habe einige Tage in dem Haus neben seinem gewohnt."
Anstatt mir eine Antwort zu geben, schnellten seine eisblauen Augen auf etwas hinter mir, während seine Mundwinkel verdächtig zuckten. Es waren Hände, die sich vorsichtig um meine Hüften legten und ein darauffolgender Kuss auf meinem Haar, der mich sofort erstarren ließ.
Dimitri.
"Da bin ich endlich!", sagte er ganz nah an meinem Ohr. Selbst ohne ihn zu sehen, konnte ich sein falsches Lächeln spüren. Langsam löste er sich von mir und stellte sich neben mich, nicht jedoch ohne eine Hand auf meinem Rücken zu lassen.
"Es hat aber auch etwas gedauert, vom Parkplatz hierher zu laufen."
Nur langsam schaute ich zu Dimitri herauf, dessen blaue Augen mit seinem Lächeln um die Wette strahlten. Es war wirklich erstaunlich, wie sehr sie Dimitri herausgeputzt hatten. Und dies war nicht nur mir aufgefallen. Viele der anwesenden Frauen starrten ihn unverhohlen an und erdolchten mich bereits mit Blicken, als sie seine Hand auf meinem Körper entdeckten. Neben Dimitris Präsenz wirkte selbst Gabe nicht mehr so muskulös.
Dimitri war der Erste, der seinen Blick von mir löste und sich an Gabe wandte.
"Ist das der Gabe, von dem du mir erzählt hast?"
Ganz langsam drehte ich meinen Kopf in Gabes Richtung und erstarrte beinahe bei dem Blick, den er Dimitri zuwarf. Keineswegs wollte ich gerade in Dimitris Haut stecken, da ich jeden Moment damit rechnete, dass Gabe die gleichen Fähigkeiten wie ich entwickeln würde und Dimitri in Flammen aufgehen ließ, bis von ihm nur noch ein Häufchen Asche zurückblieb. Mehr als ein Nicken brachte ich nicht zustande. Zu sehr noch war ich in meinem eigenen Körper gefesselt, der mich von irgendwelchen Dummheiten abhalten wollte. Der Wunsch, Gabe um den Hals zu fallen und ihm alles zu gestehen, war immens. Nur der Gedanke an meine Großeltern ließ mich an Ort und Stelle verharren.
Dimitri schien das Schauspiel besser zu gelingen als mir. Mit einem breiten Lächeln reichte er Gabe die Hand und sagte: "Hi, ich bin Dimitri. Es freut mich sehr, dich endlich kennenzulernen. Cassie hat mir so viel von dir erzählt. Ich danke dir, dass du dich so gut um sie gekümmert hast. Leider konnte ich sie auf ihrer Reise nach Sizilien nicht begleiten. Aber jetzt bin ich wieder voll und ganz für sie da."
Immer noch würdigte mich Gabe keines Blickes, obwohl ich nichts lieber gehabt hätte, als dass er in meine Augen gesehen und die Wahrheit erblickt hätte. Stattdessen jedoch taxierte er Dimitri, als wäre er sein schlimmster Feind.
"Sie hat nie von dir erzählt", murmelte Gabe mit einer solch tiefen Stimme, dass sofort eine Gänsehaut über meinen Körper fuhr. Ich konnte jedoch nicht genau sagen, ob es an der Drohung lag oder daran, dass diese Stimme so viel in meinem tiefsten Inneren bewirkte.
Dimitri ging jedoch überhaupt nicht auf das Spiel mit Gabe ein. Immer noch lächelnd antwortete er: "Das ist auch überhaupt nicht verwunderlich. Wir sind im Streit auseinander gegangen. Aber wir haben wieder zueinander gefunden."
"Ach, habt ihr das?"
Das erste Mal seit einer gefühlten Ewigkeit sah Gabe zu mir, was mich wieder vollständig erstarren ließ. Die Angst, ihm eine falsche Reaktion zu liefern und meine Großeltern damit in Gefahr zu bringen, ließ mich einfach nur stumm nicken.
"Wie schön für euch."
Mit diesen Worten löste er seinen Blick von mir und blickte stattdessen in weite Ferne. Sein Adamsapfel zuckte verdächtig, während er die Kiefer stark aufeinander biss.
"Ich habe gerade gesehen, dass meine Schwester mich braucht. Entschuldigt mich bitte."
Ohne uns eines weiteren Blickes zu würdigen, zog er sich zurück und ging schnellen Schrittes in die entgegengesetzte Richtung davon. Bei diesem Anblick begannen meine Augen verdächtig zu brennen. Alles in meinem Körper schrie danach, ihm hinterher zu laufen und ihm alles zu erklären. Doch das Einzige, was ich erhielt, war das Lachen Michails, das über das gesamte Gelände hallte. Als wäre dies noch nicht schlimm genug, beugte er sich zu mir herüber und flüsterte in mein Ohr: "War doch gar nicht so schlecht für den Anfang, Täubchen!"
Ciao meine Lieben,
endlich ist das Kapitel wieder da. Gestern waren einfach alle Kapitel weg gewesen und ich hatte den Schock meines Lebens 😱
Wir sind wieder in Sizilien. Ein leises "Yeah". Leider unter etwas anderen Umständen, als wir es uns alle wahrscheinlich erhofft haben.
Was sagt ihr zu dem Kapitel? Meint ihr Gabe und die Anderen werden hinter die Fassade schauen können?
Nächste Woche werden wir es erfahren.
Eure federwunsch ❤️
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