Kapitel 29
Kapitel 29
Es dauerte noch nicht einmal einen Wimpernaufschlag, bis sich die Option „Rauslaufen-und-alles-aufgeben" als eine echte Alternative erwies. Ich betrat als letzte den aufwendig dekorierten Raum, um mit Bedauern festzustellen, dass selbst die schöne Einrichtung mich noch nicht einmal ansatzweise von der Tatsache ablenken konnte, dass mir der Großteil meiner Gruppe allzu bekannt war.
Mit Bedauern schaute ich in das besorgte Gesicht von Leandro und auch, wenn ich es mir schon fast denken konnte, wollte ich es nicht wahrhaben, dass von uns beiden höchstens einer übrig bleiben würde. Es sickerte nämlich von anderen Teilnehmern die Information durch, dass aus jedem Raum nur 1-2 Sieger hervorgehen sollten und die Aufgaben innerhalb des Raumes immer schwieriger werden würden, sofern nicht genügend Leute ausschieden.
Dass Leandro und ich in eine Gruppe eingeteilt wurden, überrascht mich demnach wenig, denn so oft wie man uns zusammen gesehen hatte, war es nur eine Frage der Zeit, bis jemand erfuhr, dass wir eine engere Beziehung zueinander hatten, als zu anderen Kandidaten.
Ich wollte es hier nicht ohne Leandro aushalten, außerdem würde logischerweise unsere Chance auf die Stelle sinken, wenn einer von uns ausscheiden sollte. Aber noch weniger wollte ich selbst das Auswahlverfahren verlassen.
Mein ratloser Gegenüber schien das Dilemma ebenfalls erkannt zu haben, doch letztendlich änderte auch dies nichts an der Verzwickheit unserer Lage und der hohen Wahrscheinlichkeit, dass höchstens einer von uns beiden weiter kommen würde.
„Juliette!", Rosa begrüßte mich mit einer Mischung aus Freude und Trauer und nahm mich in den Arm. „Hey", erwiderte ich leise. Im gleichen Moment kam mir der Gedanke, dass ich mit einer unsicheren Erscheinung wohl ein leichtes Opfer abgab und bemühte mich sofort um eine selbstbewusste Haltung.
Neben Rosa, Leandro und mir zierten noch zwei weitere Personen den Raum. Ein großer, schlanker Junge mit blonder Haarpracht, welcher sich als Michal vorstellte und eine Blondine, mit genervten Blick, die es noch nicht mal nötig hielt uns ihren Namen zu verraten, geschweige denn zu lächeln. Irgendwoher kannte ich ihr Gesicht, doch noch konnte ich mir nicht erschliessen woher. Als sich unsere Blicke dann jedoch zufällig trafen und sie ein gefährliches Grinsen aufsetzte, wurde mir schmerzlich bewusst, woher ich diese grimmige Mitbewerberin kannte. Dieses Grinsen kam von einer Frau, die alles dafür tun würde, um mit deinem Partner zusammen zu kommen. Sie würde dich sogar auf einer Firmenfeier mit einem Messer im Badezimmer attackieren, weil dein Partner angeblich für sie bestimmt sei. Das letzte Mitglied der Gruppe war Janine, Theos verrückte Arbeitskollegin. Ihren schlecht blondierten Haare sorgten wahrscheinlich dafür, dass ich sie auf den ersten Blick nicht erkannte.
„So sieht man sich also wieder, Süße. Mit so vielen Pickeln im Gesicht hatte ich dich gar nicht in Erinnerung", provozierte sie mich und setzte ein süßes, unschuldiges Lächeln auf, was mich schmunzeln ließ. Mit diesem Verhalten würde sie sich schon noch selbst disqualifizieren. Wer wollte schon einen Betreuer, der sich so unreif wie eine 5-Jährige verhielt? Tatsächlich hatte sie aber Recht mit der Zunahme meiner Pickel, denn die stressige Zeit momentan machte sich auch an meiner Haut bemerkbar.
„Hey Janine, freut mich dich wieder zu sehen, letztes Mal schienst du etwas", ich machte eine kurze Pause, „aufgebraust gewesen zu sein. Ich hoffe dir geht es nun besser", vollendete ich meinen Satz und setze ein noch süßeres Lächeln auf, was nur schwer von ihr zu überbieten war.
Janine wollte mir vermutlich gerade tausende Beleidigungen an den Kopf werfen, als sie von einer hellen Computerstimme unterbrochen wurde.
