Kapitel 22
Konzentriert schliff ich die letzten Reste aus der Mascara über meine Wimpern. Mit dem dezenten Lippenstift vollendete ich mein Make-Up und blickte zufrieden im Spiegel. Meine dunklen Locken fielen mir sanft über den weißen Blazer, welchen ich mir extra für das Bewerbungsverfahren zugelegt habe. Ich fühlte mich zurückversetzt zu dem Tag vor dem Hauptverfahren. Dem Tag an dem sich alles veränderte, und der Grund, warum ich wieder mich auf ein Verfahren vorbereitete.
Ich realisierte ich noch gar nicht, was heute auf mich zukommen würde. Meine Eltern befürworteten meine Entscheidung und wünschten mir viel Glück, als wir sie gestern noch besucht haben. Wahrscheinlich würde sich deren Meinung ändern, wenn sie wüssten, was für mich auf dem Spiel stand.
Auch Theo war der Meinung, dass es eine gute Chance für mich war, um endlich auf der Karriereleiter aufsteigen. Lustig, dass wenn mein Plan nicht aufgehen sollte, ich mit einem Ruck von der Karriereleiter fallen, der mir mein Genick brechen würde.
Mit der Bewerbung zum Bewerbungsverfahren wurde uns eine Adresse zugeschickt, an der sich die Auswahl des passenden Bewerbers austragen soll. Königsplatz an der Loun. Ich hatte noch nie von diesem Platz gehört, und selbst von der nächstgelegenen Straßenbahnstation war ein 25-minütiger Fußweg zu erklimmen, war ziemlich untypisch für das gut vernetzte Straßennetz des Landes war. Nichtsdestotrotz machte ich mich zuversichtlich auf den Weg zum nächsten Bahnhof.
Theo war bereits arbeiten, sodass ich abschloss, als ich aus der Wohnung trat. Ich habe mir den Abschied irgendwie spektakulärer vorgestellt. Natürlich kann ich aber meine Eltern nicht weinend um die Arme fallen und sagen, dass sie sie liebe, nur weil ich zu einem Bewerbungsverfahren eingeladen wurde. Ich habe Liv einen Brief gegeben, falls ich nicht mehr zurückkommen sollte.
Plötzlich meldete sich mein schlechtes Gewissen. Auch wenn ich keine Gefühle für Theo hegte, wollte ich ihn nicht einfach so unwissend zurücklassen. Ich drehte mich um und schloss die Wohnungstür nochmal auf. Schnell griff ich ein Stift und ein Blatt Papier und fing an zu schreiben. Dann dachte ich aber an den mysteriösen Anruf zurück, der mich vor einer Gefahr warnte und entschloss mich dazu, keine Informationen preis zu geben, mit denen man Rückschlüsse auf die Anderen ziehen könnte. Auch, wenn es extrem unrealistisch war, dass die potenzielle „Gefahr" diesen gefalteten Zettel in der hintersten Tampon Packung im Bad auffinden würde.
Wenig später kam ich an der besagten Adresse an. Aber weder erwartete mich ein spektakulärer Empfang, wie ich es mir insgeheim erhofft hat, noch eine einzige Menschenseele auf diesem Platz. Er war umgeben von einem Wald, den ich schon auf dem Weg zu diesem Betonplatz erahnen konnte. Langsam schritt ich zur Mitte des Platzes und fühlte mich dabei wie eine Maus, die kurz davor war, in ihrer Mausefalle zu tappen. Der Wind raschelte durch die Bäume und ich bildete mir ein, Silhouetten eines Menschen hinter der großen Klaffen des Waldes zu erkennen, aber jedes Mal, wenn ich mich umdrehte, erinnerte mich daran, dass ich in Wirklichkeit alleine war.
Ich überlegte fieberhaft, war ich nun tun sollte. Gehörte das alles schon zum Auswahlverfahren? Schließlich habe ich noch nie von diesem Platz gehört und ich kann mir gut vorstellen, dass sich die Regierung etwas Außergewöhnliches einfielen ließ, um die Teilnehmerzahl zu minimieren. Oder habe ich mich einfach vertippt? Innerlich verdrehte ich die Augen. Natürlich habe ich die Adresse beim Abtippen etliche Male überprüft. Es ist unmöglich, dass mir ein Fehler unterlaufen ist. Aber was, wenn doch verpasste ich womöglich gerade das Verfahren, was unser komplettes Leben verändern könnte?
