VERGANGENHEIT - TEIL SIEBEN
Die nächsten Tage zogen nur so an mir vorbei.
Die Zeit verging schneller, als ich es mir je hätte vorstellen können. Das Wochenende kam irrsinnig plötzlich und war genau so plötzlich vorbei. Ich wusste nicht, wo mir meine Zeit blieb. Meine Entdeckungen in Samuels Kleiderschrank gerieten schnell in Vergessenheit.
Samuel führte mich an kleine, versteckte Plätze Londons und wir genossen die Zweisamkeit, die wir unter der Woche nicht hatten, da er viel arbeitete. Ein paar Mal lud er mich zu wundervollen Abendessen an der Themse ein, vormittags erkundete ich die umliegende Gegend und fand mich zunehmend in meiner neuen Heimat zurecht. Ebenso hielt ich Ausschau nach Jobausschreibungen für Studenten in der Nähe. Bisher jedoch nicht erfolgreich.
An anderen Abenden schauten wir gemeinsam Filme auf seiner schmalen Couch, sein Arm um meine Schultern gelegt, Samuels Finger, die kreisende Bewegungen zeichneten, seine Hände, die nicht genug von meinem Körper bekommen konnten. Ich begann langsam, die Vorteile einer eigenen Wohnung zu genießen, wenn seine Lippen mir Laute entlockten, die nicht von anderen gehört werden sollten, und hätte Samuel mich darum gebeten, wäre ich ihm in diesen Momenten überall hin gefolgt.
Am Freitag, bereits über eine Woche nach meiner Ankunft in London, stattete ich der kleinen Studentenbäckerei Blue Bakery einen erneuten Besuch ab. Beim Eintreten strömte mir sofort der Geruch nach frisch gebackenem Gebäck in die Nase. Mein Blick fiel erwartungsvoll zur Theke, doch sogleich wurde ich enttäuscht.
Das Mädchen, mit dem ich mich bei meinem ersten Besuch unterhalten hatte – Sienna - war nicht da. Eine andere Studentin stand dahinter.
Missmutig begrüßte sie mich. Die Stimmung, die von ihr ausstrahlte, war ganz anders als Siennas willkommene Fröhlichkeit. Ein wenig traurig bestellte ich mir ein Stück Schokokuchen, welches extrem lecker aussah, sowie einen kleinen Kaffee. Nachdem ich bezahlt hatte, setzte ich mich an den gleichen Tisch wie letztes Mal. Heute war die Bäckerei besser besucht. Zwei weitere Tische waren ebenfalls besetzt. Das Mädchen brachte mir meine Bestellung und ich nahm einen Schluck Kaffee.
Das Wetter heute war nicht ganz so strahlend wie an den letzten Tagen, doch immerhin regnete es nicht. Der Himmel war düster, genau wie meine Stimmung. Selbst der Schokokuchen konnte mich nicht aufheitern. Eigentlich wollte ich Sienna wieder treffen, die einzige Person, die ich in London außer Samuel kannte – obwohl ich sie ja eigentlich doch gar nicht kannte – und jetzt war sie nicht hier.
Seufzend sagte ich mir selbst, dass sie eben nicht jeden Tag in der Bäckerei stehen konnte. Wahrscheinlich arbeitete sie wie bei vielen Studentenjobs nur paar Schichten in der Woche. Außerdem hatte sie mir sogar selbst erzählt, dass sie Biologie studierte. Wahrscheinlich saß sie gerade in irgendeiner Vorlesung.
In diesem Moment klingelte das kleine Glöckchen bei der Eingangstür und eine Person trat ein. Ich blickte umgehend auf und tatsächlich - da stand Sienna. Diesmal trug sie keine rosa Schürze.
„Sorry, dass ich so spät bin, Abby! Der Kurs hat länger gedauert und ich habe den Bus verpasst! Tut mir echt echt leid!", rief Sienna, sobald das Mädchen hinter der Theke sie bemerkt hatte.
„Dir ist klar, dass ich jetzt schon seit ..." Das Mädchen sah auf ihr Handgelenk. „Seit genau dreiundvierzig Minuten auf dich warte und wegen dir Überstunden mache?"
„Jaja, das weiß ich! Und es tut mir leid! Du bekommst die Dreiviertelstunde auch gezahlt, das verspreche ich dir!", verhaspelte sich Sienna beinahe in ihren schnellen Beteuerungen, während sie die leichte Jacke auszog und hinter dem Tresen verschwand.
„Das will ich auch hoffen. Wenn du noch einmal so viel zu spät kommst, dann werde ich es melden gehen!"
„Ich verspreche dir, dass es nicht mehr vorkommen wird, Abby. Ehrenwort!" Mit fahrigen Händen band sich Sienna die kitschige rosa Schürze um. Warum die Schürze beim Namen Blue Bakery ausgerechnet rosa war, konnte ich mir auch nicht zusammenreimen.
Abby verdrehte die Augen und warf demonstrativ ihre Schürze auf die Theke. „Hier, die darfst du aufhängen. Auf Wiedersehen."
Damit schnappte sich Abby ihre Handtasche und rauschte augenblicklich durch die Türe davon. Sienna seufzte und verstaute Abbys Schürze. Dann atmete sie einmal tief durch, fuhr sich dabei angespannt über die Stirn. Ihr krauses Haar war heute in engen Zöpfen an den Kopf geflochten.
„Sienna?", fragte ich vorsichtig, denn anscheinend hatte sie mich gar nicht bemerkt. Ihr Kopf fuhr zu mir und ein breites, strahlend weißes Grinsen stahl sich auf ihre Lippen. Es vertrieb augenblicklich den genervten Ausdruck in ihren Zügen.