„Willkommen Gruppe 4. Ich werde Sie die nächsten Stunden mit kleinen Aufgaben füttern und Ihre Gruppe anleiten. Doch zuerst ziehen Sie erstmal den Zettel vom Tisch, der mit Ihrem Namen beschriftet ist, um herauszufinden, wer Ihr Zielobjekt ist."
Es dauerte nicht lange, bis alle hastig zum Tisch liefen. Mein Herz schlug schneller und ich hoffte inständig darauf, nicht Leandros oder Rosas Namen auf meinen Zettel lesen zu müssen. Besorgt öffnete ich den Zettel und stellte erleichtert fest, dass Janine mein Opfer war. Besser hätte es eigentlich nicht kommen können. Die Informationen über sie kannte ich zum Großteil bereits, oder hätte ich mir zumindest denken können.
Partner gestorben, angemeldet für Zweitverfahren, Softwareentwicklerin. Schwächen: Hitzkopf, Stolz. Meine anfängliche Freude verflog jedoch sofort, als ich die Aufgabe las, denn dann wurde mir klar, dass es für mich fast unmöglich war, als Sieger der Aufgabe hervorzugehen.
Meine Aufgabe war es, Janine dazu zu bringen, mich zu umarmen.
Schnell setzte ich mein Pokerface auf und probierte anhand der Reaktionen der anderen festzustellen, wer wen aus dem Verfahren herausschmeißen sollte. Da jedoch alle die gleiche Idee wie ich hatten, einen emotionslosen Ausdruck an den Tag zu lesen, war mein Versuch erfolglos. Einzig auf Leandros Gesicht meine ich ein Hauch von Erleichterung aufblitzen gesehen zu haben. Das würde bedeuten, dass wir doch beide die Chance hatten weiter zu kommen. Ich nahm mir vor ihn schnellstmöglich zu fragen, wer sein Opfer war, sodass wir im Team arbeiten konnten, denn ich konnte weder den fremden Jungen, noch Rosa einschätzen, auch wenn ich bei letzterer ein wesentlich besseres Gefühl hatte.
„Wir werden nun die nächsten Stunden miteinander verbringen, wie wär's, wenn wir uns ein bisschen kennenlernen?", startete Michal das Gespräch und schaute mit hochgezogenen Augenbrauen in die Runde. Auf Begeisterung traf er allerdings nicht bei allen. Janine verdrehte die Augen und gab ihm damit zu verstehen, dass sie definitiv niemanden von uns näher kennenlernen wollte.
„Na gut, dann fang ich mal an. Ich bin Michal, 20 Jahre alt, Chemiker und komme aus dem Osten. Außerdem mag ich Basketball. Was ich nicht so gern mag, sind Menschen die unfreundlich sind und denken, sie seien etwas besseres", freundlich blickte er zu Theos kranken Verehrerin, welche allerdings keine Regung zeigt.
Alle stellten sich vor und am Ende gab sogar Janine wenige Informationen über sich Preis. Gerade als die Gruppe so langsam warm miteinander wurde, fuhr die Computerstimme mit ihren Anweisungen fort.
„Sie dürfen sich nun an die Tische setzen. Dort steht für jeden von Ihnen ein Tablet, auf denen Sie Fragen zu der Entstehung unseres Landes und unseres Systems beantworten könnt. Bei richtiger Beantwortung können Sie Extrapunkte für die nächsten Aufgaben ergattern. Bei falschen Antworten gilt das Gegenteil. Währenddessen ist natürlich weiterhin alles erlaubt. Sie können die Fragen auch später bearbeiten. Viel Glück."
Wortlos setzten sich die ersten an die Tische. Meine Gruppe verfiel jetzt in ein langes Schweigen, was mir in dem Moment nur recht sein konnte. Denn jetzt musste ich mich konzentrieren. Ich tippte auf die erste von zwei Fragen.
Wie ist das Land und das Verfahren entstanden? Beschreiben Sie die Entstehung so ausführlich wie möglich.
Natürlich hatte ich mich vorbereitet. Die letzten Woche machte ich die Bibliotheken zu meinem Zuhause und studierte unsere Geschichtsbücher, sodass ich das Geschriebene fast eins zu eins wiedergeben konnte, was mich dank meines Gedächtnis verdammt viel Zeit gekostet hatte. Ich begann also damit, jede einzelne Information, die auch nur im entferntestem mit dieser Frage zu tun hatte aus meinem Gedächtnis aufzurufen und nieder zu schreiben.
