Kapitel 4
Kapitel 4
„Der Schlüssel ist hier im Saal versteckt, viel Glück", erklimmte es aus den Lautsprechern.
Verwirrt schauten Naomi und ich uns an. Ich dachte, der Test bestehe hauptsächlich aus Fragen, doch scheinbar mussten wir auch andere unserer Fähigkeiten unter Beweis stellen. Fragende Blicke machten sich breit, scheinbar war ich nicht die Einzige, die mit einem anderen Testverlauf gerechnet hat.
„Scheiße, was machen die, wenn wir den Schlüssel nicht finden? Die lassen uns doch nicht einfach hier drinnen oder? Juliette, so war das doch alles gar nicht geplant", sagte sie panisch und beugte sich zu mir rüber, sodass nur ich etwas von ihrer aufkommenden Angst mitbekommen konnte. „Kein Grund zur Sorge, der Test würde uns niemals etwas antun, was uns nicht gut tun würde", antwortete ich möglichst ruhig. Naomi tendierte leider dazu immer schnell in Panik zu verfallen, wenn etwas nicht nach Plan lief. Alleine, dass sie meinen ganzen Namen und nicht meinen Spitznamen sagte, verdeutlichte dies.
„Das ist bestimmt nur so 'ne Vertrauensübung, die zeigen soll ob wir Leuten blind vertrauen können", murmelte der Rothaarige an meinem Tisch und schritt entschlossen zur Tür, wo er dann von dem Jungen, der schon zuvor vergeblichst probiert hatte die Tür zu öffnen, genervt empfangen wurde.
„Was willst du?", fragte der Junge und blickte herablassend auf meinen Tischnachbarn hinunter. „Prüfen, ob die Tür auch wirklich zu ist, oder ob das hier nur ein Test ist, ob wir blind auf mächtig wirkende Person vertrauen", entgegenete er gelassen. Die zwei Mädchen hinter dem Jungen fingen an zu Lachen und schauten ihn mit hochgezogener Augenbraue an. „Aus welchem Psycho-Buch hast du das denn?", fragte das eine Mädchen und schaute belustigt auf ihn herunter.
„Lasst ihn doch einfach kurz gucken", hörte man aus der hinteren Ecke des Saales eine tiefe Stimme bitten. Ohne eine Antwort abzuwarten legte mein Tischnachbar seine Finger um die Klinge und drückte sie nach unten.
Nichts.
Seine Theorie ging also leider nicht auf, und die Tür war wirklich verschlossen.
„Bist du jetzt zufrieden?", lächelte der Muskelprotz ihn provokant an. „So, bevor noch irgendjemand anderes hier auf dumme Ideen kommt wie mein kleiner Freund", er schlug ihm, in meinen Augen, ein Ticken zu doll auf seine Schulter, „werden wir das jetzt strategisch angehen. Wir teilen den Raum in drei Teile, Tisch 1 sucht die linke Hälfte des Raumes ab, Tisch 2 die rechte und Tisch 3 teilt sich selbstständig einer Hälfte zu, Fragen?"
„Das ist ja eine schöne Einteilung in drei Hälften", flüsterte ich meiner besten Freundin zu, die endlich etwas schmunzeln musste und somit nicht komplett in Panik verfiel.
„Auf was wartet ihr, fangt an zu suchen, ich will nicht die Loser-Gruppe sein, die als letztes hier rauskommt", rief er deutlich lauter als zuvor in den Raum. Nun wurde also fleißig gesucht, Tische angehoben, hinter Vorhänge geschaut, während die Elite-Gruppe „Muskelprotz plus Anhänger" es sich vor der Tür gemütlich machte und sich ständigen Nachschlag vom Buffet holte.
Inzwischen sind bestimmt schon 15 Minuten der erfolglosen Suche des Schlüssels vergangen und so langsam verloren wir alle die Lust am Suchen. Mich persönlich störte aber eine andere Sache ganz gewaltig, nämlich die Ungerechtigkeit, die mit dieser Suchaufteilung umher ging. Die Teilnehmer der Elite-Gruppe hielten sich definitiv für was besseres und hielten es nicht für nötig mitzuhelfen. Und wenn ich eins hasste, dann war es Ungerechtigkeit.
