Kapitel 15
Kapitel 15
„Die Anderen?", ungläubig starrte das rothaarige Mädchen den Mann an und konnte sich ihr Lachen nicht verkneifen. „Ich probiere uns cool darzustellen, und dann gibst du uns diesen bescheuerten Namen? Wenn ich eine Person als anders bezeichne, dann weil ich sie echt komisch finde, aber nicht unhöflich sein möchte."
Oder wenn ich den Geschmack der Pizza Hawaii meiner Mutter beschreiben sollte, fügte ich im Gedanken hinzu.
„Dann passt der Name doch ziemlich gut", meldete sich Leandro zu Wort und zuckte grinsend mit den Schultern, woraufhin sie die Augen verdrehte.
„Wie war das nochmal mit dem Wir-wollen-sie-nicht-von-Anfang-an-verstören?", fragte Liv in die Runde und schaute ihre Freundin und Leandro mit scharfem Blick an.
„Als wäre ich das nicht schon längst schon, wenn ich 18 Jahre mit Liv verbringen musste", murmelte ich schmunzelnd und erntete einen gespielt genervten Blick von meiner Schwester. Geschwisterliebe. Ich wusste gar nicht, woher mein Mut zu reden plötzlich kam, vielleicht lag es daran, dass mir die Gruppe auf Anhieb irgendwie sympathisch war, abgesehen von dem Typen, der mich immer noch aus der Ecke anschaute, ihn konnte ich nämlich nach wie vor nicht einschätzen. Als könnte er meine Gedanken lesen, fing er genau in diesem Moment an auf mich zuzukommen.
„Juliette du hast bestimmt viele Fragen, setze dich", er deutete auf ein altes rotes Sofa hin.
„Die erste Regel, unseren Grundsatz, hat dir Sarah bereits erklärt. Wir arbeiten hier gegen das System, denn es ist noch viel schlimmer, als du denkst", in seiner Stimme schwang Zorn mit.
„Das, was wir machen, was wir sind, ist verboten und falls auch nur eine Person von uns auffliegen sollte, wird die Regierung sie zerstören, zerstückeln, bis sie in tausend Teile zerfällt, dass du dir den Tod, mit größter Sehnsucht herbeiwünschst, wie du es noch nie getan hast", augenblicklich bekam ich Gänsehaut. Seine Augen, grün wie eine Giftschlange, schauten in meine Seele.
„Denn davor werden sie dich foltern, dir Schmerzen zufügen, von denen du dir nicht einmal vorstellen kannst, dass sie existieren. Sie werden probieren alles aus dir herauszuquetschen. Informationen über uns, unsere Leute, unser Wissen und unseren Willen. Niemand ist dazu imstande, sich diesen Foltermethoden zu widersetzten und deswegen ist die erste und einzige Regel: Gib so wenig über dich preis, wie möglich", fuhr er mit mysteriöser Stimme fort. Er hatte etwas an sich, was mich extrem beängstigte, aber ich wusste nicht genau was. Vielleicht probierte ich aber auch nur etwas zu finden, was mich vom Inhalt seiner Ansprache abhielt.
„Juliette, bevor wir fortfahren, muss ich von dir wissen, ob du das willst. Noch hast du die Möglichkeit einen Rückzieher zu machen, zurück in dein altes Leben zu kehren. Mit deinem Partner ein unglückliches Leben zu führen, Kinder zu bekommen, die diesem System ausgesetzt sind und in Gesellschaft einsam und alleine zu sterben."
Da bekommt man ja gleich Lust dem nachzugehen, so wie er es erklärte.
„Ich darf dir erst weitere Informationen geben, wenn du zustimmst, anderenfalls würdest du uns alle gefährden", fügte er hinzu, als ich kein Wort von mir gab.
„Ich soll also etwas zustimmen, bei dem ich zu Tode gefoltert werden könnte, aber noch nicht einmal weiß wofür?", vergewisserte ich mich und schaute den Mann fragend an, das konnte doch nicht dein Ernst sein. Seine Miene verzog sich kein Stück.
