gegenwart - teil neun
Dieses Mal ist nicht die Panik oder Einsamkeit, die mich zum Café zieht.
Es ist, ganz banal, der Kaffee. Ich bin nur eine Straßenecke entfernt, da vernehme ich den schwachen Geruch nach gerösteten Kaffeebohnen. Er steigt mir in die Nase und ich atme tief ein. Auch wenn ich Julien nicht antreffen will, bewegen sich sich meine Füße wie von selbst auf das Café zu.
Es ist früher Nachmittag. Der Innenraum ist gut gefüllt. Ich erspähe einen freien Tisch am Fenster und lasse mich dort nieder. Meine Augen wandern über die Leute und huschen sofort zur Theke. Ein mir unbekannter Mann steht dahinter. Er trägt einen krausen Bart und lange Haare, die er am Hinterkopf zu einem Dutt zusammengefasst hat. Er lächelt mir grüßend zu, als er meinen Blick auffängt. Die Geräuschkulisse ist beruhigend. Das Gemurmel der Menschen, das Rauschen des Wasserkochers.
„Hi, was kann ich dir bringen?" Der Mann von der Theke steht neben mir.
„Hallo", antworte ich langsam. „Habt ihr ... Kaffee?"
Wenn meine Frage dämlich klingt, übergeht er es gekonnt. „Klar doch. Mit Milch?"
„Ja, bitte."
Er nickt und lächelt mir zu. „Bringe ich sofort. Bist du neu hier?"
„Mehr oder weniger." Ich schenke ihm ein flüchtiges Lächeln. Die Frage stellte mir Julien ebenso. Aus dem Augenwinkel sehe ich hinter der Theke jene Tür, die zum Büro des Cafés führt. Der kleine Raum, in welchen ich Julien gedrängt habe, panisch und herrisch, mit dem einzigen Gedanken, meine panik zu verdrängen. Seine Lippen, die zuerst jegliche Stellen meines Körpers lustvoll erkundet haben und mir später beruhigende, tröstende Worte spendeten.
Ich wende mich zum Fenster. Das Wetter wird düsterer. Der Herbst kommt. Ich sehe es an den Blättern der Bäume. Die Luft riecht anders. Geregnet hat es seit meinem Spaziergang nicht mehr. Dafür bin ich dankbar. Denn es ist der Geruch des Regens, der alles so viel schlimmer macht. Wenn er nicht da ist, fällt mir der Versuch, ihn zu vergessen, leichter.
Die Glocke der Tür reißt mich aus meinen Gedanken. Eine hoch aufgeschossene Gestalt in einer dunklen Jeansjacke betritt das Café. Ich erkenne ihn augenblicklich. Die schlaksige Figur und seine ruhige, emphatische Präsenz. Die Schritte sind bestimmt, während er hinter die Theke tritt, den anderen Mann mit einem Handschlag begrüßt und im Büro verschwindet.
Julien.
Ein Stich durchfährt mich. Am nächsten Morgen haben wir nach meinen Tränen kaum noch ein Wort gewechselt. Ich habe lautlos meine Kleidung zusammengesucht, während Julien müde auf die Couch sank. Erst als ich zur Tür hinaushuschen wollte, holte mich seine Stimme ein. Komm gut nach Hause, Maya. Pass auf dich auf. Ich habe nur genickt, dann war ich weg. Jetzt habe ich schon zweimal mit ihm geschlafen.
Julien taucht aus dem Büro auf. Ich will ihn nicht anstarren, also drehe ich mich zum Fenster, den Rücken dem Tresen zugewandt.
„Ein Kaffee?" Ich sehe auf. In Juliens Augen, die sich überrascht weiten. „Oh." Seine Stimme ist nervös. „Maya." Er stellt meinen Kaffee vor mir ab.
„Danke", erwidere ich höflich. Ich weiß nicht, was ich sonst noch sagen soll. Es ist komisch. Wir sind zwei Fremde, die sich kaum kennen. Zwei Fremde, die trotzdem jeden Zentimeter des nackten Körpers des anderen erkundet haben.
Und bisher waren wir immer alleine. Jetzt ist der Raum um uns gefüllt mit Leben, mit anderen Menschen, anderen Fremden. Fremden, die uns beobachten können, die unsere Gespräche mithören können, die sich ihre Meinungen über uns bilden können.
Julien zögert. Er will aller Ansicht nach noch etwas sagen. „Julien! Nicht flirten, sondern arbeiten!", kommt es von der Theke. Der Luxemburger zuckt zusammen. Eine zarte Röte schleicht sich auf sein Gesicht. Er räuspert sich. „Gern geschehen. Bitte bei uns dann zahlen." Er weist zum Tresen und zu seinem Kollegen, professionell, seine Stimme gleichgültig. Damit macht Julien kehrt und setzt seine Arbeit fort.
