Kapitel 19
Kapitel 19
18:55. Ich stand also nun schon zum dritten Mal vor dieser schäbigen Hütte, von der man denken musste, dass sie noch vor unserer Zeit, vor dem Verfahren entstanden ist. Erst die Entscheidung der Regierung hat eine radikale Veränderung in der Gesellschaft hervorgerufen, denn so sauber und strukturiert war es nicht immer in unserem Land. Man wollte uns verklickern, dass dank des Verfahrens nun alles besser funktionierte, doch ich wurde besseres gelehrt. Und ich schätze, wir waren auf gutem Wege immer mehr schmutzige Details über die Regierung und das Verfahren zu erfahren.
Leise trat ich in die warme Hütte ein und sah mich neugierig um. Wie immer war ich überpünktlich und erwartete schon das ein oder andere bekannte Gesicht auf dem Sofa, doch nichts. Leise schlich ich zur Küche. Ich bezweifelte stark, dass ich die einzige Person in diesem Haus war, schließlich bin ich der Gruppe erst vor kurzem beigetreten und es wäre ein wenig riskant mich jetzt schon alleine in dieser Hütte zu lassen. Trotzdem wunderte ich mich, dass ich noch keines der Mitglieder erblickte. 18:58. Immer noch niemand hier. Vielleicht ging ich aber auch davon aus, dass jeder immer ein paar Minuten früher kam, weil es bei mir so war.
„Ah Juliette, ich wusste doch, ich hatte was gehört", Leandro kam aus dem Badezimmer und warf mir ein leichtes Lächeln zu. Seine dunklen Haare waren noch etwas feucht und hingen ihm ins Gesicht, sodass ein starker Kontrast zu seinen tiefblauen Augen entstand. Eigentlich entsprach er gar nicht meinem Typ. Rot- oder blondhaarige Jungs zogen bisher eher meine Aufmerksamkeit an. Desto ungewöhnlicher war es, dass mir bei seinem Lächeln gleich ein wenig wärmer wurde.
„Warum ist noch niemand hier?", fragte ich, um mich schnell von meinen Gedanken abzulenken.
„Weil das Treffen erst Morgen ist", antwortete er mit skeptischem Blick, woraufhin ich mir an die Stirn fasste. Nein. Ich hatte nicht wirklich die Tage verwechselt. Meine Vergesslichkeit nahm anscheinend eine ganz andere Dimension an. Gerade als ich etwas erwidern wollte, fing er an zu grinsen, während er eine Schublade durchsuchte.
„Das war ein Spaß, ich wollte nur sehen, ob du's mir abkaufst. Pünktlichkeit wird bei uns nicht wirklich großgeschrieben. Rechne auf die Zeit, die wir uns offiziell treffen immer nochmal mindestens 30 Minuten 'rauf, dann ist, wenn du Glück hast, jemand hier", anscheinend wurde er fündig und zog eine Pfanne aus dem Schrank.
„Pfannkuchen?", er schaute mich fragend an und mir blieb gar nichts anderes übrig, als einfach nur kopfschüttelnd über seinen Scherz zu schmunzeln.
„Warum nicht."
Ich gesellte mich zu ihm in die Küche und fing an im Kühlschrank nach Eiern Ausschau zu halten.
„Und warum bist du schon hier? Anscheinend magst du es hier in der Hütte ziemlich gerne", deutete ich auf das Mal hin, bei dem mich Liv zum ersten Mal in diese Hütte geführt hatte und er mit einer Waffe auf mich gezielt hatte. Leandro zuckte mit den Schultern und fügte dem Teig Milch bei.
„Ich halte meine Partnerin nicht mehr aus. All meine Freunde beneiden mich darum, was für eine heiße Partnerin ich doch abbekommen hätte, aber würden sie einen Tag mit ihr verbringen, würden sie wahrscheinlich verrückt werden", er verdrehte die Augen, „zum Beispiel herrscht bei uns absolutes Süßigkeitenverbot. Sie will auch nicht, dass ich viel Zucker esse, damit ich auch ja meine Figur behalte, und zieht mich total in ihr Abnehmen-Ding mit 'rein. Ich habe keine Lust auf Stress mit ihr, sie hat ohnehin schon oft gefragt, wo ich denn immer abends hingehe. Sie darf bloß keinen Verdacht schöpfen. Deswegen nutzte ich jede freie Minute, die ich nicht mit ihr verbringen muss", er schaute mich mit schiefem Lächeln an.