Mein Herz fing an schneller zu schlagen. Ich durfte mich nicht verrückt machen. Langsam begann ich von 78 rückwärts zu zählen und machte mir dabei immer wieder bewusst, dass kein Grund zur Panik bestand. Und dann, gerade als ich wieder zu meiner normalen ruhigen Haltung zurückkam, sah ich eine Person durch den Wald huschen. Es war unmöglich, dass ich sie mir nur eingebildet hat.
Schnell schaute ich auf meine Uhr. Noch genau eine Minute und fünf Sekunden, bis das Auswahlverfahren beginnen würde. Wäre ich nun am falschen Ort gewesen, wäre ich woanders sowieso zu spät dran.
Kurzerhand nahm ich meine Beine in der Hand und fing an zu laufen. Schon nach wenigen Sekunden merkte ich, wie mir bei meinem Sprint die Puste ausging. Ich verfluchte mich für meine schlechte Ausdauer. Aber mein Ehrgeiz war größer, als meine schlechte Fitness. Noch zumindest.
Ich rannte durch den Wald. Äste, Büsche und Wege verschwammen zu einem Bild, die gewaltigen Baumkronen sorgten für eine bedrohliche Atmosphäre. Je länger ich lief, desto mehr überdachte ich meine Entscheidung, ohne wirklichen Plan loszurennen. Ich will gerade anhalten, als mir plötzlich ein winziges Schild ins Auge fiel.
Es war leicht zu übersehen, weil es sich mit den unterschiedlichen grünen Nuancen des Waldes tarnte, doch meine Augen entglitt es nicht. Bei genauerer Betrachtung deutete einen Pfeil auf eine Einmündung, die wegen der dichten Bäume keinen einzigen Sonnenstrahlen durchließ.
Langsam nahm auch meine Kondition ein Ende, doch ich schaffte es noch mich durch die langen Arme der Bäume und den mit Blätterhaufen bedeckten Boden zu quälen. Währenddessen dachte ich sehr viel nach. Angefangen bei der Frage, warum ich bisher immer noch keiner Menschenseele begegnet bin, weiter zu Noah, dem alles an dieser Chance lag, bis hin zu der Feststellung, dass wenn dies erst der Anfang eines Marathons ist, ich bald vor Erschöpfung umkippen würde. Wie ein Kaugummi dehnten sich meine Gedanken bis sie irgendwann ganz fade und kaum greifbar wurden.
Ich wand meinen Blick für eine Millisekunde nach hinten, um zu schauen welche Distanz ich zurückgelegt habe, als ich mit voller Wucht auf einen Körper traf. Ich fiel auf das harte Blätterdach, welches den Untergrund zierte und für einen kurzen Moment war es komplett still. Schwarz. Mein Herz pumpte in Rekord-schnelle das Blut in meine Adern. Erst ganz leise, bis es von einer männlichen Stimme übertönt wurde.
„Juliette?"
Gerissen. Der filigrane Gedanken-Kaumgummifaden löste sich von einem Moment in den anderen auf und ermöglichte es mir endlich wieder in die Realität zu finden.
Vor mir stand Leandro.
„Was zum Teufel machst du hier?", mit wackeligen Beinen versuchte ich geschockt einen festen Stand zu finden, doch mein pochender Kopf wollte nicht mitspielen. Bevor er mir antwortete, entschuldigte er sich und bat mir seinen Arm als Stütze an, welche ich dankend annahm.
„Ich habe mich doch noch beworben", er wich meinem Blick aus, als würde er mir nicht den Anlass für seinen Sinneswandel nennen wollen.
Normalerweise würde ich ihn so lange ausfragen, bis ich ihn erfahre, doch dafür war gerade einfach nicht der richtige Zeitpunkt. Ich wollte nur noch an das blöde Ziel kommen.
„Hast du eine Ahnung, wohin wir müssen?"
„Nein, ich sollte zu dieser Adresse kommen", er kramte einen zerknitterten Zettel aus seinem schwarzen Sakko, der im Vergleich zu meinem, mit Dreck besetzen, Blazer tadellos aussah und hielt ihn mir hin, „und als nach gefühlt einer Stunde immer noch niemand dort war, bin ich hier hereingelaufen. Ich habe mir schon gedacht, dass bereits beim Start des Auswahlverfahren aussortiert wird."
„Klar, wäre ja auch langweilig uns zumindest eine kurze Einleitung zu dem ganzen Wahnsinn, der uns noch bevor steht, zu geben", fügte ich seiner Antwort ironisch hinzu, während wir weiterhin ziellos herumirrten.
