VERGANGENHEIT - TEIL NEUNZEHN
Ein Schlüssel wurde ins Schlüsselloch gesteckt. Die Wohnungstüre knarzte.
Ich verharrte vollkommen regungslos im Schlafzimmer. Neben mir lagen die gefundenen Dinge am Bett. Die Geldbündel, das Handy, der Vertrag. Das Kokain in den Plastiksäckchen.
Ich gab keinen Laut von mir, als Samuel im Flur seine Jacke ablegte. Geräuschvoll entledigte er sich auch seiner Schuhe.
„Maya?", drang seine Stimme bis zu mir. „Bist du zu Hause?" Noch immer wagte ich es nicht, etwas zu sagen. Dann atmete ich tief durch.
Jetzt war der Moment der Wahrheit gekommen. Der Moment, der mich vor Furcht zittern ließ. Der Moment, der mein ganzes Leben durcheinanderbringen würde.
„Ich bin hier", rief ich zurück. Ich war überrascht, wie normal meine Stimme klang.
„Ich habe uns was fürs Abendessen mitgenommen, Maya. Damit wir heute nichts kochen müssen." Normalerweise hätten mich diese Worte erfreut. Doch in jenem Augenblick war mein Herz so kalt wie noch nie.
„Maya? Kommst du mal?" Ich reagierte nicht auf Samuels Aufforderung. Nach ein paar Sekunden näherten sich seine Schritte dem Schlafzimmer.
„Maya?"
Samuel stieß die Türe auf.
Sowie er das Schlafzimmer betrat, fiel sein Blick auf die Dinge neben mir. Er streifte das Bündel Geldscheine, welches ich in die Luft hob, und die verstreuten Plastiksackerl voller Kokain, die verstreut zu meinen Füßen lagen.
„Was ist das alles?", kam es mir leise über die Lippen, obwohl ich eigentlich schweigen wollte. Die Worte verselbstständigten sich jedoch.
Samuel sah mich nur an. Er legte den Kopf schief. Ich wappnete mich für alles, was kommen mochte. Und dennoch hatte ich nicht mit dem Ausdruck gerechnet, der sich in dieser Sekunde auf Samuels Gesicht breitmachte.
Gleichgültigkeit.
Absolute Gleichgültig war es, die seine Gesichtszüge überschattete.
„Hast du etwa in meinen Sachen geschnüffelt, Maya? Du weißt ganz genau, dass man das nicht tut." In seiner Stimme schwang der Vorwurf mit.
Ein wütender Stich durchzuckte mich. „Das tut man nicht? Tickst du noch ganz richtig?" Ich pfefferte das Geldbündel auf das Bett und machte einen Schritt auf ihn zu. „Ist das das einzige, was du dazu zu sagen hast?"
Samuel zuckte mit den Schultern und auf einmal erkannte ich meinen Freund nicht wieder. Der junge Mann, der jetzt vor mir stand, hatte rein gar nichts mit dem Samuel gemein, in den ich mich verliebt hatte. Seine ganze Körperhaltung war verändert. Er strahlte Desinteresse aus und verdrehte wie genervt die Augen.
„Was soll ich dazu schon sagen?"
Ich keuchte hilflos auf. „Irgendetwas, Samuel, irgendetwas!", schrie ich ihm entgegen. Die Tränen kehrten in meine Augen zurück. Samuel verschränkte beinahe gelangweilt die Arme vor der Brust. Ich kniff die Augen zusammen, um die Tränen zurückzuhalten und konnte nicht glauben, was eben geschah.
„Wer bist du?", brachte ich hervor, leise, verzweifelt, gebrochen, ängstlich, hilflos.
Samuel lächelte müde. „Nicht der, für den du mich hältst." Ich konnte nichts sagen, konnte ihn nur anstarren. Das Grinsen hob einen seiner Mundwinkel nach oben. Sein Ausdruck war selbstgefällig und entsetzlich fremd.
„Du bist so naiv, Maya. So leichtgläubig. So dumm."
Die verächtlichen Worte aus seinem Mund fuhren mir direkt ins Herz. „Was ...", setzte ich zu einer Frage an, doch Samuel schnitt mir das Wort ab.
„Du hast dich so sehr nach meiner Liebe verzehrt, Maya, dass es mir ein leichtes war, dich um den Finger zu wickeln." Ein spöttisches Schnauben entfuhr ihm. „Hast du wirklich geglaubt, ich würde mein Leben mit dir verbringen wollen? Das war alles bloß eine Lüge."
Das war alles bloß eine Lüge. Das war alles bloß eine Lüge.
Jeder Augenblick zwischen uns, jeder Kuss, jede Berührung, jedes Wort war bloß eine Lüge.
Ich konnte nicht mehr. Alles drehte sich und verschwamm und seine Stimme durchbohrte mein Herz. „Bloß eine Lüge", hauchte ich, im Inneren längst gebrochen.
Samuel war eine Lüge. Seine Liebe war eine Lüge.
