1. Kapitel
Millie
Ich trete näher an die große Glasfront in unserer Familienloge im Target Field und schaue auf den Rasen hinab. Immer noch fliegt vereinzelt Konfetti durch das Stadion und laute Musik schallt aus den Lautsprechern. Die Spieler der Lincoln Tigers luchsen sich immer wieder die Trophäe für den Gewinn der College Meisterschaft ab, um mit ihren Familien und Freundinnen Fotos zu machen. Letztes Jahr haben wir den Zuschlag für die Austragung des College-Finale bekommen. Damals hätte ich es mir niemals erträumen können, dass dort unten meine Freunde feiern. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt bereits, dass ich zum Studieren nach Lincoln gehen werde und auch, dass die Tigers eine gute Mannschaft sind. Aber ich hätte doch niemals ahnen können, dass vier dieser Jungs einmal meine Freunde sein werden. Noch dazu, dass die Freundin des Quarterbacks Denver Jones meine beste Freundin wird. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich bei Sienna das Gefühl diese gefunden zu haben. Und was habe ich meiner besten Freundin erzählt, als sie gefragt hat, ob ich Denver und sie zum Finale begleite? Ich muss lernen. Sowas Bescheuertes fällt auch nur mir ein, aber ich hatte keine andere Wahl. Denn niemand in Lincoln weiß, wer ich wirklich bin. Natürlich musste ich mich am College mit meinem echten Namen und weiteren Daten einschreiben, aber damit kann kaum jemand darauf schließen, dass ich aus einer der reichsten Familien des Landes stamme.
Meine Urgroßeltern haben ihr Geld im Goldrausch gemacht, bis mein Großvater in den 1980er Jahren sein Geld investieren wollte und die Minnesota Warriors gekauft hat. Darüber hinaus gehören uns noch Anteile an börsenorientierten Unternehmen, die nichts mit der Football-Franchise zu tun haben. Diese Unternehmen der McDonalds haben ihren Sitz in New York. Meine Familie ist stinkreich und genau das ist das Problem. Dadurch konnte ich nie echte Freunde finden. Ich wusste nie, ob sie an mir oder meinem Geld interessiert sind. Meine Schulzeit habe ich auf einer Elitemädchenschule verbracht. Der Großteil der Schülerinnen stammte aus Millionärsfamilien und war einen gewissen Standard gewöhnt. Von der breiten Masse hob sich das Vermögen meiner Familie deutlich ab.
So kam es, dass sich viele der Mädchen, die gern mehr gewesen wären als ihr Name und Kontostand ausgesagt haben, mit mir anfreunden wollen. Sie mochten mich nur, solange ich alles bezahlte. Irgendwann wurde ich sehr einsam. Darum habe ich meine Eltern gebeten, mich nicht nach Harvard, Stanford oder Yale zu schicken, wie es sich für eine Tochter meines Standes gehört, sondern nach Lincoln. Damit aber noch nicht genug. Statt in der schicken Stadtwohnung im teuersten Gebäude von Lincoln einzuziehen, die sie mir gekauft haben, habe ich mich hinter ihrem Rücken für einen Platz in einem Studentenwohnheim beworben. Nun lebe ich mit meiner furchtbar launischen Mitbewohnerin Amanda auf fünfzehn Quadratmetern mit einem Mini-Bad, statt in einer einhundert Quadratmeter Wohnung mit Dachterrasse. Es wäre nicht möglich, jemandem zu erklären, dass ich eine ganz normale Studentin bin, wenn ich in so einer Wohnung lebe. Sienna wird schon immer schief angeschaut, weil sie bei Denver lebt. Ihr Zimmer kostet fast doppelt so viel als meins. Vielleicht ist es nicht fair, dass ich einem Studenten ein bezahlbares Zimmer wegnehme, aber meine Familie spendet genug Geld.
Ich schäme mich nicht für meine Herkunft und ich liebe meine Eltern sowie meine Schwester über alles, aber ich brauchte Normalität am College. Ich wollte einmal eine von vielen sein. Das ist mir in Lincoln gelungen. Ich habe tolle Freundinnen gefunden und wurde herzlich in eine wundervolle Clique aufgenommen, die nebenbei auch noch mein liebstes Hobby – American Football – liebt und lebt. Im Zusammenhang mit dem Sport wäre ich ein besserer Junge gewesen. Wenn ich könnte, würde ich auch Football spielen, aber so arbeite ich am College lieber daraufhin die Minnesota Warriors eines Tages zu übernehmen.
An Tagen wie heute frage ich mich, ob es das alles wirklich wert ist. Ob ich mich nicht lächerlich verhalte und lieber dem Motto meiner Grandma folgen sollte, die immer gesagt hat:
»Millie, die Menschen mögen dich deines Charakters wegen und die, die nur an dein Geld wollen, haben deinen Charakter nicht verdient.«
In all den Jahren habe ich ihr das nie glauben können, weil ich immer auf die Nase gefallen bin. Sienna, Joy und Phoenix traue ich aber nicht zu, dass sie plötzlich von meinem Reichtum profitieren möchten. Bei den Jungs bin ich nicht sicher, weil es ihr oberstes Ziel ist, es in die NFL zu kommen. Eines Tages wird mir ein NFL-Club gehören, und vielleicht denken sie, dass sie, wenn sie nett zu mir sind, eher genommen werden. Was absoluter Quatsch ist, weil wir den Draft nicht beeinflussen können.