***
Das Café wird zu meinem Lieblingsort.
Am Vormittag ist es sehr ruhig dort. Nur wenige Menschen besuchen es. Die Zeit plätschert vor sich hin, der Geruch nach Kaffee liegt in der Luft. Neben Julien, der nur unter der Woche nachmittags bis abends arbeitet, stehen sonst zwei seiner Kollegen hinter dem Tresen – Gregor, der Mann mit dem Bart und Conny, eine braunhaarige, zurückhaltende Frau. Gregor selbst gehört das Café. Conny ist aus dem Nachbardorf und seit der Eröffnung des Cafés dabei. Julien fing nur wenige Tage später an, hier zu arbeiten.
Der Tisch beim Fenster wird zu meinem Stammplatz.
Manchmal sitze ich nur da, manchmal höre ich Musik, manchmal lese ich oder kritzle in einem Notizheft herum. Ich plaudere oft mit Gregor und Conny, leichter Smalltalk. Falls ich auf Julien beim Schichtwechsel treffe, dann tauschen wir nur wenige Worte.
Zwischen uns liegt eine seltsame Stimmung. Wir sind auf Abstand. Wir haben zu viel auf einmal und gleichzeitig viel zu wenig miteinander geteilt. Es ist wie eine Grenze, die jetzt keiner von uns mit einem überflüssigen Wort überschreiten möchte. Doch er lächelt, wenn ich da bin. Dennoch vermeide ich so gut es geht, mich nach der Mittagszeit im Café aufzuhalten, wenn seine Schicht beginnt.
Bald habe ich die gesamte Kaffeekarte durchprobiert und koste die Tees. Nach der ersten Woche, in der ich jeden Morgen im Café verbringe, drängt mich Gregor dazu, mich auf meine Getränke einzuladen. Sein Angebot schmeichelt mir und ich weiß, dass mein Geld knapp ist, daher nehme ich es an. Ich kann es dennoch nicht lassen, stattdessen ab und zu ein paar Euro in die Trinkgeldkasse zu werfen. Als das Café unerwarteterweise einmal brechend voll ist, Conny spät dran und im gleichen Moment die Lieferung ankommt, helfe ich einfach mit und verstaue die gelieferten Kartons in der Küche und im Büro.
Ohne es zu beabsichtigen, verbringe ich fast mehr Zeit im Café als zu Hause.
Es ist früher Nachmittag, als der erste Donner ertönt. Schon den ganzen Tag war der Himmel grau und die Wolken schwer. Eigentlich wollte ich längst zuhause sein und mich in meinem Bett verkriechen, wenn das Unwetter beginnt. Ich heile, aber nur langsam.
Jetzt fallen vor meinen Augen die ersten Tropfen zu Boden. Ich umklammere mein Buch. Die Kante des Papiers bohrt sich in meine Hand. Immer schneller werden sie, die kleinen Regentropfen. Sie formen einen Rhythmus, einen trommelnden Rhythmus, gleichmäßig übertönt er meinen Herzschlag.
Der Regen ... ist der Herzschlag der Welt.
Meine eigenen Worte drängen sich in mein Gedächtnis. Ich schlucke. Lege das Buch zur Seite, ohne die Augen vom Fenster abzuwenden.
Ich bin das Regenmädchen ... oder aber auch Maya.
Mein Bauch überschlägt sich, mir wird schlecht. Die Sicht verschwimmt vor meinen Augen. Ich atme flach.
Du bist auch ein Regentropfen.
Meine Nägel krallen sich in meine Handfläche.
Mit den Regentropfen ... kommt das Regenmädchen nach London.
Die Panik überkommt mich. Ich möchte losstürmen, weglaufen, davonsprinten.
Doch diesmal kann ich nicht davonrennen.
Denn Samuels Worte sind in meinem Kopf und vor meinem Kopf gibt es kein Entkommen.
Urplötzlich durchbricht ein greller Blitz die Wolken. Er reißt mich aus meiner Starre, gefolgt von einem Donner, den ich bis in die Knochen spüre.
„Maya?", fragt Julien aus der Ferne. Ich habe gar nicht bemerkt, dass er ins Café gekommen ist. „Alles in Ordnung?" Mit wenigen Schritten ist er bei mir. „Kann ich dir irgendwie helfen?"
Die angehaltene Luft entweicht meiner Lunge, Mein Blick hält sich an seinen braunen Augen fest. Sie sind schön und beruhigend und sicher.
„Ich wüsste nicht, wie", kommt es mir über die Lippen.
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