„Mochtest du mich überhaupt?"
Mit schief gelegtem Kopf meinte Samuel nüchtern: „Du bist gut im Bett."
„Du Schwein!", keuchte ich angewidert.
Er lachte nur herablassend. „Wirf mir an den Kopf, was du willst, Maya, du kannst mir nichts anhaben. Um ehrlich zu sein, du bist mir so was von egal."
Seine Worte verletzten mich stärker, als ich je verletzt wurde. Mit jedem Laut, der Samuels Mund verließ, zerstörte er mich. Mein Herz konnte nicht mehr ertragen. Denn dem Jungen, von dem ich dachte dass er mich liebte, war ich egal. Von Anfang an war ich bedeutungslos gewesen. Nur eine Witzfigur in seinem Leben.
„Was wolltest du dann mit mir?"
Samuel zuckte mit den Schultern. „Zuerst nur ein bisschen Spaß haben. Ich hätte nicht erwartet, dass du tatsächlich mit nach London kommen willst. Das war nur ein Experiment meines Charmes."
Er kniete sich nieder und ließ seine Hand über die Säckchen mit dem Kokain wandern. „Doch als du hier warst, eröffneten sich mir neue Möglichkeiten."
„Die Wohnung", warf ich mit zu Schlitzen verzogenen Augen ein. „Du wolltest mir die verdammte Wohnung überschreiben."
„Ja, unter anderem." Samuel schnappte sich eines der Kokainsäckchen. „Im Juni floh ich nach Berlin, dann nach Österreich, weil sich die Situation in London zuspitzte. Eines unserer Hauptlager wurde aufgespürt. Die Polizei war plötzlich überall." Seine Stimme war so fremd, so nüchtern und so fern meiner Lebenswelt war seine Erzählung. „Wir mussten überstürzt das Weite suchen und unsere Ware woanders unterbringen."
„Wer ist ‚wir'?"
Mein Herz war sowieso schon zerschmettert und es gab keine Hoffnung mehr, die Teile je wieder zusammenzusetzen. Alles in mir wich vor Samuel zurück, wollte fliehen und wollte wegrennen. Ich wollte es nicht wissen. Ich wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben. Doch ich musste es wissen. Wenn er mich mit der Wahrheit gebrochen zurückließ, dann bitteschön mit der ganzen, verfluchten Wahrheit.
Samuel hob abschätzig die Augenbrauen und erhob sich wieder. „Meine Leute."
Er nickte zu den Drogensäckchen am Boden. „Ich glaube, du kannst dir inzwischen denken, dass ich keine Ausbildung mache oder in dieser Firma arbeite, wie ich dich wahrhaftig habe glauben machen."
Ich biss mir auf die Lippe. ich wollte es wirklich nicht aussprechen. Denn laut gesprochene Worte bargen eine Wahrheit, die endgültig war. „Du ... du dealst."
„Gut erkannt. Ich bin professioneller Drogenhändler", wisperte er und schmunzelte über meinen angsterfüllten Gesichtsausdruck.
„Ich vertick das Zeug. Mein Klientel sind die Superreichen, die den allerbesten Stoff haben wollen. Nachts bin ich entweder in den Nobelclubs oder auf Privatfeiern unterwegs."
„Aber ... das ist illegal."
Er lachte dreckig auf. „Klar ist es das. Doch das Geld ist es wert. Und bei den Reichen steht die Diskretion an oberster Stelle. Die wollen auf der Toilette im Geheimen eine Line ziehen, ohne das es jemand merkt."
Samuel warf das Plastiksäckchen wieder auf den Boden. „Um unsere Ware nicht zu verlieren, teilten wir sie auf. Die Wohnung wurde zu einem raschen Notlager", fuhr er mit seiner Erklärung fort. „Zumindest eine kleine Menge lagert bei mir. Es sind nur ein paar Kilogramm."
Ich schluckte. Ein paar Kilogramm? Das Abgepackte in den kleinen Säckchen war so feines Pulver – es waren allerhöchstens wenige Gramm. Samuel bunkerte also noch viel mehr in der Wohnung.
„Und ich? Was hattest du mit mir vor?"
Er warf mir einen flotten Blick zu. „Zu Beginn hoffte ich eigentlich, dass du in unser Geschäft einsteigst. Ein hübsches Ding wie du könnte reichlich Kundschaft anziehen."
Entrüstet verschränkte ich die Arme vor der Brust. Seine Worte machten mir eindeutig klar, wie wenig er für mich als Mensch übrig hatte. Er hatte mich nie geliebt. Ich war ihm total egal. Ich schloss die Augen, um die Tränen im Zaum zu halten.
„Aber du bist so was von prüde, Maya. Leider erkannte ich das zu spät. Du willst ja nicht einmal Alkohol trinken." Er schüttelte missbilligend den Kopf. „Und als ich deine Freundin – die Schwarze – traf, glaubte ich schon das wäre es mit dir und mir gewesen."