Ich schüttle die negativen Gedanken ab. Das bringt doch alles nichts. Ich muss eine Lösung für mein Dilemma finden. Mein Blick bleibt an Darren hängen und ich grinse dümmlich vor mich hin. Vom ersten Tag an bin ich bereits in ihn verknallt. Das Semester war erst wenige Stunden alt und ich war neu und hatte keinen Plan, wo ich hinmuss. Also habe ich mich an eine Wand in der Nähe der Cafeteria gestellt und wollte auf meinem iPhone den Gebäudeplan checken, als Darren und seine Freunde durch die Tür kamen. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass es sich bei ihnen um die drei Aushängeschilder des Football-Teams handelte. Das habe ich erst am Tag danach erfahren. Bis heute rede ich mir erfolgreich ein, dass er mir ein kurzes Lächeln zugeworfen hat. Ob das tatsächlich so war, bezweifle ich jedoch. Seitdem ich durch Sienna in die Clique kam, habe ich nicht das Gefühl, dass Darren sonderlich viel für mich übrighat. Er unterhält sich zwar immer wieder unverfänglich mit mir, aber richtiges Interesse zeigt er nicht.
Denver, Jake und er sahen an diesem Morgen aus wie die Götter des Colleges und ganz ehrlich? Das sind sie. Definitiv sind sie das und das wissen sie auch. Während Sienna ihren Gott gezähmt hat, himmle ich meinen immer noch an wie ein kleines Schulmädchen. Und so fühle ich mich auch. Meine Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht sind sehr gering. Und Darren vögelt alles, was er bekommt. Ich glaube, es gab keine Party in den vergangenen Monaten, auf der er kein Mädchen abgeschleppt hat. Joy, Sienna und Phoenix meinen, dass ich zur Vernunft kommen und ihn abhaken soll. Ich hätte etwas Besseres verdient, aber verdammt, ich will nur ihn. Immer mal wieder habe ich überlegt, ob ich mich von Joy stylen lasse, und mich damit unweigerlich aus meiner Komfortzone bewege, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Aber ich frage mich im selben Moment wieder, warum ich das tun sollte. Ich will mich nicht für einen Typen verbiegen, der denkt, eine Beziehung ist eine ätzende Substanz. Also schmachte ich Darren wohl noch mindestens ein Jahr aus der Ferne an, bis er zum Draft zugelassen wird und das College verlässt.
Wenn man auf eine reine Mädchenschule geht und dort noch eine Außenseiterin ist, ist es nicht leicht sexuelle Erfahrungen zu sammeln. Jetzt bin ich neunzehn Jahre alt und in den größten Player des Colleges verliebt.
»Hey.« Meine Schwester Maya tritt neben mich und grinst. »Wärst du gern bei ihnen?«
Wir verstehen uns sehr gut, das haben wir schon immer. Auch wenn Maya sechs Jahre älter ist als ich. Sie lebt mit ihrem Verlobten Preston in New York und arbeitet dort in der Football-Franchise. Sie hat mit Football nicht viel am Hut und möchte sich lieber um die Geschäfte rund um den Club kümmern.
»Sie sind meine Freunde«, sage ich. »Natürlich wäre ich gern bei ihnen.«
»Aber warum sagst du es ihnen nicht?« Ich weiß nicht, wie oft wir diese Diskussion schon geführt haben. Eigentlich tun wir es jedes Mal, wenn wir telefonieren. Für Maya kam es nie infrage, ihre Herkunft zu verschweigen, aber sie war von Kindheit an schon viel offener und selbstbewusster. Die Kuppelversuche unserer Mutter, einen jungen Mann aus unseren Kreisen zu finden, haben bei Maya auch viel besser funktioniert. Sie und Preston sind seit fast zehn Jahren zusammen. Ich hingegen bin eine gescheiterte Debütantin, die selbst für die langweiligen Typen zu schüchtern ist. »Irgendwann werden sie erfahren, dass du ...«
»Wir müssen das jetzt nicht wieder durchkauen, oder?« Ich werfe ihr einen genervten Blick zu und sie seufzt.
»Nein«, erwidert sie und nimmt mich in den Arm. »Welcher von den süßen Boys ist dein Darren?«
»Er ist nicht mein Darren«, erwidere ich und Hitze steigt mir in die Wagen. »Sag das nicht immer.«
Maya grinst mich wissend an und ich seufze. Ich hätte ihr niemals davon erzählen sollen, dass ich mich für ihn interessiere. Aber es war einer dieser Abende, an denen ich so furchtbar frustriert war. Darren hatte mal wieder eine Cheerleaderin mit nach Hause genommen und meine Freundinnen haben mich mitleidig angesehen. Zu Hause habe ich meine große Schwester angerufen und sie gefragt, ob ein Typ wie Darren jemals auf mich aufmerksam werden könnte. Mittlerweile fragt sie bei jedem unserer Gespräche nach ihm und ob etwas zwischen uns läuft. Ich verneine es wieder und wieder. Meine Schwester will nicht verstehen, dass niemals etwas zwischen uns laufen wird.
