Die Führung des Wolfs
Wolf starrte gedankenverloren auf das Meer.
Seine Beine hatte er übereinander geschlagen und die Füße ließ er von der ungefähr hundert Meter hohen Klippe baumeln.
Hinter ihm hörte er das Jubeln des Stammes.
Er freute sich wirklich für Deer.
Acht Jahre ohne seine jüngste Tochter...
Schmetterling ähnelte unglaublich ihrer älteren Schwester.
Zwei so hübsche Mädchen...
Wolf seufzte tief.
Er wünschte, Clara wäre bei ihm oder er wäre bei ihr.
So lange ist es nun schon her, als er das letzte Mal ihr Lächeln gesehen hatte...
Und er würde es nie wiedersehen. Nie wieder.
Es war so unfair.
Wolf atmete tief durch und schloss die Augen, um Claras Bild aus seinem Gedächtnis zu vertreiben.
Nein, heute war ein Freundenstag, da sollte er nicht über Clara nachdenken.
Zum Glück war Schmetterling aus den Fängen der Piraten befreit worden...
Wolf musste an den Jungen Peter denken.
Wer war er wirklich?
Warum war er auf Nimmerland gelandet?
Er war doch bloß ein Mensch...
Und was wenn nicht?
Was war er dann?
Das musste Peter wohl allein herausfinden.
Doch Wolf hatte das eigenartige Gefühl, dass dem Jungen die Antwort nicht mehr allzu lang verwehrt bliebe...
Bis dahin würde Wolf einfach selbst mal ein wenig auf "Forschung" gehen und in Nimmerlands Geschichte herumstöbern... doch dafür müsste er bis zum Mount Tale wandern, der auf der anderen Seite der Insel lag und er wusste nicht, ob es in der jetztigen Situation so sinnvoll war, das Dorf zu verlassen, besonders wegen den Piraten.
Wolf seufzte erneut und erhob sich dann.
Er würde darüber nachdenken.
Doch zu allererst würde er Peter helfen gegen die Piraten anzukommen.
Die Aufgabe des Feenkönigs erstellte sich als äußerst schwierig.
Als Wolf sich zurück zum Dorf wandte, sah er Hook, der in einiger Entfernung den Rand des Dorfes verließ und sich an die Klippe stellte.
Wolf verzog das Gesicht.
Dieser Kerl war ihm nicht geheuer.
Eines war klar: Wenn Hook wollte, dass Wolf ihm jemals vertraute, musste er das mehr als nur einmal beweisen.
Bis jetzt war er für den Magier einfach nur ein Pirat.
Und Wolf hasste Piraten.
Er beachtete Hook nicht weiter und ging zurück ins Dorf.
Mal sehen wo Peter steckte und wie es ihm ging. Schließlich war seine Wunde noch nicht ganz verheilt.
Wolf sah sich suchend um.
Mittlerweile hatten sich die Leute schon wieder ein wenig beruhigt, doch heute Abend würde es garantiert noch ein Freudenfest geben.
Er drehte sich nach der Sonne um - ja, es dämmerte bereits.
Ganz langsam näherte sich der rote Feuerball immer weiter dem Meer.
Wolf beschleunigte seine Schritte und suchte mit den Augen nach Peter.
Wo steckte der Junge bloß?
Schließlich entdeckte er ihn am Rand des Dorfes.
"Peter!", rief Wolf schon von weitem und beschleunigte seine Schritte.
Peter drehte sich zu ihm um und grinste, als er Wolf erkannte.
Wolf kam vor dem Jungen zum stehen und sah auf ihn hinunter.
"Wie geht's dir?", fragte er besorgt und musterte Peters verbundenen Arm.
"Gut", antwortete Peter und an seinen Augen konnte Wolf ablesen, dass er es ernst meinte.
Er lächelte Peter breit an.
"Das freut mich", sagte er und wuschelte dem Jungen freundschaftlich durch das braune Haar.
Peter antwortete mit einen frechen Grinsen.
Wolf mochte diesen Jungen. Peter erinnerte den Magier ein bisschen an sich selbst, als er selbst noch als ein kleiner Junge seinen Schabernack auf der Erde getrieben hatte.
Peter war ihm da nicht ganz unähnlich.
"Komm", forderte Wolf Peter auf, "Gleich gibt es ein großes Fest, zu Ehren von Schmetterlings Rückkehr. Ich zeige dir die Feuerstelle und den Festplatz, wenn du möchtest."
Peter nickte sichtlich begeistert.
"Klar!"
Wolf grinste bloß als Antwort.
Er führte Peter zuerst zu der Feuerstelle, an dem der Stamm jeden Abend gemeinsam das Essen zu sich nahm.
Die Frauen bereiteten mittlerweile schon das frisch erlegte Fleisch zu und schnitten das Gemüse klein.
Es roch bereits verführerisch nach der Bratensoße, die aus einem ganz besonderen Stoff, den die Bienenvögel herstellten, und normalem Olivenöl zusammengerührt wurde.
"Ist da etwa Honig drin?", fragte Peter stirnrunzelnd, nachdem er hungrig den Duft der Soße eingesogen hatte.
Wolf lachte amüsiert auf.
"Nein", erwiderte er kichernd, "Nur weil sie Bienenvögel heißen, bedeutet das nicht, dass sie automatisch Honig herstellen, wie die Bienen bei euch auf der Erde.
Sie heißen Bienenvögel, weil sie genauso leben wie die Bienen. Es sind feengroße Vögel, die in einem Volk zusammenleben und ihrer Königin dienen.