Vor genau 412 Jahren war unser Land einst in viele unterschiedliche Länder und Kontinente unterteilt. Auch wenn sich verschiedene Völker und Länder bekriegten und auszulöschen probierten, war ein Leben auf der Erde möglich. Der Klimawandel machte sich immer bemerkbarer, doch niemand schien sich in der Verantwortung dazu zu fühlen, das eigene Zuhause zu retten. Immer mehr Menschen starben an Naturkatastrophen und ihren Folgen und noch immer erkannte man den Ernst der Lage nicht.
Am 28.06.2190 begann dann mit einem Mal das Massensterben. Das Grundwasser wurde mit einem neuartigen Gift verpestet, welches seine tückische Wirkung erst nach 14 Tagen zeigte. Zu diesem Zeitpunkt war es jedoch schon zu spät. Fast alle Menschen, die bis dato überhaupt noch auf der Erde lebten und nicht an den Folgen des Klimawandels starben, verunglückten an dem Herzinfarkt, welcher aus der Berührung oder Zunahme des Giftes resultierte. Nur noch eine kleine Gruppe von etwa
950 Leuten besiedelten nun die Erde.
Wie genau es zu diesem Unglück kam, ist bis heute ungeklärt. Es kursieren Verschwörungstheorien, wie jene, dass einer der übrig geblieben das Gift entwickelte und mit Absicht als Mordwaffe nutze. Naheliegender seien jedoch die Folgen des Klimawandels oder den vielen Ölkatastrophen auf dem Meer, die zu diesem Unglück führten.
Unten den 950 verbleibenden befand sich auch Mi-Cho, welche als Gründerin des Landes gilt. Ein Zitat aus einer früheren Rede: „Es liegt nun an uns, diese Welt wieder aufzubauen. Wir dürfen trauern, doch wir dürfen nicht vergessen, dass wir nochmal neu beginnen können. Mit einer kleineren Bevölkerungsrate und weniger Platz, den wir brauchen, können wir es schaffen, neu anzufangen. Eine neue Welt aufzubauen.
Mit einem besseren Umweltbewusstsein und den bisherigen Erfindungen zur CO2-Einsparung kann es uns gelingen im Frieden mit der Natur zu leben.
Nennen wir es „das Land", was neutral für alle Herkünfte stehen soll und niemanden ausgrenzen soll, denn wir sind die Überlebenden, die unseren Nachfahren eine perfekte Welt zum Leben geben sollen."
Mi-Cho entwickelte gemeinsam mit einer Reihe von Akademikern das Verfahren, dass zum einen für Ordnung und eine gleichbleibende Bevölkerungsrate im neuen Land sorgen sollte, zum anderen aber auch die Produktivität und Zufriedenheit der Bürger steigern sollte. Denn bereits vorher durchgeführte Studien haben verraten, dass die Anzahl an unglücklichen Partnerschaften oder Beziehungslagen innerhalb kürzester Zeit deutlich gestiegen ist.
Unter den 950 Überlebenden befanden sich auch Psychologen, Informatiker, Maschinenbauer, Chemiker und Ärzte, die maßgeblich zu der Entstehung der neuen Welt und somit auch zu der des Verfahrens beitrugen.
Seitdem leben wir im Jahre 412, da man sich von der alten Jahreszählung und damit der ursprünglichen Welt vollkommen entfernen wollte.
Ich hätte vermutlich noch fünf Mal so viel über die Entstehung unseres Landes schreiben können und vor Allem hätte ich noch ein paar wichtige Informationen hinzufügen können, die die Regierung wahrscheinlich jedoch nicht hören wollte, doch ein lautes Poltern hielt mich davon ab.
Mein Blick schellte nach rechts und ich sah Janine zuckend auf dem Boden liegend. Ihre Augen starrten ins Leere und ihr Körper krümmte sich, als würde sie gerade mehrere Elektroschöcke durchleben. Zudem trat eine orangene Flüssigkeit aus ihrem Mund, was der Situation noch mehr Grausamkeit verlieh.
„Michal", krächzte sie hilfesuchend mit letzten Worten, doch niemand in diesem Raum wusste, was das zu bedeuten hatte.
Und ob Janine wirklich zu trauen war.
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