„Ich glaube, ich wäre durchgedreht", was der Wahrheit entsprach. Aber das Verfahren wäre lebensmüde, wenn es mich mit so jemanden zusammengebracht hätte.
Plötzlich verlor die Mehlpackung auf der Kante das Gleichgewicht und fiel Richtung Boden. Reflexartig streckte ich meine Hand aus, um sie zu fangen. Aber es war nicht die raue Packung, die ich in meinen Händen fühlte, sondern Leandros weiche Hand, die einen kurzen Moment früher die Packung von Aufprall auf dem Boden abhielt. Schnell zog ich meine Hand zurück und räusperte mich. Ich spürte wie mir die Wärme ins Gesicht stieß und ich errötete. Dementsprechend erleichtert war ich, als Leandro die peinliche Stille brach.
„Das war ein Zeichen von meiner Partnerin", meinte er daraufhin schmunzelnd.
„Dann hätte sie doch eher die Zuckerpackung heruntergeworfen, oder?", fügte ich lachend hinzu, woraufhin auch er mir ein Lächeln zuwarf. Ich fühlte mich wie in die Situation zurückgeworfen, als Leandro mir zum ersten Mal ein Lächeln am Tisch in Phase 2 des Verfahrens zugeworfen hatte. Als ich zum ersten Mal in diese wunderschönen Augen sah.
Nicht dass sie irgendetwas in mir auslösen würden, sie waren einfach nur schön.
Plötzlich wurden wir von der hellen Stimme meiner Schwester unterbrochen, die gerade mit ihrer Freundin in die Hütte eintrat. Sie schienen so vertieft in ihr Gespräch zu sein, dass sie uns beinah nicht bemerkten. Erst nachdem Leandro den Pfannkuchen gewendet hatte, warfen sie einen Blick auf uns. In Livs Blick lag für einen kurzen Moment etwas Enttäuschung, da sie wohl gehofft hatte, noch etwas Zeit alleine mit ihrer Freundin verbringen zu können, welche ihren Arm um ihre Taille geschwungen hatte.
„Muss Leandro seinen Zuckerentzug wieder aufholen?", scherzte Sarah und blickte skeptisch auf den fast verbrannten Pfannkuchen, woraufhin Leandro schmunzelnd nickte. Kurze Zeit später trudelte dann auch Noah ein und wir setzten uns alle zusammen, um endlich von der Nachricht zu erfahren, welche als so wichtig angepriesen wurde. Ich richtete noch die letzten Pfannkuchen an und gesellte mich dann letztendlich auch zu der Gruppe. Gebannt lauschten wir Noahs Worte, die zur Abwechslung mal von etwas Emotionen sprießten und nicht komplette Kälte ausstrahlten.
„Es gibt eine Möglichkeit, wie wir die Regierung mitsamt des Verfahrens auslöschen können", er machte eine kurze theatralische Pause, welche Sarah jedoch genügte, um einen skeptischen Kommentar in die Runde zu werfen. „Meintest du das nicht schon letztes Mal, als wir-", „Pscht", unterbrach Noah sie und erinnerte sie mit bösem Blick an die erste Regel.
Wenn ich jetzt so darüber nachdachte, haben Leandro und ich uns auch nicht hundertprozentig an die Regel gehalten, als er mir von seiner Partnerin erzählte.
„Die Regierung hat zum ersten Mal in der bisherigen Geschichte eine Stelle ausgeschrieben, die uns ermöglicht geheime Einblicke in das Verfahren zu gelangen. Es geht um die Stelle als Betreuer. Normalerweise werden die Stellen für die Betreuer niemals an gewöhnliche Bürger vergeben. Meist sind es Familienangehörige der Regierung oder der bisherigen Betreuern, doch nun scheint es so, als gäbe es keinen passenden Nachwuchs mehr für die Stelle, weswegen man auf das Volk zurückgreift. Es darf sich jeder zwischen 18 und 20 Jahren bewerben. Die Bewerber müssen dann ein komplexes Verfahren durchlaufen, welches den perfekten Bewerber ermittelt. Über das Verfahren wurde nicht viel gesagt, aber glaubt mir, es wird schwierig werden."
Niemand traute sich die Stille zu brechen, die nun in der Luft lag. Ein Verfahren, um ein Betreuer zu werden? Um für die Regierung zu arbeiten? Wäre es nicht viel zu gefährlich, einen von uns dort hinzuschicken, schließlich würden sie doch schnell von „den Anderen" erfahren?
