27. Only One Word
Ich fühlte mich so leer und ausgelaugt, wie wohl noch nie zuvor. Mit letzter Kraft schleppte ich mich schließlich zurück in meine Suite, wo ich mich mit dem Gesicht nach unten auf die Matratze fallen ließ.
Hemmungslos ließ ich meinen Tränen freien Lauf, bis irgendwann einfach keine Flüssigkeit mehr vorhanden zu sein schien. Als ich mich nach einer gefühlten Ewigkeit vorsichtig aufsetzte, brannten meine Augen mit solch einer Intensität, dass es mir schwerfiel, sie überhaupt offen zu halten.
In diesem Moment bemerkte ich einen kleinen Umschlag, welcher offensichtlich von außen unter meiner Tür durchgeschoben worden war. Ohne jegliche Erwartungen erhob ich mich und nahm den Umschlag an mich. Als ich ihn öffnete, fielen zwei Flugtickets heraus, datiert auf den nächsten Tag. Außerdem befand sich noch eine Mitteilung im Inneren des Couverts für mich:
Liebe Charlotte,
ich akzeptiere deine Entscheidung bezüglich unserer Beziehung. Trotzdem denke ich, du solltest fürs Erste nach Hause fliegen und dort alle Unstimmigkeiten mit deinen Eltern aus der Welt räumen. Danach bist du frei.
Lucas
Eine Zeit lang starrte ich ungläubig auf die Zeilen in meiner Hand. Konnte es tatsächlich möglich sein, dass Lucas doch in der Lage war, so etwas wie Empathie zu empfinden?
Mir war schon lange bewusst, nicht ewig vor meinen Eltern davonlaufen zu können. Trotzdem hatte ich den Gedanken an ein klärendes Gespräch stets so weit von mir weggeschoben, wie es mir möglich gewesen war. Nun schien das Schicksal mir die Entscheidung abgenommen zu haben und ich musste wohl akzeptieren, dass mein Platz anscheinend nicht an Emmanuels Seite sein konnte.
Diese Erkenntnis versetzte mir erneut einen Stich in mein Herz aber ich versuchte, den Schmerz auszublenden. Für jeden Menschen gab es ein Level dessen, was er ertragen konnte und meines war schon lange überschritten.
****
Während ich mich unruhig in dem viel zu großen Bett herumwälzte, fragte ich mich, wo sich Emmanuel wohl in diesem Augenblick aufhielt. Ob er wieder in der Strandhütte schlief oder vorübergehend bei seinen Eltern untergekommen war?
Nur mühsam konnte ich der Versuchung widerstehen, zum Strand zu laufen und ihn erneut um ein Gespräch zu bitten. Ich vermisste ihn unendlich, dennoch entschied ich mich dazu, seine Entscheidung zu akzeptieren. Auch, weil ich eine erneute Zurückweisung mental wohl nicht verkraftet hätte. Immer wieder sah ich sein Gesicht vor mir. Seine wunderschönen Augen, die feinen Lachfältchen und die Güte in seinem Blick. Jede Faser meines Körpers vermisste ihn. Natürlich war mir bewusst, dass es so etwas wie Liebeskummer gab. Trotzdem hatte ich bis zu diesem Moment nicht die geringste Vorstellung dessen gehabt, was dieses Wort bedeutete. Es tat weh und dies nicht bloß im übertragenen Sinne.
Irgendwann musste ich trotz meiner Verzweiflung eingeschlafen sein, denn ein lautes Klopfen riss mich aus einem unruhigen Schlaf. Nassgeschwitzt öffnete ich die Augen und benötigte einen Augenblick, um mich zu orientieren. Obwohl alles in mir gehofft hatte, einfach wieder in der Strandhütte neben Emmanuel aufzuwachen, befand ich mich noch immer in der Suite. Es war kein böser Albtraum gewesen, sondern bittere Realität.
„Charlotte? Ich habe ein Taxi bestellt. Es wird uns in zwei Stunden abholen und zum Flughafen fahren, ja?", vernahm ich Lucas gedämpfte Stimme durch die verschlossene Tür. Der unsichere Unterton in seiner Stimme veranlasste mich dazu, ihm zu öffnen. Bisher hatte ich ihn nämlich noch nicht darüber informiert, tatsächlich mit der Rückreise einverstanden zu sein.
