VERGANGENHEIT - TEIL ACHT
Samuel konnte mich nicht zur Party begleiten.
Er saß vor seinem Laptop, eine Tasse Kaffee in der einen Hand, sein Firmenhandy in der anderen. Er musste für die Arbeit akut irgendetwas organisieren und würde dafür noch den ganzen Abend brauchen. Doch er bestärkte mich, mit meiner neuen Freundin zu dieser Party zu gehen. Ich sollte unter Leute kommen, meinte er schlicht. Er verabschiedete mich mit einem langen Kuss, der mir klar machte, wie sehr ich Samuel liebte und wie weit unsere Beziehung schon war. Samuel ließ mich einfach auf eine Party mit Wildfremden gehen, damit ich Spaß hatte. Er vertraute mir und ich ihm.
Ich traf Sienna an der U-Bahnstation in der Nähe. Schon von weitem sah ich, dass sie unter ihrer dünnen Jacke schick angezogen war. Sie trug ein silbernes Trägertop, welches einen umwerfenden Kontrast mit der bloßen Haut ihrer Arme bildete. Dazu hatte sie eine weit ausgestellte schwarze Hose kombiniert, mit metallischen Sandaletten an Füßen. Ihre Haare waren noch immer in strengen Braids geflochten und ich vermutete, dass mit ihren Haaren diese Frisur wohl mehrere Wochen halten konnte.
„Wieso hast du mir nicht gesagt, dass es so eine Veranstaltung ist? Dann hätte ich mir auch etwas schöneres angezogen", jammerte ich gleich zur Begrüßung, als ich bei Sienna ankam.
Das großgewachsene Mädchen umarmte mich. „Es ist eigentlich auch keine große Sache. Nur eine WG-Einweihungsfeier. Ein Freund von mir ist ausgezogen und feiert heute mit seinen Mitbewohnern die Eröffnung."
„Und wieso bist du dann so aufgestylt?" Sienna grinste verlegen den Boden an. In meinem Kopf begann es zu rattern. „Sag nicht, dass du auf deinen Freund stehst!"
Sie brach in schallendes Gelächter aus. „Nein Maya, ich bin gottseidank nicht in der Friendzone drinnen. Aber sein Mitbewohner, den finde ich schon sehr ..."
„Alles klar, ich hab verstanden. Also hast du dich für den Mitbewohner so hübsch gemacht", neckte ich sie und wackelte mit den Augenbrauen. Sienna deutete einen Schlag gegen meinen Oberarm an und wir lachten.
„Immerhin komme ich mir jetzt nicht mehr ganz so underdressed vor", meinte ich und zupfte an meinem stinknormalen weißen Shirt, welches ich mit einer zerrissenen Jeans trug, glatt.
„Du bist auch nicht auf der Suche. Apropos, wo ist denn dein Freund?"
„Samuel konnte leider nicht mitkommen. Er muss für seine Arbeit irgendetwas ganz wichtiges erledigen, also ... ja." Ich zuckte mit den Schultern.
„Schade, aber wir haben sicher auch ohne ihm Spaß."
Nachdem wir mit der U-Bahn mehrere Stationen gefahren waren, stiegen wir aus und ich folgte Sienna durch die Gassen Londons.
„Also, zu den Hardfacts, die ganz nützlich sein könnten: Mein bester Freund heißt Henry, das ist auch der, der einzieht. Seine Mitbewohner sind Liam und Paul. Und eine andere Freundin namens ..."
„Und auf wen stehst du? Auf Liam oder Paul?", unterbrach ich Sienna. Wenn sie mir schon die Hardfacts geben wollte, dann bitte doch alle.
Sie errötete sichtlich und wirkte auf einmal nicht mehr so taff und schlagfertig wie sonst. „Warum habe ich dir das nur erzählt?", murmelte das schwarzhaarige Mädchen.
„Selbst Schuld!" Ich grinste sie triumphierend an. „Also? Liam oder Paul?"