Von seiner abfälligen Wortwahl angeekelt ballte ich die Hände zu Fäusten. „Sie heißt Sienna!", berichtigte ich ihn harsch.
„Mir ja egal. Fakt ist, dass ihr unterbelichteter Ex von mir seinen Stoff bekam. Sie hat mich bestimmt schon mal im Auto gesehen. Aber anscheinend ist sie auch nicht so helle, denn sie hat mich nicht wiedererkannt."
Samuel griff zu dem Vertrag, der unter dem kleinen Berg aus Plastiksäckchen vergraben lag. „Wie dem auch sei, auf lange Sicht will ich von London weg. Ein Teil von uns expandiert gerade nach Glasgow." Auf seinen Lippen hing ein hämisches Grinsen, als er das gefälschten Dokument betrachtete. „Dort gibt es ebenso eine gute Szene in den Clubs."
Club. Auf einmal zitterte ich wieder. Die Nachtclubs. Das heaven. „Was ... was geschah im heaven?"
Samuel schürzte die Lippen. „Im heaven habe ich die besten Kunden. Ich musste den Abend einfach nutzen. Zeit ist schließlich Geld."
„Was bedeutet das? Was war im Flachmann?"
Er atmete aus. „Wodka. Und GHB", meinte er trocken.
„GHB? Was ist das?", fragte ich atemlos. Mein Bauch rebellierte und Samuel erschien mir noch nie fremder als in diesem Augenblick.
„KO-Tropfen."
Entgeistert starrte ich den jungen Mann vor mir an. Das hatte er nicht gesagt. Das hatte er nicht getan.
Ich stolperte einen Schritt zurück. Das Schlafzimmer, welches mir immer ein Gefühl von Sicherheit gab, schien mit jedem Atemzug enger zu werden. „Du hast mir KO-Tropfen verabreicht?"
Ich stand mit dem Rücken gegen das Fensterbrett. Weiter konnte ich mich nicht von ihm entfernen. Das ließ das Zimmer nicht zu. Angewidert beobachtete ich Samuels emotionslosen Gesichtsausdruck, als die nächsten Worte seine Lippen verließen.
Lippen, die ich so gerne geküsst hatte. Lippen, deren reiner Anblick nun Ekel in mir hervorrief.
„Irgendwie musste ich dich ja ruhig stellen, um meinem Geschäft nachgehen zu können."
Und ab da brannte in mir eine Sicherung durch. Ich wusste nicht, woher ich die Kraft nahm, doch ich tobte und es gab kein Halten mehr.
„Du Arschloch! Du beschissenes Arschloch! Du hast mir die ganze Zeit etwas vorgespielt! Du hast dir mein Vertrauen erschlichen, meine Liebe genommen! Und ich Trottel bin auf dich reingefallen!"
Und vielleicht rutschte mir die Hand aus, vielleicht versuchte ich, ihm wehzutun, vielleicht vielleicht vielleicht.
„Noch dazu hast du immer wieder versucht, die Schuld auf mich zu schieben! Ich habe zu viel getrunken an jenem Abend im heaven, hm?! Dabei hast du mir voller Absicht Drogen verabreicht!"
Vielleicht brach meine Stimme, vielleicht war mein Gesicht tränenüberströmt, vielleicht war mein Herz zerbrochen.
„Und dann? Und dann, als wir in deiner verdammten Wohnung – entschuldige, Drogenlager – waren, als ich nichts mehr mitbekam, hast du mich gefickt? Hast du mich ausgenutzt, nur um dein scheiß Verlangen zu stillen? Oder war ich vielleicht sogar die zweite, dritte an diesem Abend? Anscheinend war ich gerade dafür gut genug, fürs Bett!"
Vielleicht zitterte ich, vielleicht bebte ich am ganzen Körper. Vielleicht hatte ich keine Kontrolle mehr.
„Dafür wirst du büßen! Ich werde dich anzeigen, Samuel, darauf kannst du dich gefasst machen!"
Und vielleicht zierte sein Antlitz ein hämischer Ausdruck, den ich ihm am liebsten aus dem Gesicht schlagen wollte.
„Das traust du dich nicht, Maya. Lass mich dir eines sagen: Du liebst mich. Du liebst mich, wie du noch nie jemanden geliebt hast. Deswegen wirst du hier aus der Türe gehen und weinen wie ein kleines Mädchen. Aber du wirst nichts gegen mich unternehmen. Denn du liebst mich."
Vielleicht war das der Moment, in dem ich nicht mehr weiter wusste.
Vielleicht war das die Sekunde, die mein Leben für immer prägen würde.
Vielleicht war das der Augenblick, in dem ich nicht mehr existieren wollte.
Und vielleicht lag in seinen Worten eine Wahrheit, schwer und treffend und überwältigend.
Es geht nach langer Zeit wieder weiter. Beinahe ist Mayas Geschichte zu Ende erzählt.
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