Als ob jemand meine Gedanken lesen könnte, traute sich ein kleines Mädchen, mit kurzen blonden Haaren, die Elite-Gruppe mit diesem Problem zu konfrontieren.
„Sonst geht's euch gut oder? Sollen wir euch vielleicht noch Nachschub holen, damit ihr bloß nicht Aufstehen müsst?", fragte sie mit gespielt mitleidiger Miene. Sie trat einen weiteren Schritt vor.
„Oder ihr bewegt verdammt nochmal eure Ärsche und fangt an mit zu suchen. Wir wollen hier alle so schnell wie möglich raus und dafür müssen leider auch Prinzchen und Prinzesschen was zu beitragen", geschockt über die direkte Wortwahl der Blondine, starrten sich die beiden Mädchen ungläubig an.
„Sie hat Recht." „Ja, helft mit!" Es wurden nun immer mehr, einschließlich meiner Tischgruppe, die sich vor die drei stellten. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als nachzugeben.
Immer mehr Zeit investierten wir in die Suche nach diesem blöden Schlüssel und so langsam wand sich auch meine Geduld dem Ende zu.
Eine quengelnde Naomi neben mir machte das ganze auch nicht besser. Ratlos blickte ich mich im Saal um und der Rothaarige stellte sich neben mich.
„Ist vielleicht gerade nicht die richtige Situation dafür, aber Danke für eben", sagte er lächelnd und drehte sich zu mir. Ich musste kurz nachdenken, um mich an die Muschel Sache am Tisch zu erinnern. Ich meinte es ja bereits, dass mein Gedächtnis nicht das Gelbe vom Ei war.
„Achso, klar, kein Problem, ich hatte sowieso schon die ganze Zeit das Bedürfnis denen mal meine Meinung zu sagen", antwortete ich und lächelte.
„Ich bin übrigens Theo", stellte er sich vor und gab mir die Hand. „Juliette", antwortete ich und musterte ihn währenddessen etwas genauer. Er hatte rote, kurze Locken und hellblaue Augen – eine ungewöhnliche Kombination. Außerdem war er ziemlich blass, aber das konnte auch an der mittlerweile sehr schlechten Luft im Saal liegen. Im Augenwinkel sah ich, wie der Muskelprotz zum Sprechen ansetzte, und ich wusste jetzt schon, dass nichts Schlaues bei rauskommen würde.
„Hey, alle mal zuhören. Was ist, wenn der Schlüssel gar nicht versteckt wurde, sondern einer Person gegeben wurde, sodass wir den Schlüssel gar nicht finden können? Also um uns zu verwirren?", stolz präsentierte er seine Idee, und ausnahmsweise war das gar nicht so dumm, wie ich erwartet hatte - Wahrscheinlich sogar das erste Sinnvolle, was er heute gesagt hat. „Und wie genau wollen wir das herausfinden?", fragte das etwas größere Mädchen von den beiden skeptisch. „Durchsuchen"
Ich stand in der Reihe neben meinem alten Tischnachbarn, dem mit den blauen Augen und merkte, dass sein Atem deutlich schneller ging, als er sollte. Hatte er den Schlüssel?
Emily, eines der Mädchen aus der Elite-Gruppe fing an ihn zu durchsuchen und tastete ihn langsam ab. Sie strich sanft über sein T-Shirt, was seinen sportlichen Oberkörper vorteilhaft betonte, und glitt langsam weiter runter. Sie wühlte in seinen Hosentaschen verdächtig lange. Wahrscheinlich aber nicht nur des Schlüssels wegen.
Ungeduldig blickte der Junge umher. „Fertig?", fragte er mit tiefer Stimme und das Mädchen beugte sich auf. „Jetzt schon", sie lächelte ihn verführerisch an, doch er zeigte keinerlei Reaktion.
Mich durchsuchte sie innerhalb weniger Sekunden und führte dann, gemeinsam mit dem Muskelprotz und dem anderen Mädchen, die Durchsuchung weiter. Naomi war als letzte an der Reihe. Ich spürte ihre Anspannung und Angst bis hierhin. Innerlich machte ich mich schon darauf gefasst dem Typen fertig zu machen, wenn er auch nur einen dummen Spruch ihr gegenüber fallen lassen würde.