„Ist gut. Ich werde mit dir nach Hause fliegen", erklärte ich mit belegter Stimme, als ich die Tür einen Spalt geöffnet hatte. Die helle Beleuchtung des Flures, veranlasste mich dazu, meine Augen zusammenzukneifen, aber trotzdem konnte ich in Lucas Gesicht erkennen, wie überrascht er über meine Zusage war. Anscheinend hatte er bisher nicht wirklich damit gerechnet, tatsächlich von mir nach New York begleitet zu werden.
„Das freut mich. Dann bis gleich", erwiderte er mit einem aufrichtigen Lächeln, bevor er sich auch schon wieder abwandte und in seinem Zimmer verschwand. Ein wenig wunderte ich mich schon über seine plötzliche Zurückhaltung, entschied aber, mir nicht auch noch Gedanken um Lucas Befinden machen zu wollen. Immerhin waren wir getrennt und ich hatte mit meinem eigenen Gefühlsleben mehr als genug zu tun.
Während ich also schweren Herzens meine wenigen Habseligkeiten in dem Rucksack verstaute, konnte ich nicht anders, als anschließend an die große Fensterfront des Schlafzimmers zu treten. Ich ließ meinen Blick in die Ferne schweifen, wo der Ozean auf faszinierende Weise mit dem Horizont zu verschmelzen schien. Sehnsüchtig betrachtete ich den Ausblick. Warum konnte das hier kein fucking Film sein? Dann wäre Emmanuel schon lange zu mir gekommen, um mich zu bitten, für immer mit ihm zusammen zu sein.
Allerdings war dies kein Film, sondern meine traurige Realität. Und trotzdem ... Nur ein Wort von ihm und ich würde den Flug nicht antreten. Darüber brauchte ich überhaupt nicht nachdenken. Ich liebte ihn, obwohl wir uns noch nicht so lange kannten. Er war mein Seelenverwandter, dessen war ich mir vollkommen sicher. Trotzdem schien all das nicht zu reichen.
Ein kleiner Teil in mir hoffte allerdings immer noch, er würde wieder zurückkommen und mich von meiner Heimreise abhalten.
****
Wie ferngesteuert folgte ich Lucas durch die großzügige Hotelanlage zu dem kleinen Vorplatz, wo uns der Taxifahrer bereits erwartete. Der Mann mittleren Alters begrüßte uns freundlich, bevor er eine der Türen öffnete, damit wir auf der Rückbank platznehmen konnten. Im Inneren des Fahrzeugs roch es nach abgestandenem Zigarrenrauch, was mich dazu veranlasste, augenblicklich die kleine Kurbel neben meinem Sitz zu bedienen, um das Fenster herunterzulassen. Plötzlich entdeckte ich Miguel. Er stand etwas abseits und war gerade dabei, Getränkekisten aus einem Lieferwagen zu laden. Ich mochte ihn sehr, er war immer gut gelaunt und freundlich. Außerdem betrachtete ich ihn als meinen Lebensretter. Immerhin hatte er mich mit dem Surfbrett auf dem Meer entdeckt und daraufhin Emmanuel informiert. Ich konnte unmöglich abreisen, ohne ihm Lebwohl zu sagen.
Wortlos öffnete ich die Tür des Wagens und lief zu dem Besitzer der Strandbar. Dabei ignorierte ich Lucas Rufe und stoppte erst, als ich direkt vor Miguel stand.
„Oh, hallo schöne Frau! Alles gut?", begrüßte er mich freundlich, während er eine der Getränkepaletten schwerfällig auf einem Rollwagen platzierte. An der Art der Begrüßung vernahm ich, dass er absolut ahnungslos war und noch nicht mit Emmanuel gesprochen haben konnte.
„Ich fliege wieder nach Hause und wollte mich nur schnell von dir verabschieden", antwortete ich mit einem dicken Kloß im Hals. Allerdings setzte ich alles daran, die Fassung zu bewahren.
„Was?", entgegnete mein Gegenüber ungläubig. „Das ist aber sehr schade. Dann kommst du aber sicher bald wieder, oder?"
„Ich fürchte die Antwort darauf lautet Nein", antwortete ich mit tränenerstickter Stimme. Verflucht, ich wollte unter keinen Umständen vor ihm weinen. „Vielen Dank, dass du mir das Leben gerettet hast und bitte pass auf Emmanuel auf!" Mit diesen Worten schlang ich meine Arme für einen kurzen Moment um den völlig überrumpelten Miguel, bevor ich mich auch schon wieder von ihm löste. Ich ließ ihm keine Chance, etwas zu erwidern und rannte zurück zum Taxi, wo Lucas und der Taxifahrer schon ungeduldig auf mich warteten.
