Zwei
Langsam wurde ich wach und nahm Stück für Stück alles um mich herum wahr. Nur schwer wurde mir klar in welchem Zimmer sich mein Körper befand und gedankenverloren und unachtsam wollte sich mich wie gewohnt erheben. Jedoch hinderte mich ein straffes Lederband daran, welches um meinen bloßen Oberkörper gespannt war. Mit einem Mal fiel mir alles wieder ein. Der Brief, das Krankenhaus, der Arzt, die Operation, die Flügel. Mit unsicheren Blicken die durch das Zimmer schweiften nahm ich einen Mann wahr, welcher mich vermutlich die ganze Zeit prüfend beobachtet hatte. „Bleiben Sie ruhig liegen Mr. Houston, ich werde gleich einen Arzt rufen." Mit diesen wenigen Worten ging er auch schon mit einem alten Telefon aus dem Zimmer und schloss leise die Tür.
Mein Gehirn musste alles erstmal verstehen und als ich weiter überlegte wurde mir erst jetzt intensiv bewusst, wie etwas an meinem Rücken drückte und ich etwas unbekanntes spürte. Ehe ich mich weiter damit auseinander setzen konnte platzte auch schon der alte Patrick hinein und hatte wieder dieses unangenehme leicht verrückte Grinsen aufgesetzt. „Wie geht es dir? Hast du Schmerzen oder andere Beschwerden?" fragte er mich direkt aus. „Alles gut, es ist nur so ein unangenehmes Drücken am Rücken. Ich... ich spüre etwas aber kann es nicht einordnen." erzählte ich unsicher mit fragenden Blicken, die mit den Falten auf der Stirn noch mehr Ausdruck bekamen. Daraufhin wandte sich der Arzt an meine Aufsichtsperson.
„Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen ihm direkt das Band abnehmen! Das wird ein Nachspiel haben, wenn etwas mit den Flügeln passiert seien sollte." Damit lief er auf mich zu und schnallte den strammen Ledergurt von meinem Oberkörper.
„Stehen Sie auf Frank, ganz langsam bitte." Noch von dem plötzlichen Stimmungswandel überrascht gehorchte ich und setzte mich erst auf das Bett um dann bewusst aufzustehen. Sofort pflanzte ich mich wieder hin und erschrak über das ungewohnte Gewicht, welches mich belastete und sich über den Rücken, bis hin zu meinen Schultern und dem Nacken zog.
„Das ist normal, versuch dich bei mir abzustützen und komme in den Flur." befahl mir der Mann und wie gesagt lehnte ich mich stark auf seine Schultern. Der Beobachter hatte schon längst die Tür zum Gang geöffnet und mit großen Schritten befand ich mich draußen. Viel mehr Platz war es nicht, doch mehr auf jeden Fall und ich wandte mich an Mr. Jones.
„Es fühlt sich so straff an, sind sie zusammengebunden? Kann... kann ich sie sehen?" Leider Gottes schwieg der Alte wie ein Grab und führte mich mit einer Hand auf der Schulter den Weg entlang. Das Laufen fiel mir mit der Zeit leichter, doch das Gewicht war eine zusätzliche unangenehme Last, die mein Tempo gehörig verlangsamte.
„Danke für das Gespräch." murmelte ich ironisch, als er nach gefühlten zehn Minuten immer noch mit mir quer durch das ganze Gebäude lief.
Wir stiegen einmal in den Fahrstuhl und bogen in einer der unteren Etagen ab. Danach kamen viele Verzweigungen und die Flure wechselten von hellen zu dunklen und grauen Farben. Je mehr er lief, desto mehr bekam ich Panik, welche sich vor einer Tür jedoch wieder auflöste. Selbstständig öffnete ich sie und alle Augen richteten sich auf mich. Geschätzte zwanzig Leute standen in einem sehr großen und hohen Raum. Bei meinem Anblick fingen alle an zu klatschen und Mr. Jones kam auch schon hervor um sich anscheinend sein Lob zu holen. Mich führte er an eine eher verlassene, freie und ruhigere Stelle und sprach zu den Ärzten, welche alles an mir musterten. Bei dem Gedanken immer noch nur in Jogginghose da zu stehen wurde es mir etwas peinlich und ich hätte schwören können rot angelaufen zu sein, da leises Gekicher der jüngeren Frauen zu vernehmen war.