»Der mit der fünfzehn auf dem Trikot neben Sienna.«
»Heiß.« Maya pfeift anerkennend durch die Zähne, als Preston hinter ihr auftaucht und seinen Arm um ihre Hüfte schlingt.
»Ich hoffe du meinst mich.«
»Sorry«, kichert meine Schwester, dreht sich zu ihrem Verlobten herum und haucht ihm einen Kuss auf die Lippen. »Ich meine Millies Kerl.«
»Er ist nicht mein Kerl«, fauche ich und mein Gesicht muss die Farbe einer überreifen Tomate angenommen haben. Auf keinen Fall führe ich dieses Gespräch mit dem Verlobten meiner Schwester. Das ist mir peinlich. »Können wir bitte über etwas anderes reden?«
»Welcher ist es?«, erkundigt sich Preston grinsend und Maya gibt ihm liebend gern Auskunft. »Das ist dein Typ?«, will er wissen. »Ich hätte eher auf den Blonden daneben getippt.«
Preston zeigt auf Denver und ich muss laut lachen.
»Gott, nein.« Ich schüttle den Kopf. Sicher ist Denver auch heiß, aber er ist nicht mein Typ. Noch dazu ist er der Freund meiner besten Freundin. Und er ist nicht Darren. Unter seiner Footballmontur kann man seine vielen Tattoos leider nicht sehen, die ihn zusätzlich wahnsinnig sexy machen. »Außerdem ist er der Freund meiner besten Freundin.«
»Die auch nicht weiß, wer du bist«, wirft Maya mir vor und ich nicke. Ich muss es zumindest meinen Freundinnen erzählen ...
Aber Sienna wird es Denver sagen und wenn er es weiß, werden es auch bald Darren, Jake und Tyler erfahren. Und mit denen schließlich das gesamte Footballteam. Nachdem ich sie über ein halbes Jahr belogen habe, weiß ich nicht, wie ich es ihnen erklären soll.
»Wieso sagst du es ihnen nicht?«, fragt Preston, als wäre es das Einfachste der Welt nach einem halben Jahr meine Identität preiszugeben. »Wenn sie deine Freunde sind ...«
Das Klingeln meines iPhones unterbricht Prestons Versuch mir ins Gewissen zu reden. Ich ziehe es aus meiner Tasche.
Ich blende Preston und Maya aus. Wie zu erwarten, haben Joy und Sienna Fotos und Nachrichten in die Gruppe geschickt.
Joy: Du verpasst was, Millie Maus!
Ich lache leise. Leider verpasse ich es, heute Abend wahrhaftig mit ihnen zusammen zu sein. Anwesend bin ich jedoch. Zum Glück mussten Maya und ich nicht während der Siegerehrung neben unserem Grandpa stehen, um die Trophäe zu überreichen. Denn dann wäre meine Lüge ganz sicher aufgeflogen. Auch Sienna schickt eine Nachricht.
Sienna: Es ist unglaublich, Süße!!!
Ein Foto von Joy und ihr, als nächstes ein Foto von Denver und Sienna wie sie mit der Trophäe posieren. Ein weiteres Foto von Tyler und Joy sowie von Darren, Denver, Tyler und Jake mit der Trophäe. Dumm wie ich bin, zoome ich das Foto natürlich auf Darrens Körper, und danach sein Gesicht heran und betrachte ihn. Ich lasse meine Finger über das Display gleiten und seufze. Wie gern wäre ich bei ihm auf dem Feld und er würde mich im Arm halten, wie Denver es bei Sienna tut. Aber das ist nur Wunschdenken. Darren und ich werden niemals mehr sein als Freunde. Wenn wir überhaupt Freunde sind. Manchmal bin ich mir nicht mal sicher, ob er mich über unsere Gruppengespräche und förmliche Begrüßungen schon mal wahrgenommen hat.
Phoenix ist seit einer Woche in Bristol, um Work & Travel in Europa zu machen. Hoffentlich weiß sie danach, was sie mit ihrem Leben und ihrem Studium anfangen möchte.
Phoenix: In Bristol ist es 6AM ... Glückwunsch!!! Vermisse euch!!!
Millie: Ihr müsst mir nächste Woche alles erzählen!
Ich muss mir dringend überlegen, wie ich ihnen die Wahrheit sage, obwohl ich in Lincoln einfach wieder untertauchen könnte. Denn dort würde niemand auf die Idee kommen zu hinterfragen, wer ich bin und wo ich herkomme. Was bisher nicht geschehen ist, wird auch in Zukunft nicht passieren. Ich bin eine von zigtausend Studentinnen. Eine von vielen, so wie ich es mir immer gewünscht habe.
Millie McDonald – die fleißige Studentin und graue Maus – und nicht Millie McDonald – die Erbin der Minnesota Warriors.
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