„Wenn das nicht die kleine Österreicherin ist, die mit starken Knutschflecken ganz London auf ihre Ankunft aufmerksam machen wollte!", begrüßte sie mich erheitert. „Maya, wenn ich ich mich recht erinnere, oder?"
Freudig kam sie zu mir an den Tisch. Unwillkürlich zog ich meine Schultern in die Höhe und machte mich bei ihren Worten klein. Die Leute am Nebentisch hatten mit ziemlicher Sicherheit Siennas nicht gerade leisen Ausruf gehört. Inzwischen waren die Male an meinem Hals zu kaum noch sichtbaren Stellen abgeheilt. Doch die Erinnerung der Peinlichkeit ließ mir sofort die Röte ins Gesicht schießen.
„Genau, Maya", überging ich daher Siennas Worte.
Diese kicherte. „Das muss dir nicht unangenehm sein. Ein erfülltes Liebesleben tut jedem gut! Und ich finde es super, wenn jemand weiß, worauf er oder sie steht. Selfcare und Selflove und so, oder?"
Sienna zwinkerte mir zu und stützte sich auf die Tischplatte.
„Aber jetzt erzähl mir mal, warum kommst du erst heute wieder? Ich habe dich letzte Woche erwartet! Ich dachte, ich hätte dich vertrieben und du würdest keinen Fuß mehr in diese Bäckerei mehr setzen."
Ich schüttelte amüsiert den Kopf. „Nein, du hast mich keinesfalls vertrieben. Aber deine ... Kollegin vorhin beinahe." Ich nickte zur Eingangstür, durch die besagte Abby verschwunden war.
„Ja, Abby ist manchmal echt ... mühsam. Vor allem, wenn man unpünktlich ist und sie Überstunden machen muss. Dann wird sie unausstehlich." Sienna ließ sich mir gegenüber nieder. „Aber ich konnte wirklich nichts dafür! Ich wollte sie ja anrufen und Bescheid geben, dass ich mich verspäten werde, aber mein Handy hat keinen Akku mehr."
„Hm. Sie wirkte echt nicht erfreut."
„Nein, wirklich nicht. Wahrscheinlich verpflichtet sie mich jetzt, dass ich ihr jeden Tag etwas von meinem Gehalt überlasse, als Gegenzug für meine ganzen Verspätungen."
„Tja, dann bist du wohl selbst daran Schuld, oder?", grinste ich und steckte mir eine Gabel voll Kuchen in den Mund.
„Kann man so sagen. Vielleicht. Aber der Professor auf der Uni und der blöde Bus waren auch nicht unschuldig daran." Sie schmunzelte. „Aber egal, genug von Abby. Die geht mir eh jede Woche auf die Nerven, das ist nichts Neues. Was hast du in deiner ersten Woche in London getrieben?" Sie hob die Augenbrauen. „Was war wichtiger, als mich in meiner Langeweile zu besuchen?"
„Ach, dies und das. Samuel und ich waren viel unterwegs."
Siennas Augenbrauen schienen noch höher zu wandern. „Samuel?"
„Mein Freund", erklärte ich lächelnd.
„Ahja", meinte sie gedehnt. „Der Knutschflecken-Verpasser." Ich versuchte, meinen Blick hinter der Kaffeetasse zu verbergen, doch das gelang mir nicht unbedingt. Sienna lachte und ich war mir sicher, dass sie von nun an auf ewig diese Tatsache mit mir verbinden würde.
„Interessant, interessant. Samuel. Netter Name", murmelte das schwarzhaarige Mädchen vor sich hin. Wir schwiegen eine Weile. Ich aß ein paar Bissen von meinem Kuchen. „Ich nehme an, dass ich nicht fragen muss, wie es bei euch läuft?"
Schwer schluckte ich den Bissen hinunter und meinte nur ausweichend: „Gut."
„Gut?" Ihr Grinsen vertiefte sich. „Also ich würde das mehr als nur gut nennen, wenn du mit deinen unübersehbaren Beweisen der Nacht herumläufst. Zu gerne würde ich ja wissen, ob du an anderen Stellen ..."
„Sienna!"
Sie kicherte. „Ich ziehe dich bloß auf, Maya, entspanne dich. Ich freue mich für dich, wenn es bei dir so gut läuft. Bei mir hingegen ist derzeit eher tote Hose." Ich wollte schon nachfragen, was sie denn damit meinte, da wurden wir unterbrochen. Ein Kunde trat zur Theke.
„Sienna?", fragt er ungeduldig. In seiner Hand trug der Student, wie ich vermutete, eine große Mappe. Er machte eine Handbewegung zur Kaffeemaschine. Sienna seufzte. „Ich bin gleich da, Theo!" Dann wandte sie sich wieder mir zu. „Und Samuel ist auch wirklich nett?" Ich nickte, überrascht über die Frage. „Dann würde ich euch gerne heute Abend auf eine Party von einem Freund von mir einladen. Wenn ihr kommen wollt."
Überrascht sah ich sie an. „Echt?"
„Ja klar. Es geht doch nicht, dass du nur deinen Freund in London hast. Du musst wirklich Leute kennenlernen. Und was ist dafür besser als eine verrückte Studentenparty?"
Sienna lachte und ich stimmte ihr zu. In Windeseile tauschten meine neu gefundene Freundin und ich tauschten unsere Handynummern, bevor sie mir eine Kusshand zuwarf und zu dem jungen Student schlenderte.
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