Eilig stieg ich in das Fahrzeug und knallte die Tür hinter mir zu. Die aufsteigenden Tränen hatte ich erfolgreich wegblinzeln können.
„Einmal zum Flughafen, ja?", versicherte sich der Fahrer in gebrochenem Englisch, als ich mich schließlich angeschnallt hatte. Er drehte das Radio leiser, während er noch immer auf eine Bestätigung von uns wartete.
„Genau. Vielen Dank", erwiderte Lucas, nachdem er seine Sprache wiedergefunden hatte. Er warf mir einen skeptischen Blick zu, entschied sich dann aber anscheinend dafür, mich nicht nach Miguel zu fragen.
Als der Fahrer den Wagen aus der Parkbucht lenkte, stand Miguel noch immer sichtlich verwirrt auf der Stelle. Er schien nicht ganz verstanden zu haben, was mein Abgang zu bedeuteten hatte, wenn ich seinen Blick richtig deutete. Allerdings konnte ich es ihm auch nicht verübeln – ich war selbst noch fassungslos über die Entwicklung der Dinge.
Der Weg zum Flughafen kam mir unendlich lang vor. Wahrscheinlich lag das auch daran, weil ich mich nicht an der Unterhaltung zwischen Lucas und dem Taxifahrer beteiligte. Stattdessen blendete ich ihre Gespräche aus und betrachtete gedankenverloren die wunderschöne Landschaft Kolumbiens. Immer wieder blitzten Erinnerungen an Emmanuel auf. Wie er mich am Flughafen angesprochen hatte, unser gemeinsamer Abend auf dem Strandfest und der Ausflug zu der Höhle.
Es tat unendlich weh.
Als wir schließlich den Flughafen von Cartagena erreichten, konnte ich immer noch nicht fassen, dass es das nun wirklich gewesen sein sollte. Es gelang mir nicht länger, die Beherrschung aufrechtzuerhalten. Vollkommen unkontrolliert brachen sämtliche Emotionen aus mir heraus und mein Körper wurde von einem heftigen Weinkrampf geschüttelt. Als Lucas meinen Zustand bemerkte, stoppte er sogleich. Hektisch zog er ein Taschentuch hervor und reichte es mir überfordert.
„Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Es ist auch für mich nicht leicht, dich so zu sehen", wandte er sich unsicher an mich, woraufhin ich jedoch nur mit einem Kopfschütteln reagierte. Es gab schlicht nichts, was er hätte sagen können, damit ich mich besser fühlte.
Schweigend bahnten wir uns daraufhin den Weg zu dem Check-In Schalter, wo wir uns in eine Schlange von wartenden Menschen einreihten. Wir mussten uns jedoch nicht lange gedulden, bis wir den Check-In erfolgreich hinter uns gebracht hatten. Es gab ohnehin kein Gepäck, welches ich hätte abgeben müssen. Mein gesamtes Leben steckte sozusagen in dem Rucksack auf meinem Rücken und diesen konnte ich ohne Probleme als Handgepäck mit in das Flugzeug nehmen.
Das für uns zuständige Gate lag am Ende des Flughafens. Der Weg dorthin kam mir endlos vor, weshalb ich mich immer wieder kraftlos umsah. Als wir eine der Ankunftshallen passierten, strömten aus dessen Pforte gerade einige Menschen heraus. Flüchtig betrachtete ich die Gesichter einiger Passagiere, bis mein Blick an einem großgewachsenen Mann mit dunklen Locken hängenblieb. Er trug ein weißes Hemd und dazu eine helle Jeans, welche an den Enden jeweils ein Stück nach oben gekrempelt war. Sein Blick schien stur auf das Smartphone in seiner Hand gerichtet zu sein, während er mit der der anderen Hand eine große Reisetasche festhielt.
Wie eingefroren starrte ich den fremden Mann an. Irgendwie schien dieser meinen Blick zu spüren, denn plötzlich sah er von seinem Telefon auf und blickte mir genau in die Augen. Daraufhin fiel auch der letzte Zweifel von mir ab und mein Herzschlag setzte für einen Moment aus.
Dieser Mann war ganz sicher Alejandro.
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