Entgegen meiner Erwartungen redete er aber nur friedlich auf sie ein und schaffte es tatsächlich sie ein wenig zu beruhigen. Er tastete sie schnell ab und strich ihr dann auch noch eine Träne aus dem Gesicht. Ich traute meinen Augen kaum. Wer hätte gedacht, dass noch so viel hier im Saal, ich blickte zur Tür hin, 132, passieren würde.
Plötzlich traf mich ein Gedankenblitz und die Durchsage spielte sich in meinem Kopf erneut ab. Immer wieder. Der Schlüssel ist hier im Saal versteckt, viel Glück – Schlüssel, Saal, versteckt. Saal. Es war, als würde plötzlich alles Sinn ergeben und sich die Puzzleteile in meinem Kopf zu einem Ganzen zusammenfügen. „Er ist im Saal versteckt."
Ohne noch einen Moment länger zu vergeuden, trat ich aus der Reihe und lief zur Tür. Neben ihr befand sich ein kleines Schild mit der Aufschrift „Speisesaal 132". Ich hoffte, mein Bauchgefühl täuschte mich jetzt nicht, anderenfalls könnte es gleich ziemlich peinlich werden. Meine Finger fuhren über den Schriftzug und blieben bei der fast unmerklichen Hebung bei „Saal" hängen. Instinktiv zog sich ein Lächeln über meine Lippen. Ich hatte Recht.
„Was zur Hölle machst du da?", fuhr mich eines der Mädchen an, doch ich schenkte ihr keinerlei Beachtung, zu fixiert war ich auf mein Vorhaben.
Ich kratzte das Wort immer weiter auf, doch meine Nägel ließen schnell nach und eines der Mädchen, die sich am Tisch über Theo lustig gemacht haben, kam mir wortlos zur Hilfe und kratzte das Wort weiter auf. Es dauerte nicht lange, bis schließlich hinter dem Schriftzug ein kleiner Schlüssel zum Vorschein kam. Ich traute meinen Augen kaum. Ich hatte es geschafft.
Als nach und nach immer mehr Leute das kleine silberne Schätzchen hinter dem Wort erblickten, löste sich die Anspannung im Saal, die sich bis eben immer weiter aufgebaut hat und drohte, uns alle verrückt zu machen. Naomi fiel erleichtert zu Boden, einige klatschten und selbst Emily, die mich bisher keines Blickes gewürdigt hat, umarmte mich.
„Es war in dem Wort Saal versteckt, und nicht in diesem Saal", fasste sich Emily an die Stirn und lachte erleichtert auf.
Langsam kehrte wieder die anfängliche Ruhe ein und von der angespannten Stimmung vor etwa drei Minuten, war nichts mehr zu spüren. So schnell konnte es gehen. Gar nicht realisierend, was soeben passiert ist, blickte ich zu Naomi, welche mir ein stolzes Lächelnd schenkte. Das liebte ich an ihr. Sie würde niemals auf die Idee kommen mir etwas nicht zu gönnen, stattdessen freute sie sich einfach mit.
Anfangs hätte ich das wirklich nicht gedacht und habe mit vielen Vorurteilen auf sie geschaut. Verwöhnt, arrogant und eine Nichtsgönnerin. Doch nichts davon stimmte und mir war es selbst ein wenig peinlich, welches Schubladendenken ich damals an den Tag gelegt hatte. Vielleicht war das auch der Grund, warum ich die Mädchen so unsympathisch fand, die sich ständig über andere lustig machten, ohne zu wissen was hinter dem Menschen steckte.
„Herzlichen Glückwunsch Gruppe 132, ihr habt Phase 2 erfolgreich absolviert und könnt nun mit der letzten Phase, Phase 3, in eurem Raum mit den Betreuern, beginnen."
Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich nicht stolz auf mich wäre. Anerkennung war etwas, was man vor des Verfahrens nur selten zu spüren bekommen hatte. Paare bekommen Anerkennung, doch ein Einzelner? Nur selten.
In diesem System wirst du immer als unvollständig angesehen, solange du keinen Partner hast. Alleine warst du nicht viel Wert, doch als Paar bist du vollständig. Erst, wenn du in einer glücklichen Partnerschaft bist, wirst du von dem System anerkannt und wertgeschätzt.
Und schon bald würde ich, hoffentlich, zu den glücklichen Paaren dazugehören.
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