„Ja."
Hilfesuchend schaute ich zu Liv, doch diese schaute nur zum Boden. Leandro wich ebenfalls meinem Blick aus. Nur die Rothaarige schenkte mir ein sanftes Lächeln.
„Du wirst die Antworten nicht in anderen Menschen finden, sie liegt in dir. Schon die ganze Zeit. Lass sie raus, Juliette", sprach mir der Mann mit den grünen Augen zu, welcher so langsam etwas von seiner angsteinflößenden Aura ablegte.
Ich wusste nicht genau, ob das alles nur eine Falle war, letztendlich wusste ich ja schon genug, um sie theoretisch der Regierung zu verpetzten. Der Standort der Hütte alleine würde ausreichen. Andererseits war ich wahrscheinlich nicht die erste, die auf solche Gedanken gekommen ist, sodass sie bestimmte Sicherheitsmaßnahmen bereits getroffen haben mussten. Plötzlich kam mir ein schrecklicher Gedanke in den Kopf. Was, wenn sie mich töten würden? Das würde auch erklären, warum Liv meinem Blick ausgewichen ist. Allmählich stieg Panik in mir auf und je mehr Sekunden verstrichen, desto größer wurde sie. Fragende Blicke umgaben mich.
„Ist alles gut?", fragte Livs Freundin schließlich, die wirklich so wirkte, als würde sie sich Sorgen machen. Naja, Psychopathen wird auch häufig nicht angesehen, dass sie welche sind.
Ich konfrontierte den Mann mit meiner Vermutung, was ihn schmunzeln ließ.
„Ja, aber nein", sich klar auszudrücken gehörte anscheinend nicht zu seinen Stärken.
„Darauf wären wir natürlich vorbereitet. Du hast den Scanner an der Tür bestimmt bemerkt. Liv hat in deine Kette, die du am Tag des Verfahrens geschenkt bekommen hast, einen kleinen Sender eingebaut, der dir bei Aktivierung Zugang zu dieser Hütte verschafft. Würdest du uns bei der Regierung anstiften, hättest du keine Beweise, die Hütte ist sicher", ergänzte er.
„Warum habe ich das rote Licht letztes Mal nicht gesehen? Und mal abgesehen davon, ließe sich in die Hütte, mit ein bisschen Kraft, bestimmt gut einbrechen, ohne die Tür benutzen zu müssen. Daraufhin schüttelte er den Kopf.
„Glaube mir, das Holz ist nur die Fassade und diese Hütte ist sicherer, als du denkst. Das rote Licht wird nur von den Leuten gesehen, die den Sender mit sich tragen. Aber dass man sich in Sachen schnell täuscht, müsste dir ja inzwischen gut bekannt sein."
Entgeistert schaute ich ihn an, doch mir blieb keine Zeit zu antworten, da er bereits fortfuhr.
„Juliette, du findest dieses System nicht richtig und willst so nicht weiterleben, was hält dich davon ab Ja zu sagen?"
„Angst", antwortete Liv für mich und erhob endlich wieder ihren Kopf. „Sowie ich damals, es war die Angst, die mich abhielt." Ich schaute sie an und ihr Blick sprach tausend Worte.
„Okay", antwortete ich und schluckte, „ich bin dabei."
Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, was eine Macht diese drei Wörter trugen. Wie sehr diese drei Wörter mein bisheriges Leben verändern würde.
Liv fiel ein Stein vom Herzen, als ich diese Worte aussprach und fiel mir dankbar um die Arme.
„Wir hätten dich töten müssen", erwähnte Livs Freundin plötzlich inmitten unserer Umarmung. Geschockt darüber, was sie mir gerade verkündet hat, starrte ich sie an. Es stimmte also wirklich, man sah es Psychopathen nicht an.
„Juli, das ist noch nie vorgekommen, weil jeder bisher zugestimmt hat. Wäre ich mir nicht zu 100% sicher gewesen, dass du Ja gesagt hättest, hätte ich dich niemals hier hingeschleppt", fassungslos schaute ich alle aus der Runde an.