Mein Kopf hatte sich inzwischen ein wenig erholt und ich schaffte es meinen Blick wieder klar zu fokussieren. Mein Herzpochen wiederum hatte sich noch nicht so ganz erholt, dafür war aber leider nicht nur dieser entspannte Waldspaziergang verantwortlich.
Und dann sahen wir ihn endlich. Einen weißen Fleck am Ende des Horizonts, welcher sich gerade so einen Weg durch das Grüne verschaffte. Gleichzeitig sahen wir uns an, und als Leandro mich so erwartungsvoll mit seinem wunderschönen Lächeln anschaute, konnte ich nicht anders als mit voller Euphorie loszulaufen.
Angekommen bei dem Gebäude, was schon eher einem Schloss glich und von dem weiten hohen Wald umgeben war, wurden wir von zwei zierlichen Damen in schwarzen Kostümen begrüßt, die uns freundlich zu einer großen Bühne führten, welcher im hintersten Teil des Gebäudes war. Leandro und ich schafften es nicht einmal uns kurz über unsere Eindrücke auszutauschen, da jeder neue Raum, den wir auf dem Weg zur Bühne passierten, eine neue Überraschung bereithielt. Es war traumhaft schön. Alles schimmerte und glänzte, wie wir es noch nie gesehen hatten, und wie hypnotisiert konnten wir unseren Blick nicht von all den goldenen Details abwenden. In dem Moment vergaß ich meinen dreckigen Blazer, und was dies wohl für einen Eindruck machen würde. Vergaß all die Gefahren, die von diesem Verfahren ausgehen könnten. Vergaß wie absurd all dies hier doch war.
„Juliette. Leandro. Setzt euch bitte hier hin. Ihr habt einen langen Weg hinter euch und verdient es, euch auszuruhen", die eine Dame deutete auf zwei Plätze, welche sich in der dritten Reihe von der Bühne ausgehend befanden, und ließ uns dann auf diesen verweilen, sodass sie kurze Zeit später wieder das Gebäude verlassen konnten.
Es befanden sich schon einige Teilnehmer drinnen und trotz der eisernen Stille war es nicht übersehbar, dass wir alle vor Spannung platzten und unbedingt wissen wollte, was nun auf uns zukam. Immer mehr Menschen füllten den Raum, dabei könnten sie nicht unterschiedlicher als der andere sein. Mal trat eine junge Frau ein, dessen Po gerade so von einem knappen Minirock bedeckt wurde und damit viele Blicke auf sich zog, mal ein älterer Mann, dem schon viele graue Haare wuchsen und mal ein unscheinbarer Herr, der sich in seinen viel zu großen Klamotten probierte zu verstecken, um bloß nicht erkannt zu werden. Schon fast könnte man meinen, dass sich vor dieser Bühne ein Schnitt der Gesellschaft befand.
Plötzlich trat ein schwarz gekleideter Mann auf die Bühne und zog damit endgültig den letzten Luftzug an Geduld aus dem Raum. Ich traute mich kaum zu atmen.
„Herzlichen Willkommen zu dem Auswahlverfahren für einen Platz als Betreuer in dem Verfahren.
Ich bin der Leiter dieses Auswahlverfahrens. Mein Name spielt keine Rolle, denn es geht hier um euch. Aus einer unzähligen Menge an Bewerber und Bewerberinnen seid ihr die Auserwählten, die es bis hier hingeschafft haben. Die erste Prüfung erfolgte bereits auf euren Weg hierher."
Er zeigte auf Live-Aufnahmen, die sich auf der Wand der Bühne ereigneten und auf denen verzweifelte Kandidaten nach dem Weg bangten. Einige kehrten bereits um und andere suchten vergeblichst nach einer Erklärung. Mein Herz schmerzte, als ich sah wie diese Leute sich selbst enttäuschten. Sich für nicht genug hielten. Doch auch wenn ich tiefstes Mitgefühl für die ausgeschiedenen Bewerber empfand, war ein großer Teil von mir erleichtert, nicht zu diesen Leuten zu gehören. Sogar ein wenig Stolz kam in mir auf.
Und plötzlich fühlte es sich so an, als hätte jedes Ereignis in meiner Vergangenheit zu genau diesem hingeführt. Als hätte alles seinen Sinn. Das Verfahren, Theo, mein Partner, mein Job, Liv, meine Schwester, Noah, der Anführer unserer Rebellenorganisation und zuletzt Leandro, mit dem ich verdammt nochmal gewinnen würde.
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