„Wir sind da." Sienna ignorierte gekonnt meine Neugier und klingelte. Von außen wirkte die Hausfassade heruntergekommen, doch als wir das Gebäude betraten, sah es recht ordentlich aus. Schon am Flur im ersten Stock dröhnte uns die Musik entgegen. Sienna klopfte mehrmals, doch als uns niemand aufmachte, griff sie einfach nach der Türklinke. Die Tür war nicht abgesperrt und öffnete sich nach innen.
Nur weit schwang sie nicht auf – fast sofort blockierte sie ein Berg aus Schuhen und Jacken. Wir quetschten uns durch die schmale Türöffnung und standen plötzlich in einer zum Bersten gefüllten Wohnung. Die Musik lief, es war laut und stickig. Sienna und ich entledigten uns unserer Schuhe und Jacken und warfen sie auf den Haufen zu allen anderen.
„Willkommen im Chaos der Londoner Studentenpartys." Siennas Hand machte eine ausführliche Geste. Der Flur war eng und voll mit Menschen. Ich ließ Sienna den Vortritt und, fasste mit einer Hand meine Tasche fester. Mit der anderen griff ich nach Siennas ausgestreckten Fingern. Gemeinsam quetschten wir uns durch die Menschenmasse. Sienna zog mich nach links in einen Raum, in welchem uns eindeutig mehr Luft zum Atmen blieb.
„O!", rief Sienna aus und ließ meine Hand los. Sie machte einen Schritt nach vorne und fiel einem Mädchen mit mittellangen braunen Haaren um den Hals.
„Sienna! Endlich bist du da! Die Party ist schon in vollem Gange!" Sie lösten sich voneinander. Ich stand unsicher hinter den beiden, bis mich Sienna bestimmt nach vorne zog.
„O, das ist Maya, das Mädchen aus Österreich. Ich habe dir doch von ihr erzählt, oder?"
O nickte und lächelte mir zu. „Klar. Die mit den Knutschflecken. Wie könnte ich das vergessen?" Das Thema wurde ich wahrlich wohl nie wieder los. „Ich bin Olivia, oder einfach nur O."
Olivia schloss mich in eine kurze, aber feste Umarmung. Sie trug ein grün-weiß gestreiftes Croptop und einen langen schwarzen Rock. Ihre braunen Augen strahlten mich freundlich an, als sie sich zu mir beugte. „Maya, du musst heute Abend meine Komplizin sein. Ich weiß nicht, ob Sophie nachher noch kommt, deshalb musst du mir helfen."
Verwirrt sah ich sie an. „Wobei denn?"
Ein schelmischer Zug umspielte ihre Lippen. „Heute ist der perfekte Abend. Sienna und Liam. Das bahnt sich schon eine Weile an, aber noch ist nichts geschehen. Ich glaube, wenn wir ein wenig nachhelfen, geht es viel schneller."
Ich musste lachen. Also wussten Siennas Freunde alle von ihrem Crush. „Ich weiß zwar nicht, wer von diesen tausend Menschen Liam ist, aber zwei Liebenden helfe ich natürlich immer gern."
Sienna, die jedes Wort gehört hatte, murmelte naserümpfend „Liebende", streckte mir die Zunge entgegen und gab Olivia einen Klaps auf die Schulter. „Sehr lustig, O. Kaum habe ich dir Maya vorgestellt, wird sie schon zu deiner Verbündeten." Sie blickte sich um. „Gott sei Dank kann ich Liam gerade nicht sehen, aber meine Augen haben etwas anderes entdeckt."
Siennas Augen leuchteten voller Vorfreude. „Alkohol. Dort drüben. Kommt."
Kaum eine Stunde später fand ich mich mit einer Flasche Cider inmitten von Siennas Freunden wieder. Wir saßen in einem lockeren Kreis am Boden, zwischen uns standen Schüsseln mit Snacks und im Hintergrund lief ein rhythmischer Beat. Sienna hatte mich all ihren Freunden vorgestellt. Es schien eine ganz bunt gemischte Gruppe an Persönlichkeiten zu sein, doch jeder einzelne war ausgesprochen nett zu mir. Auch wenn ich normal nicht so der offene Typ war – und das vor allem nicht in einem anderen Land, wo alle noch dazu Englisch mit mir sprachen – fühlte ich mich in Siennas Gruppe mehr als wohl.
