Kapitel 10
Bevor ich meine Augen öffnete, drang die wohlklingende Melodie vom rauschenden Meer zu meinem Ohr. Die angenehm warme Luft roch salzig und nach baldigem Sommerregen. Außerdem hätte ich schwören können, dass irgendjemand etwas Wundervolles in einer weit entfernten Küche vollbrachte. Ich öffnete meine Augen und brauchte eine Weile, um alles um mich herum richtig wahrzunehmen.
Vor mir erstreckte sich das weite Meer, dessen Wellen sachte gegen den Strand und die meterhohen Felsen schlugen. Die Sonne war bereits nahe dem Horizont und tauchte die gesamte Umgebung in ein warmes, dämmerndes Licht. Überall um mich herum erstreckte sich Vegetation, die sich über die Jahre ihren Weg durch die widerspenstigen Steine gekämpft hatte.
Ich bin in Sizilien.
Ungläubig blickte ich mich ein weiteres Mal um, damit jegliche Irrtümer ausgeschlossen waren. Ich beugte mich zum Boden und griff nach dem warmen Sand, der langsam wieder durch meine Handflächen zu Boden rann.
Ich bin wirklich in Sizilien.
Ich spürte, wie sich erst vorsichtig, dann immer stärker, ein Lächeln auf meinen Lippen ausbreitete. Konnte es wahr sein? Hatte ich die gesamte Zeit über nur einen schlimmen Albtraum gehabt? War ich nie aus Sizilien ausgereist?
Die Ballerinas, die ich trug, zog ich schnell herunter. Nichts wollte ich in diesem Moment lieber als den Sand unter meinen Füßen zu spüren. Sofort sanken meine Füße in dem trockenen Sand ein und hinterließen ein wohlig warmes Gefühl in meinem Magen.
Die dunklen Wolken, die sich langsam über die Sonne schoben, bedeuteten mir, dass es jeden Moment anfangen würde zu regen. Nichts hätte ich im Moment lieber getan, als tanzend im Sommerregen meine Freiheit zu genießen.
Warme, leichte Tropfen benetzten innerhalb weniger Sekunden meine gesamte Haut. Mit geöffneten Armen empfing ich den Regen, der genau die richtige Temperatur hatte. Das Gesicht zur halb verdeckten Sonne gerichtet kreiste ich auf der Stelle und konnte kaum fassen, wie viel Glück meinen Körper von Kopf bis Fuß durchströmte. Ich senkte meinen Blick wieder vor mich und bewunderte, wie die Umgebung zu Formen und Farben verschwamm. Es war einfach nur perfekt.
Zu perfekt.
Obwohl ich mich im selben Moment dafür hasste, spürte ich, wie sich alles in meinem Körper gegen dieses Gefühl der Geborgenheit wehrte. Irgendetwas passte einfach nicht. Irgendetwas fehlte. Etwas, das mir einfach nicht in den Sinn kommen wollte.
Nach Luft schnappend blieb ich schließlich stehen, mein Blick gegen die meterhohen Felsen gerichtet, die dem Wetter ohne Probleme trotzten. Unterschiedliche Grautöne vermischten sich miteinander und ließen die Formation wie einen Riesen aus Stein wirken. Als mein Blick an den Rand der Felswand wanderte, wusste ich, dass etwas nicht in die Szene passte.
Ich war mir nicht sicher, ob ich meinen Augen trauen konnte, als ich eine in schwarz gekleidete Person erblickte. Das schwarze T-Shirt wurde vom Wind gegen einen muskulösen Körper gedrückt. Dunkle, volle Haare hatten dem Regen und dem Wind nicht mehr widerstehen können und klebten nunmehr in einem Gesicht, dessen grüne Augen ich überall erkannt hätte.
"Gabe?"
Es war kaum mehr als ein Flüstern, das ich hervorbrachte. Vielmehr bewegten sich meine Lippen und hauchten das Wort, das gleichzeitig so fremd und vertraut war. Die in schwarz gekleidete Person setzte einen Fuß vor den anderen. Mit jedem Schritt, den die Gestalt näher kam, hörte ich zunehmend das Blut in meinen Ohren rauschen. Auch mein Herz hüpfte wie verrückte. Während die Distanz zwischen uns geringer wurde, merkte ich, wie meine Gedanken immer leiser und weniger wurden. Nur noch mein vom Regen benetzter und von Gefühlen überwältigter Körper existierte.
Tiefgrüne Augen blickten in meine, in denen ein undefinierbarer Sturm aus Gefühlen wütete und meinen vermutlich glich. Seine vollen Lippen waren leicht geöffnet, so als ob er nicht richtig wüsste, ob er reden oder schweigen sollte. Die nassen Haarsträhnen versperrten ihm teilweise die Sicht, während ungehindert Regentropfen an seinem Körper herab rannten. Noch nie in meinem Leben hatte ich Gabe so verwundbar, gleichzeitig jedoch so gottgleich, gesehen, und doch fühlte es sich so bekannt an. Es war, als wäre ich nie woanders gewesen.
Ich bin Zuhause.