Wie so oft, sprach Liv dann genau das aus, was ich mich eben gefragt hatte und stieß damit auf Noahs kühlen Blick.
„Das ist richtig. Es ist eine enorme Gefahr, in die wir uns bewegen würden, aber so eine Chance wie diese, bekommen wir kein zweites Mal. Es ist die Chance endlich etwas zu verändern."
„Ach so natürlich, du gibst dich ja auch nicht in Gefahr. Ganz zufälligerweise wären Juliette und Leandro nämlich die einzigen aus unserer Gruppe, die überhaupt für die Teilnahme infrage kämen und mit dieser vermutlich ihr Leben aufs Spiel setzen würden", argumentierte Liv wütend, „ich lass meine Schwester doch nicht mitten in den Löwenkäfig spazieren."
„Wer versichert uns überhaupt, dass sie lebend wieder rauskommen würden? Die Regierung hat, wie wir alle wissen, anscheinend keine Probleme damit Menschen einfach umzubringen", unterstützte Sarah meine Schwester in ihrer Aussage. Ich beobachtete alles, doch meine Gedanken sind schon lange abgeschliffen. Ein zweites Verfahren? Nur mit dem Unterschied, dass es nun wirklich über mein Leben entscheiden würde.
„Stopp", Noah atmete tief durch. „Ja, ich weiß. Ein gewisses Risiko spielt immer mit, aber ihr dürft nicht vergessen, dass ich mich, nein, uns alle, mit in Gefahr bringen würde, wenn einer von den beiden erwischt werden würden. Ihr müsst aber verstehen, dass es keine bessere Gelegenheit gibt einen Maulwurf in die Regierung einzuschleusen. Wir würden direkte Einblicke gewährt bekommen und haben natürlich viel bessere Möglichkeiten, die Regierung und das Verfahren zu zerstören, da wir direkt an der Quelle sitzen würden. Versteht ihr das? Wir könnten diesen ganzen Wahnsinn endlich stoppen!", Noah steigerte sich so sehr rein, dass er mich und Leandro schon fast flehend ansah.
„Nein. Ich lasse meine Schwester da nicht 'rein. Schön, wir bringen uns alle in Gefahr, aber wem werden sie zuerst Leid zufügen? Wen werden sie zuerst töten? Noah bitte, das ist wahnsinnig", die Augen meiner Schwester funkelten ihn böse an, während Leandros Blick langsam zu mir wanderte. Er schien genauso wenig wie ich zu realisieren, was Noah hier gerade in Betracht zog. Ohne auf Liv zu reagieren wand sich Noah zu uns und wartete auf eine Antwort, welche er jedoch nicht bekam.
„Liv hat recht, das ist wirklich zu gefährlich. Es muss noch einen anderen Weg geben. Kann man nicht durch das jährliche Verfahren jemanden einschleusen?", fragte ich vorsichtig. Plötzlich änderte sich Noahs Gesichtsausdruck schlagartig, als schien er sich an etwas Schreckliches zu erinnern.
„Karla", Sarah schluckte, als sie den Namen aussprach, „sie war bis zum letzten Jahr noch ein Mitglied unserer Gruppe, bis sie urplötzlich verschwand, nachdem wir probiert haben, sie mit einer falschen Identität am Hauptverfahren teilnehmen zu lassen. Doch es funktionierte nicht."
Sofort schoss mir das Mädchen in den Kopf, was unter Tränen die Sicherheitskräfte anflehte, sie am Verfahren teilnehmen zu lassen. Ich mochte mir gar nicht ausmalen, was mit ihr passiert sein musste.
„Und bevor das mit meiner Schwester passiert, werde ich dich ganz persönlich davon abhalten, sie darein zu schicken", drohte sie Noah mit finsterem Blick. Ich kannte diesen Blick.
Wenn Liv jemand wichtig war, das setzte sie alles daran die Person zu beschützen, das war schon seit klein auf so. Und genauso war es bei mir. Auch wenn wir uns in vielen Punkten unterschieden, Familie stand bei uns immer an erster Stelle. Wir konnten uns noch so oft streiten, Klamotten voneinander klauen, den anderen verpetzen oder darüber lachen, wenn sich einer von uns mal wieder abpackte, aber am Ende wussten wir worauf es ankommt.
Nur war ich mir nicht sicher, ob ich dieses Mal zulassen konnte, dass sie mich beschützt.
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