„Ihr hättet mich eiskalt umgebracht?", fragte ich, obwohl es eher einer verbitterten Feststellung glich.
„Du musst verstehen, dass viel auf dem Spiel steht. Du hättest uns alle in Lebensgefahr bringen können, das kann ich einfach nicht verantworten", erklärte mir der Grünäugige, der mir inzwischen wirklich auf die Nerven ging.
Ich konnte immer noch nicht fassen, dass Liv meinen Tod in Kauf genommen hätte für diese Sache, von der ich nach wie vor keinen Schimmer hatte. Nun war ich wirklich gespannt, was so wichtig war, dass mich Liv dafür geopfert hätte.
„Juliette, ich freue mich, dich nun rechtmäßig bei den Anderen willkommen zu heißen. Mein Name ist Noah und ich bin der Leiter dieser Gruppe.
Wir sind eine Gruppe von Leuten, die gegen das System, gegen die Regierung, kämpft.
Die Regierung denkt, ihr entwickeltes Verfahren würde zu einer besseren Gesellschaft führen, einer Gesellschaft ohne Probleme, denn Probleme gibt es nicht, wenn jeder glücklich ist. Sie glauben, dass man einen Menschen nur einen Partner, der aufgrund irgendwelcher Charakterzügen, Gemeinsamkeiten und Vorlieben zu ihnen passt, vorsetzten braucht, und alles funktioniert. Doch dem ist nicht so.
Menschen haben immer Angst falsche Entscheidungen zu treffen. Sie tun sich schwer dabei, das richtige Gericht auf der Speisekarte zu finden, wie sollen sie sich dann bloß für den richtigen Partner entscheiden? Wir Menschen wollen immer das Beste, Schnellste, Schöne. Haben wir erst einmal das bekommen, was wir uns gewünscht haben, wird es auch schon wieder langweilig. Sie fragen sich dauernd, ob es nicht jemanden gibt, der nicht noch ein kleines Stückchen besser zu sie passt, ihr Leben nicht noch ein Stückchen besser machen kann. Nach einem Streit werfen sie alles hin, sehen keinen Sinn darin, Arbeit in ihre Beziehung zu investieren, denn es muss doch diese eine Person geben, bei der alles perfekt ist. Und genau das macht das Verfahren. Er gibt den Menschen den perfekten Partner, sodass den Menschen all diese Gedanken abgenommen wird. Sie denken, es gibt keinen besseren Partner für sie. Liebe verliert an Bedeutung, da alle denken, das ist's gewesen, der Partner ist nun einfach jemand, den man wie ein Accessoire bei sich trägt, jemand, der einen gerade so befriedigt.
Doch bei all dem vergessen die Menschen eines: Es gibt sie nicht, die perfekte Liebe. Echte Liebe ist das, was es perfekt macht, auch wenn es nicht so ist."
Stille. Ich war überwältigt. Worte, die in meinen Kopf schon lange herumschwirrten, hat er endlich zu etwas Ganzem zusammengefügt. Dass das System nicht richtig sein kann, wusste ich schon lange. Doch so klar formuliert wie jetzt, habe ich es noch nie gehört.
Es war mit einem Haufen Probleme zu vergleichen. Je länger man sie verdrängt, desto mehr wurden sie, man sieht den Haufen wachsen und trotzdem hofft man, dass auf einem Mal plötzlich alle Probleme verschwinden. Ein Windhauch, der den Problemhaufen zerfallen lässt, doch man ist in einem Raum, in dem es keine Luftzufuhr gibt, und doch brennt die Flamme der Hoffnung.
Ich wusste, dass das System nicht richtig war, die Sachen, die falsch in unserem System waren, fingen an sich zu häufen, doch ich hörte nicht auf zu hoffen, dass sich plötzlich alles schlechte auflöste und sich das System ins Positive veränderte, ohne dass ich selbst etwas dafür tat.
Ich spielte einfach mit, aber jetzt war es an der Zeit, etwas zu verändern.
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