Meine Arme schlangen sich um seinen Hals. Jeden einzelnen, festen Muskel konnte ich unter der nassen Kleidung spüren, die unsere erhitzte Haut bedeckte, als ich meine Hände über seinen gesamten Rücken fahren ließ. Sofort nahm ich seinen Duft war, der an frisch gemähte Blumenwiese und heiße Sommertage erinnerte. Erst zaghaft, dann immer bestimmter, umschloss auch Gabe meinen Körper und legte seinen Kopf auf meinen. Nie wieder wollte ich woanders sein oder etwas Anderes tun.
Ich spürte, wie sich seine Lippen an meinem Haar bewegten, als der Wind das Wort Micina zu mir trug. Die bekannten Schmetterlinge im Bauch waren bereits zu orkanartigen Wellen mutiert. Ich war mir sicher, dass ich mich noch niemals so vollkommen gefühlt hatte wie in diesem Moment.
Auch wenn die Situation unfassbar schön war und ich den Mann in meinen Armen nie gehen lassen wollte, waren unterbewusst immer noch Zweifel in meinem Kopf, die es mir nicht gelang zu greifen. Dieser eine Gedanke, dass hier etwas nicht stimmte, ließ mich schließlich aus der Umarmung gleiten und einen Schritt nach hinten machen. Seine Hand wollte sofort nach mir greifen, doch ich schüttelte mit dem Kopf. Auch wenn es mir genauso schwer fiel wie ihm, mich von ihm und diesem Moment zu entfernen, musste ich es tun.
Ein Blick in seine Augen reichte, um die Gedanken, die ich versuchte zu Worten zu formen, wieder zu verblassenden Erscheinungen zu werden. Mein Mund öffnete und schloss sich wieder, während der Regen unaufhörlich auf uns niederprasselte.
"Ich weiß nicht was ich sagen soll."
Mehr als ein Flüstern brachte ich nicht hervor. Ich biss mir auf die Unterlippe, um meinen Körper davon abzuhalten, wieder in seine Arme zu fallen. Wie ein Magnet zog er mich an. Nur mit meiner gesamten Willenskraft konnte ich mich bremsen, wobei dieser Protest in mir immer kleiner und unbedeutender wurde.
"Dann sag nichts."
Es fühlte sich an, als wäre es bereits Ewigkeiten her, dass ich seine tiefe, melodische Stimme gehört hatte. Sie hörte sich noch genauso an, wie ich sie in Erinnerung gehabt hatte, was mein Herz einen Schlag aussetzen ließ. Auch wenn seine Worte nicht viel aussagten, bedeuteten sie doch so viel. Ihm ging es genauso wie mir und er wollte es noch nicht einmal leugnen. Der Sturm in seinen Augen sagte mehr, als es Worte jemals beschreiben konnten.
Ich entriss meinen Blick seinen wundervollen Augen und blickte zum Meer, dessen Wellen immer noch ruhig am Sand brachen.
Wie gerne ich in diesem Moment diese Wellen an meinen Füßen spüren würde.
Ich setzte einen Schritt vor den anderen, bis das kalte Nass mich einladend empfing. Die Augen geschlossen genoss ich die salzige Luft, die mich von innen heraus erfüllte. Gabes Hände spürte ich als Erstes auf der Tunika, die mittlerweile eins mit meiner Haut geworden war. Hitze durchfuhr meinen gesamten Körper und ich presste ihn noch mehr gegen seinen. Als der Regen von einem auf den anderen Moment aufhörte, auf uns niederzuprasseln, öffnete ich die Augen, nur um direkt in eine feuerrote Sonne zu sehen, die bereits den Horizont küsste.
"Ich verstehe nicht... Ist das real? Bin ich wirklich hier?"
Die Worte hatten sich aus meinem Mund gelöst, ohne wirklich nachgedacht zu haben. Alles hier wirkte real. Der Sand unter meinen Füßen. Gabes Atem an meinem Nacken. Seine warmen und starken Hände um meinen Körper. Und doch schien alles zu surreal, als dass es in der Realität liegen könnte. Auch wenn ich immer noch nicht begriff, was los war, spürte ich, dass ich glücklich war.
"Ist das denn wichtig?"
Die Antwort, die ich mir selbst darauf gab, fiel mir leicht.
Nein.
So wie es gerade war, war es genau richtig. Obwohl die Sonne immer weiter hinter dem Horizont verschwand, blieb die Temperatur die Gleiche. Nur Gabes Körper schien mit jeder Sekunde heißer und unnachgiebiger zu werden. Erneut versuchte sich eine Stimme in meinem Kopf an die Oberfläche zu wagen, doch sie scheiterte. Immer noch konnte ich nichts aus meinen Gedanken greifen, die sonst immer omnipräsent waren. Ich kniff meine Augen zusammen, um mich besser konzentrieren zu können, doch es war zwecklos.
Das Einzige, was ich hervorbringen konnte und von dem ich mir sicher war, dass es stimmte, war: "Ich brauche Antworten."
Gabes Arme um mich herum umfassten mich noch stärker.
"Das weiß ich", flüsterte er in mein Haar und hauchte mir einen Kuss auf den Scheitel.