Ich war glücklich und malte mir schon die nächsten Monate aus, gefüllt mit neuen Freunden und Partys. Und sobald ich selbst an der Universität studierte, würde ich noch mehr Leute kennenlernen. Kurz wünschte ich mir, dass Samuel hier wäre. Doch schon im nächsten Moment genoss ich die Unabhängigkeit von ihm. Er konnte ja nicht meine einzige Bezugsperson in London bleiben, so sehr ich ihn auch liebte.
„Ich habe mir noch nie extra für eine bestimmte Person Reizwäsche gekauft", ertönte Henrys Stimme.
Olivia stieß mich in die Seite. „Ich hab noch nie kennst du, oder?"
„Ja", antwortete ich ihr. Sie grinste mich an und hob ihr Glas an die Lippen. Mit hochgezogenen Augenbrauen blickte sie mich an. „Keine Reizwäsche für deinen Freund? Der Arme."
Ich lachte nervös und verneinte. „Bisher noch keine Zeit gehabt. Und schöne Unterwäsche ist schweineteuer", seufzte ich.
„Wo du Recht hast. Aber anscheinend habt ihr auch so genug Abenteuer." Olivia nahm noch einen Schluck und bei ihrer Aussage musste auch ich einen nehmen.
Erneut war ich mehr als froh, nicht zu Hause in meinem Dorf zu sein, wo sich solche Aussagen schneller als gewollt in Form von Gerüchten verbreiten konnten, die schließlich außer Kontrolle gerieten. Und nachdem sich jeder kannte, drangen die Gerüchte meist auch an die Ohren der Eltern. Und ganz ehrlich, meine Eltern mussten wirklich nichts von meinem Sexleben mitbekommen.
„O, sieh mal!"
Beinahe verschluckte sich Olivia an ihrem Getränk. Ich deutete durch die Menge zur Tür. Im Türrahmen lehnte Sienna, unverkennbar an ihrer lässigen Pose. Mit dem Rücken halb zu uns gewandt stand vor ihr ein Typ. Er stand eine Spur zu nah bei Sienna. Ich sah Sienna lachen. Ihre Augen waren fest auf ihr Gegenüber gerichtet.
„Ist das Liam?"
Olivia nickte. „Ja! Hol ihn dir Mädchen!", rief sie. Ihre Stimme ging im Trubel unter. „Siehst du, wie sie ihr Bier umklammert? Selbst Sienna nicht so taff, wie sie oft denkt", raunte O mir zu.
Wie gebannt starrten wir zu den beiden hinüber. Als hätte Sienna unsere Blicke gespürt, sah sie zu uns und ich meinte sie die Augen verdrehen zu sehen. Im nächsten Moment flüsterte sie Liam etwas ins Ohr. Gemeinsam verschwanden sie aus unserem Blickfeld.
„Wir waren zu auffällig. Jetzt sind sie weg", lachte ich.
„Egal, Mission erfüllt. Auch wenn wir nichts gemacht haben." O hob ihr Glas und ich stieß mit ihr an.
„Na Mädels? Genug getuschelt? Spielt ihr wieder mit?"
„Aye aye, Henry! Wir sind bereit!" Wir kicherten, als Henry uns mit einem seltsamen Blick bedachte.
„Also, ich hatte noch nie ... einen One-Night-Stand."
Olivia zwinkerte mir zu, als sie einen Schluck nahm. „Ah, One-Night-Stands sind das Unangenehmste überhaupt. Das Aufwachen am nächsten Tag." Das braunhaarige Mädchen schüttelte sich. „Aber ..." Ihre Lippen verzogen sich zu einem wissenden Lächeln. „Aber die Nacht ... kann wahnsinnig aufregend sein", murmelte sie mir zu und trank einen weiteren Schluck. „Dennoch, hoffentlich endet es nicht so bei Sienna und Liam."
„Hoffentlich nicht", stimmte ich ihr peinlich berührt von ihren offenen Worten zu und ließ meine Ciderflasche am Boden stehen.
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