22. Inconvenience
Grübelnd betrachtete ich das Gesicht meines schlafenden Freundes und fragte mich, wie er die Ankündigung in Bezug auf Alejandro wohl gemeint hatte. Moment! Hatte ich Emmanuel gerade gedanklich als meinen Freund bezeichnet?
Bei dieser Überlegung verzogen sich meine Mundwinkel unwillkürlich zu einem Lächeln und ich konnte nicht anders, als meine Finger vorsichtig durch sein lockiges Haar gleiten zu lassen. Dabei war ich so sanft, wie es mir möglich war. Immerhin wollte ich ihn nicht aufwecken.
Eigentlich war es auch egal, wie die exakte Bezeichnung unserer Verbindung lautete, denn die Hauptsache war doch, dass sie echt war. Und das war sie, daran bestand nicht der Hauch eines Zweifels. Leise und darauf bedacht, ihn nicht zu wecken, rollte ich mich wieder ein wenig von ihm weg und dachte erneut über seine Worte am Vorabend nach. Zwar hatte er betont, ich sollte mir keine Sorgen machen, aber gleichzeitig war mir der unsichere Unterton in seiner Stimme nicht verborgen geblieben. Die Wahrheit sah nämlich so aus: Alejandro wusste bisher weder etwas von meiner Beziehung zu Emmanuel, noch davon, dass ich vorübergehend in der Surfschule untergekommen war. Im Prinzip existierte ich für ihn noch nicht.
Ich konnte nicht leugnen, im ersten Moment enttäuscht gewesen zu sein. Irgendwie hatte ich angenommen, er hätte seine Familie über unsere Beziehung informiert. Gleichzeitig war mir aber ebenso bewusst, keinerlei Ansprüche diesbezüglich stellen zu dürfen. Immerhin wusste bisher auch niemand aus meinem Umfeld von ihm.
Emmanuel hatte allerdings angekündigt, Alejandro sofort über uns aufzuklären, sobald er ihn vom Flughafen abholen würde und so blieb mir aktuell nichts Anderes übrig, als darauf zu hoffen, dass er diese neuen Informationen positiv auffasste. Zwar hatte er seinen Bruder als konservativ bezeichnet, aber dies musste ja nicht unbedingt etwas Schlechtes bedeuten. Außerdem war ich davon überzeugt, dass jeder Mensch spüren musste, wie besonders die Beziehung zwischen Emmanuel und mir war. Ich war mir absolut sicher, Alejandro ebenfalls davon überzeugen zu können.
Irgendwann und zahlreiche Positionswechsel später, schaffte ich es dann doch noch, dem Gedankenkarussell zu entkommen und endlich in einen traumlosen Schlaf zu fallen.
****
Als ich am nächsten Morgen erwachte, fand ich den Platz neben mir leer vor. Völlig schlaftrunken warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr und stellte erschrocken fest, den Arbeitsbeginn vollkommen verschlafen zu haben. Daraufhin sprang ich so hektisch aus dem Bett, dass ich das Gleichgewicht verlor und dabei mit dem Knöchel umknickte.
„Oh, verdammt!", fluchte ich leise vor mich hin, während ich mir zeitgleich eilig meine Kleidung überzog. Ich war fast zwei Stunden überfällig und fragte mich ernsthaft, warum Emmanuel mich nicht geweckt hatte?
Eilig verließ ich daraufhin das Zimmer und kletterte die Leiter hinunter, während mein Knöchel immer noch vor Schmerz pochte. Als ich durch die Eingangstür in die Surfschule humpelte, saß Emmanuel wie selbstverständlich vor seinem Terminplaner.
„Hey! Warum hast du mich denn nicht geweckt?", begrüßte ich ihn und klang dabei schroffer, als beabsichtigt. Er blickte daraufhin jedoch belustigt von seinem Kalender auf und zog eine Augenbraue in die Höhe.
„Also ist es meine Schuld, dass du verpennt hast?", gab er scherzhaft zurück, während ein süffisantes Grinsen seine Lippen umspielte. Er schien die ganze Situation ziemlich amüsant zu finden.
„Nein ...", stammelte ich daraufhin wenig überzeugend. „Also, eigentlich schon irgendwie."
„Entspann dich", lachte er nun ausgelassen. „Ich dachte, du kannst etwas mehr Schlaf gut vertragen. Immerhin habe ich dich gestern Abend in die Höhle entführt und wir waren erst spät zurück. Außerdem gab es heute Morgen sowieso nicht so viel zu tun."
Langsam entspannte ich mich tatsächlich ein wenig und auch der Schmerz an meinem Fußgelenk ließ endlich nach. Trotzdem war es mir immer noch unangenehm, verschlafen zu haben. Nachdem Emmanuel ein wenig später mit einem Kunden zum Surfen an den Strand gegangen war, begann ich, die ausgestellte Ware neu zu sortieren. Ich wusste mittlerweile, dass Emmanuel Wert auf abwechslungsreiche Dekorationen legte. Als ich gerade alle Gegenstände neben mir auf dem Boden abgestellt hatte, vernahm ich plötzlich Schritte hinter mir.
„Hallo", ertönte eine weibliche Stimme und ich musste mich nicht zu ihr drehen, um zu wissen, wer die Surfschule betreten hatte.
„Was willst du, Carla?", fuhr ich sie an und hoffte, sie würde vielleicht auf dem Absatz kehrtmachen, wenn ich mich nur lange genug nicht zu ihr umdrehte. Stattdessen begann ich betont beiläufig, das Regal neu zu befüllen. Allerdings dachte sie anscheinend überhaupt nicht daran, einfach wieder zu gehen.
„Ich habe etwas mitgebracht, was du anscheinend verloren hast", verkündigte sie hochnäsig, woraufhin ich nur genervt die Augen verdrehen konnte. Es gab nichts, was ich vermissen würde und ich hatte nicht vor, mich erneut auf ihre Spielchen einzulassen. Was dachte diese unmögliche Person sich nur dabei?
„Hau einfach ab. Mich interessiert nicht, was du zu sagen hast", fauchte ich nun in einem deutlicheren Tonfall zurück. Insgeheim war mir allerdings bewusst, dass sie nicht aufgeben würde. Diese Lektion hatte sie mich in der Vergangenheit schon gelehrt.
„Oh, na gut ...", erklärte sie mit gespielter Theatralik in der Stimme und seufzte einmal lautstark auf, bevor sie fortfuhr. „Wenn du nicht mit mir reden willst ... Dann aber ganz sicher mit deinem Freund."
„Es geht dich überhaupt nichts an, was oder wann ich etwas mit Emmanuel bespreche", antwortete ich verärgert und ließ mich nun doch dazu hinreißen, sie anzusehen. Carla stand im Türrahmen und musterte mich selbstgefällig von oben bis unten. Wahrscheinlich hatte sie die ganze Zeit nur darauf gewartet, mir diesen Blick zuwerfen zu können.
„Ich rede doch nicht von Emmanuel", erwiderte sie mit einem fiesen Grinsen im Gesicht, bevor sie einen Schulterblick machte und offensichtlich jemandem, der bisher draußen gewartet hatte, ein Handzeichen gab.
Genervt und mit verschränkten Armen blickte ich ihr entgegen. Was hatte sie nun wieder ausgeheckt? Als ich jedoch realisierte, wer hinter ihr zum Vorschein kam, musste ich mich kurzerhand an dem Regal hinter mir abstützen, um nicht das Bewusstsein zu verlieren:
Lucas.
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