Ohne Vorwarnung lockerte Patrick den Stoff, der meine Flügel hielt und unkontrollierbar falteten sie sich in voller Größe aus. Erschrocken über ihre riesige Spannweite und den hellblauen Farbton, der ins Weiß wechselte schwank ich kurz nach hinten. Bevor ich das Gleichgewicht verlieren konnte fing ich mich und atmete angespannt ein und aus. „Und hier sehen sie das vollständige Resultat!" stellte er mich vor, wobei mir seine große Klappe immer mehr auf die Nerven ging. „Gut gemacht Frank!" lobte er und ich wusste keine Antwort die wohl auch nicht nötig gewesen wäre da er sofort weiter fuhr. „Durch seine enorme Größe können Sie sehen wie gut sich das Gewicht der Flügel auf seinen Körper verteilt. Durch die trainierten Muskeln wird sie mit seiner Rückenmuskulatur verstärkt und er kann diese Schwingen besser tragen, als wir es könnten." Während er all dies seinen Kollegen erklärte diente mein Körper als Schaubild und manche notierten sich ein paar Sachen. Während der Zeit verspannte sich mein Körper, meine Muskeln wurden unnötig lange hart und erst jetzt wurde mir bewusst was die Kälte und Frische ausrichtete. Schon nach wenigen Minuten rief er mich mit einer Handbewegung zu ich und versuchte die Flügel auf dem Weg zu ihm anzuziehen. Nervös, da ich es nicht schaffte und mich immer noch nicht entspannen konnte, ging ich schräg durch die Masse um keinen zu verletzen. Es war schwieriger als ich es mir anfangs vorgestellt hatte, doch ich würde es schaffen.
Endlich bei ihm angekommen wendete er seinen Blick belustigt auf mich, was ich jedoch nur mit einem bösen Ausdruck erwiderte. Beschwichtigend hob er die Hände und machte sich daran die Flügel wieder zu binden. Als er die Federn berührte hätte ich sie am liebsten weggezogen, da es ein unangenehmes und ekliges Gefühl war. „Alles okay, kein Grund so angsteinflößend zu wirken." meinte er währenddessen an die letzte Situation gewandt und ging danach vor mir entlang um den Weg zu weisen. „Ich soll angsteinflößend ausgesehen haben?" fragte ich neben dem Laufen um seine Aussage bestätigt zu haben. Ohne sich umzudrehen bewegte er sich weiter. „Ja hast du. Bestimmt war das auch einer der Gründe, weshalb du auserwählt wurdest." Monoton und ohne jegliche Gefühle zu zeigen ging er bewusst den Weg und es wunderte mich, da er zuvor anders wirkte.
Meine Gedanken drehten sich die restliche Zeit um den zweiten Teil des Satzes und schon kurz nach den ersten Schlüssen war mir klar, dass nicht nur der Staat sondern auch Mitglieder der Armee wählen mussten, doch ob ein steifer Ausdruck so wichtig war verwirrte mich nun.
Da ich jedoch aufpassen musste und fast gegen Mr. Jones gelaufen wäre, der abrupt stehen blieb kam ich zurück ins hier und jetzt. Mit erstaunen nicht in meinem Zimmer zu sein stieg ich widerwillig in den Raum, der um einiges größer als die vorherigen war. Die Höhe der Decke nahm mit jedem Stück zu und es waren Fitnessgeräte, eine Lauf - und Schwimmbahn zu erkennen. Bewundernd musterten meine Augen alles, bis er seine Hand auf meine Schulter legte, wodurch ich mich zurückhalten musste sie nicht wegzuschlagen. Jede Berührung mit diesem Mann war mir so unangenehm, abartig und durch seine gefühlslosen Aktionen stufte er sich bei mir immer mehr als unsympathisch ein.
„Jetzt werden wir, oder eher gesagt du und dein Trainer ganz langsam den Umgang und das aus - und einfahren mit deinen Flügeln lernen und üben." Damit hatte sich meine Frage, was ich hier sollte erledigt und unerwarteter Weise kam ein muskelbepackter Riese auf mich zu. Selbst er war größer als ich und somit musste ich meinen Kopf in den Nacken legen um ihn ins Gesicht blicken zu können. Dort war jedoch nur ein freundlicher junger Mann zu sehen und schon wieder konnte das Aussehen gehörig täuschen. Lächelnd sah er zu Patrick.
„So wie der Junge trainiert ist brauchen wir doch gar nicht üben." fing er an und deutete auf meinen leider immer noch freien Bauch, auf dem meine Muskeln gut zu erkennen waren. Verlegen sah ich wieder zu ihm und fasste mir an den Hinterkopf. „Hat vielleicht jemand ein Shirt für mich? Ist etwas frisch hier unten." fragte ich kleinlaut und hörte den Arzt lachen. Mit finsterer Miene und fragenden Blick schaute ich ihn an und erwartete eine Erklärung weshalb er unter anderen Leuten immer über mich lachen und bei einem einfachen Gespräch so kalt wirken musste.