Mit ihren langen Schnäbeln holen sie den Nektar aus den Silberblüten und stellen daraus eine silberne Flüssigkeit her, die wir Selesium nennen. Sie schmeckt absolut köstlich und wir benutzen sie fast zu jeder Mahlzeit. Deshalb sind die Bienenvögel auch sehr wichtig für unsere Lebensweise, wie für euch die Bienen."
Aus den Augenwinkeln bemerkte Wolf, wie Peter ein überraschtes Gesicht machte.
"Selesium?", wiederholte er verwundert und Wolf nickte.
"Ich merk schon, ich muss noch viel über Nimmerland lernen", murmelte Peter vor sich hin und schnupperte erneut nach der Bratensuppe.
"Ein wenig musst du dich noch gedulden.", sagte Wolf schmunzelnd. "Bald gibt's für alle was."
Sie verließen die Feuerstelle und betraten eine große Rasenfläche.
In ungefähr fünfzig Metern Entfernung standen in einer Reihe hölzerne Zielscheiben aufgestellt.
"Bogenschießen", sagte Wolf nur, als Peter ihn fragend ansah, "Das ist unser Übungsplatz. Bogenschießen gehört zu unserer wichtigsten Überlebens- und Jagdmethode. Deshalb wird hier jeden Tag ein paar Stunden traniert. Wenn du willst kann ich dir bei Gelegenheit die Techniken beibringen."
"Würde mich freuen", antwortete Peter und lächelte.
Wolf zeigte dem Jungen noch die Weiden auf denen die Mustangs grasten - wundervolle Pferde, die viel höher und weiter springen konnten als die Erdpferde. Und außerdem waren sie hier frei.
Würde den Stamm nicht eine tiefe Freundschaft mit der Herde verbinden, hätten sie keine Reittiere und diese waren sehr wichtig, besonders für Magier, die sich nur in ein sehr langsames Tier verwandeln konnten.
Wolf erklärte Peter, dass er selbst ab und zu reiten ging, weil er keine Lust hatte zu laufen, auch wenn ein Wolf mindestens genauso schnell rennen konnte wie ein Mustang.
Aber beim Reiten war man nicht allein, weshalb Wolf die Mustangs genauso vergötterte, wie alle anderen Magier des Stammes.
"Ich bin der einzige Wolf bei uns im Stamm", erzählte Wolf, während sie sich wieder von der Weide entfernten.
Wolf freute sich, dass Peter ihm so aufmerksam zuhörte.
"Deer zum Beispiel ist nicht der einzige Hirsch bei uns. Vor ein paar Jahren ist ein weiterer Junge mit dieser Verwandlungsgestalt auf die Welt gekommen.
Es gibt vier Schmetterlinge, aber Tigerlily ist die einzige Tigerin. Ihre Erscheinung ist immer sehr beeindruckend, wie ich finde."
"Deine auch", sagte Peter plötzlich.
Wolf lächelte ihn dankbar an.
Dann sah er hoch.
"Oh! Das Feuer brennt bereits. Komm, beeilen wir uns, sonst ist das Beste schon weg!"
Die Nacht war hereingebrochen.
Der Stamm beleuchtete mit Fackeln ihr Dorf, obwohl die drei Monde (Nimmerland hatte drei Monde) schon so viel Licht warfen, dass man dennoch alles relativ gut erkennen konnte.
Die Stimmung war sehr ausgelassen und alle hatten Lust am Feiern.
Peter und die andeen Waisenjungen aßen, bis ihnen die Bäuche wehtaten und danach tanzten sie laut lachend mit den anderen Magiern um das Feuer.
Wolf wollte heute lieber nicht tanzen.
Er liebte die Nächte, in denen nur das Feuer ihnen das nötige Licht bescherte und in solchen fühlte er sich einfach wohler.
Was sich natürlich für einen Wolf total seltsam anhörte, aber das kam dadurch, dass das Gerücht der Menschen, Wölfe heulten den Vollmond an, überhaupt nicht stimmte.
Wölfe heulten, um sich zu verständigen und niemand wusste das besser als Wolf.
Diese Nacht war nicht die beste für Wolf, denn in dunklen Nächten sah man die Sterne viel besser und Neumondnächte waren seine liebsten.
Dennoch freute er sich, dass es Peter und den Jungen gefiel und auch Schmetterling war total glücklich, endlich dort zu sein, wo sie hingehörte.
Dass Hook nicht da war, fiel Wolf nicht auf.
Als die Musik, die mit den Drums und Flöten gespielt wurde, verklang, kamen alle wieder zusammen und Deer hielt ein Rede. Alle hörten ihm aufmerksam und lächelnd zu.
"- Es freut mich so sehr, endlich wieder meine geliebte Tochter in die Arme schließen zu können. Das heutige Fest gilt ihr."
Lautes Jubeln von allen Seiten.
Deer lächelte strahlend.
Heute Nacht konnten noch nicht mal die drei Monde doller leuchten als der Häuptling.
"Ich freue mich so darüber, dieses Fest außerdem mit unseren Gästen feiern zu können", fuhr Deer fort und sah zu Peter und den anderen Jungen, "Sie sind uns hier sehr willkommen."
"Ich hoffe, wir sind auch eingeladen.", ertönte plötzlich eine dunkle Stimme aus den Bäumen heraus. Wolf und alle anderen zuckten zusammen.
"Wir wollen nämlich auch mitfeiern."
Die Stimme lachte höhnisch.
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