Seine Lippen auf meiner Haut erschwerten mir ungemein mehr als zuvor, einen klaren Kopf zu bekommen und die Fragen zu formulieren, auf die ich so dringend eine Antwort brauchte. Mein Körper wehrte sich vehement, mich denken zu lassen. Vielmehr waren es meine Sinne, die überempfindlich waren und jedes noch so kleine Detail einfingen. Seine Lippen. Seine Arme. Das Wasser, das gegen meine Füße schwappte.
Lange noch starrte ich auf den Horizont, wo bereits seit langem der Mond die Sonne ersetzt hatte. Ich genoss die Wärme, die von Gabes Körper ausging. Das Gefühl, mit ihm verbunden zu sein, war unbeschreiblich. Umso schlimmer war es, als diese Arme, die mich gehalten hatten, auf einmal nicht mehr da waren. Hektisch fuhr ich herum, nur um Gabe dabei zu beobachten, wie er sich zum Sand hinunterbeugte und etwas aufhob. Seine Haare waren mittlerweile getrocknet und kräuselten sich leicht, was mich zum Lächeln brachte.
Mit einem ebenso leichten Lächeln kam Gabe wieder auf mich zu und stellte sich schließlich vor mich. Er griff nach meiner Hand, legte sie über seine und platzierte in meiner Hand wiederum eine Muschel, die zu einer perfekten Schnecke geformt war.
"Wusstest du, dass selbst die einfachsten und auch manchmal die willkürlich erscheinenden Dinge einem bestimmten Plan folgen?"
Ich beobachtete ihn dabei, wie er langsam mit dem Finger über die Muschel strich.
"Die Spirale der Schnecke beispielsweise folgt dem Aufbau der Fibonacci-Zahlenfolge, dessen nächste Zahl immer aus der Summe der zwei Vorgänger berechnet wird."
Demonstrierend fuhr er mit dem Finger über die Spirale der Muschel.
"In der Mitte ist die Spirale noch klein, doch mit jedem weiteren Schritt wird sie größer und größer."
Immer wieder fuhr er mit dem Finger über die Spirale, während ich ihn ganz genau dabei beobachtete. Obwohl ich seinen Worten nur schwer folgen konnte, ergab das, was er sagte, doch einen weitaus tieferen Sinn.
Alles folgt einem Plan.
"Ich frage mich, wie mein Plan aussieht", flüsterte ich, während ich immer noch gedankenverloren auf seinen Finger starrte. Derselbe Finger, der eben noch die Spirale abgefahren hatte, wurde angehoben, bis er schließlich mein Gesicht berührte. Automatisch blickte ich zu Gabe, der mich nachdenklich musterte.
"Das, Micina, wird sich zeigen. Sei dir aber gewiss, dass du nicht alleine bist. Vielleicht sogar können wir es gemeinsam herausfinden."
In seinen Augen konnte ich die Frage ablesen, ob ich bereit war, diesen Plan tatsächlich mit ihm herauszufinden. Ich nickte. Noch nie in meinem Leben war ich mir so sicher, einem Menschen ohne Bedenken mein vollstes Vertrauen schenken zu können. Ohne dass ich es bemerkt hatte, löste sich eine Träne aus meinem Augenwinkel, die Gabe mit seinem Daumen wegwischte. Der Daumen wanderte zu meinen Lippen, die ich leicht öffnete, während er die Konturen wie die Spirale der Muschel nachfuhr. Mein Herz begann zu rasen, als seine Lippen den meinen immer näher kamen. Nur noch einige, wenige Millimeter trennten uns voneinander, bis ich diese schließlich ohne zu zögern überwand.
Dann wurde alles Schwarz.
Guten Abend meine Lieben,
ich weiß ja nicht wie euer Tag war, aber meiner war echt anstrengend. Ich hoffe, das Kapitel hat euch etwas euren Abend versüßt. Beim erneuten Lesen musste ich ja schon ein paar mal Schmunzeln ^^
Was sind denn eure Meinungen zu dem Kapitel? 😉
Falls ihr nicht wisst, was eine Fibonacci-Reihe ist, hier noch einmal etwas detaillierter: Die Fibonacci-Reihe ist eine aus natürlichen Zahlen bestehende Folge, dessen Nachfolger sich jeweils aus der Summe der zwei Vorgänger ergibt, wobei 1 die erste Zahl ist. (Manche sagen auch, dass die 0 dazugehört, aber wir wollen hier ja nicht über Mathematik streiten) Sprich: 1, 1, 2, 3, 5, 8, ...
Wenn ihr mehr zu der Behauptung von Gabe erfahren wollt, hier ist ein interessanter Artikel zu finden: https://www.was-darwin-nicht-wusste.de/wunder/mathematische-ueberraschungen.html
Wenn ihr ganz viel Lust habt und noch weiteres Lesematerial benötigt, könnt ihr auch in meine vor kurzem veröffentlichte Kurzgeschichte Silvestermaskerade hereinschauen, wenn noch nicht bereits geschehen. 🤗
Ansonsten wünsche ich euch noch ein schönes kommendes Wochenende 💕
Eure federwunsch ❤️
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