„Schon vergessen Kleiner? Mit Flügeln geht das schlecht." Auf diese Antwort hätte ich theoretisch auch kommen können doch der Praktiker war ich noch nie wirklich gewesen. Um endlich von dem Spitznamen Kleiner loszukommen demonstrierte ich meine Größe und stand aufrecht vor ihm. „Mr. Jones, mein Name ist Frank." erinnerte ich und drehte mich abweisend zu ihm, nun zu dem Riesen. „Und Sie können mir helfen diese Flügel zu kontrollieren?" Als Bestätigung nickte er und lief ein Stück mit mir durch die Halle. „Du bist zwar der erste mit Flügeln, doch ich habe viel Erfahrung und werde gezielt die neuen Muskelgruppen trainieren." Ein Lächeln bildete sich auf meinen Mundwinkeln, denn dieser Mann schien Vertrauen in mir zu haben. „Danke Mr. ... ehm, wie kann ich Sie denn nennen?" Unsicher sah ich zu ihm und hatte mittlerweile meine Hände in der bequemen Hosentasche verstaut. „John." meinte er freundlich und sah kurz zu mir hinab. Unbewusst ließ ich mich von ihm zu der Laufbahn bringen und sah ein kleines Mädchen darauf üben. Erst als sie näher kam bemerkte ich, dass sie eine oder eher gesagt zwei Beinprotesen trug. Bei uns angekommen blieb die Kleine etwas außer Atem stehen und lächelte freundlich zu John hinauf.
„Floy, ich hab dir doch so oft gesagt, dass du es nicht übertreiben sollst. Heute ist es soweit und morgen kannst du dich mit der Flosse richtig austoben." Er fing ein Gespräch an und ich musste wie ein verwirrtes Eichhörnchen aussehen, denn wenig später wendete sich das Mädchen, anscheinend mit dem Namen Floy, an mich und gab mir zuvorkommend die Hand. „Du musst Frank sein, oder? Patrick hat mir schon von dir erzählt und ich bin so froh, nicht die einzige zu sein, die so etwas freiwillig macht." sprudelte es aus ihr heraus und ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, da ich noch nie einem so offenen Menschen begegnet bin. Um nicht unhöflich zu wirken antwortete ich und setzte ein ehrliches Lächeln auf. „Ja das bin ich. Und du hast dich also auch beworben? Bekommst du etwa auch ein Paar Flügel?" fragte ich belustigt und fand es toll mich mit ihr normal unterhalten zu können, von dem Thema abgesehen.
„Nein, nein." Zur Verdeutlichung machte sie eine wegwerfende Handbewegung. „Wie du siehst habe ich keine Beine." erzählte sie locker und deutete auf die Protesen. „Da ich aber das Schwimmen über alles liebte wollte ich eine Flosse. Eine für immer, eine um mich für immer frei fühlen zu können." schwärmte Floy und machte Anstalten wieder zu gehen. „War schön mit dir zu reden Frank, und drück mir die Daumen bei der Operation." Glücklich ging die Kleine zum Ausgang und ich bewunderte ihren Optimismus. Bevor sich meine Konzentration wieder John zuschrieb sah ich aus einem kleinen Winkel wie sie von meinem Begleiter grob angehalten wurde. Um möglichen Streitereien und Missverständnissen aus dem Weg zu gehen lief ich etwas weiter, bis sich mein großer Freund an mich wendete. „Sie ist wirklich die Freude in Person." Darauf konnte ich nur leise Lachen und zustimmen. „Da hast du recht. Sie ist sich so sicher bei ihrer Sache und dazu so optimistisch."
Beinahe beneidete ich sie um diese Sicherheit, doch dieses Gefühl verschwand als wir mit den ersten Übungen begannen.
„Komm du schaffst das Frank! Nur noch einen Hieb!" feuerte er mich an, während mir bereits der Schweiß von der Stirn tropfte und meine Arme immer schwerer wurden. Erschöpft setzte ich die Hantel ab und nahm ein Tuch um das ekelhafte feuchte nicht mehr auf meiner Haut zu spüren.
„Sehr gut." kam es lobend und ich schüttelte nur den Kopf. „Können wir jetzt bitte endlich üben, wie ich sie steuern kann?" Schon seit einer Stunde bettelte ich danach, doch er war strikt der Meinung erst meine beteiligten Arm - und Rückenmuskeln stärken zu müssen. Genervt stand ich auf, und stützte mich auf den Oberschenkeln ab. Als er keine Antwort gab entschied ich mich nochmal nachzuhaken. „Mensch John, ich kann nicht mehr. Außerdem tut die Stelle weh, an dem alles zugenäht wurde. Meine Flügel werden voll eingeengt" beschwerte ich mich und versuchte selbst das stramme Band zu lösen. Als ihm das auffiel kam er zu mir und half mir letztendlich, sodass sie ihre volle Größe auslebten. Ein erleichtertes Gefühl überkam meinen Körper und John schenkte ich ein dankbares Lächeln, welches er erwiderte. Aus Reflex zog ich sie an und war mehr als nur erstaunt. Jedoch bemerkte ich schnell wieso es so war, denn etwas lief mir den Rücken hinunter und so dumm wie ich war wollte ich es wegwischen. Meine Hand betrachtete ich dann wieder und meine Augen sahen ein schimmerndes Rot. „John. Was ist das." fragte ich ohne zu ihm zu sehen. Ohne auch nur einen Mucks zu sagen verschwand er und ich hörte ihn den Flur entlang rennen.
„John?!" rief meine Stimme nun lauter und ein Hauch von Angst war zu vernehmen.
„Verdammt nochmal John, lass mich hier nicht so alleine!" Panisch wollte ich zu Tür und ihn suchen, doch sie öffnete sich zuvor und Floy kam herein. Durch den Schreck falteten sich die Schwingen wieder voll aus, doch sie sah mich fragend mit ihren kristallblauen Augen an, die durch ihre dunkle Hautfarbe so unfassbar herausstachen. „Frank, was schreist du hier so herum?" Ohne was zu sagen, drehte ich den Rücken zu ihr, sodass sie es kurz sehen konnte und blickte nach der halben Drehung wieder zu ihr. Mit Sicherheit war mir das Entsetzen und die Furcht ins Gesicht geschrieben, obwohl ich diese nie wieder zeigen wollte. Die Kleine zeigte jedoch keinen Ausdruck und umarmte mich leicht, gut darauf bedacht den Flügeln nicht zu nahe zu kommen. „Patrick kommt gleich, du schaffst das. Vertrau mir." Mit diesen Worten behielt sie recht und keine Minute später kamen sechs Mann hinein. Langsam löste sie sich und wendete sich an meinen Trainer. Ihre Worte verstand ich nicht und bekam noch nicht einmal die Blutpfütze mit, in der ich stand. Mein Körper schien abgeschaltete zu haben, und nur noch die Angst regierte, die Angst dass alles schief gehen würde.
Die Anspannung der Flügel verblasste und langsam senkte ich sie, sodass beide nur schlaff dort hingen.
Mr. Jones redete auf mich ein, doch nichts drang durch. Natürlich bekam ich alles mit was geschah, doch jede Bewegung schien aus mir gewichen zu sein. Drei Leute hoben mich auf eine Trage und brachten mich durch die vielen Gänge, bis zum Fahrstuhl, in den alten Operationsraum. Von dort an setzte mir Patrick das mir allzu bekannte Plastikding auf und ich nickte freiwillig nach den ersten Sekunden weg...
Ohne zu überlegen drehte ich den benommenen Jungen auf den Bauch und betrachtete das Problem. Einige Nähte waren gerissen, und die Ansätze leicht geknickt und gequetscht. Sein Blutverlust schien nicht sehr schlimm zu sein und doch würde ich ihn nach dieser Aktion Tag und Nacht betreuen.
Ein weiteres Misslungenes Experiment konnte ich mir nicht erlauben und würde dafür kämpfen dieses sture Kind zur Vernunft zu bringen. Mir war von Anfang an bewusst wie schlau und misstrauisch war, weshalb auch er rebellieren konnte.
Bis ich nach gewisser Zeit mit dem zunähen fertig war schob ich ihn persönlich auf sein Zimmer. Mit leichter Wut öffnete ich und schloss die Tür hinter mir. Ich brachte alle Kraft auf um diesen Brocken in sein Bett zu hieben. Diesmal würden wir lernen, und ich drehte ihn auf den Bauch um die Flügel nicht erneut zu belasten.
Auch diese Mal schnallte ich ihn fest um die Möglichkeit, dass er sich drehen konnte zu verringern. Geschafft mit der Arbeit machte ich Floy erneut einen kleinen Besuch um sie um etwas zu bitten. Ohne zu klopfen ging ich in ihr Zimmer und lief vor den Tisch, an dem sie saß.
„Floy, ich bitte dich ein Auge auf Frank zu haben. Sobald etwas passiert lässt du mich rufen. Ich muss kurz weg und du darfst währenddessen nicht einschlafen." befahl ich so freundlich es ging und hoffte auf ihr Einverständnis, welches ich bekam.
Noch bevor ich mich auf den Weg nach hause machte fragte ich mich, wie man nur immer das Gute in einem Menschen sehen und ihnen so vertrauen konnte. Floy würde selbst bald herausfinden, dass dies nicht immer praktisch war.
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