2. What goes around comes around
Mittlerweile war es weit nach Mitternacht. Die meisten anderen Passagiere hatten ihre Sitze schon lange in Liegeposition gebracht, um ein wenig Schlaf zu finden. Ich fühlte mich ebenfalls erschöpft, aber meine Gedanken hielten mich wach, denn ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie mein Vater genau in diesem Augenblick vor Wut schäumte. Es war tatsächlich das erste Mal, dass ich mich gegen meine Eltern auflehnte. Zuvor hatte ich mich strikt an ihre Anforderungen angepasst und mein Leben vollkommen nach ihren Wünschen gestaltet. Ganz plötzlich wurde ich von etlichen Erinnerungen an vergangene Situationen der Unterdrückung übermannt und ich fragte mich, wieso ich so lange benötigt hatte, um mich aus diesem goldenen Käfig zu befreien.
Instinktiv schloss ich die Augen und versuchte auf diese Weise meine Eltern, Lucas und das verpasste Harvard-Studium aus meinem Kopf zu verbannen. Ich wollte all diese negativen Einflüsse unbedingt hinter mir lassen. Vorerst zumindest.
Stattdessen fragte ich mich, was mich wohl in Kolumbien erwarten würde. Außerdem freute ich mich darüber, wenigstens ein wenig Spanisch zu sprechen. Das sollte zumindest die dortige Kommunikation erleichtern.
Ungeduldig wanderten meine Augen zu dem Monitor in der Mitte des Ganges und ich musste mich konzentrieren, um die eingeblendeten Informationen lesen zu können. Eine verbleibende Flugdauer von etwas mehr als drei Stunden wurde dort angekündigt. Dies veranlasste mich dann doch dazu, mich nun ebenfalls tiefer in den Sitz sinken zu lassen. Der Pilot hatte zu Beginn des Fluges durchgesagt, dass wir ungefähr fünf Stunden bis zu unserem Zielflughafen benötigen würden. Somit war die Landung in Cartagena, abzüglich des Zeitunterschiedes von einer Stunde, um 4 Uhr morgens angesetzt.
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Der Flughafen von Cartagena war um einiges größer, als ich erwartet hatte. Fast schon ein wenig ehrfürchtig durchquerte ich die - trotz der frühen Morgenstunde - gut gefüllte Ankunftshalle. Die meisten Menschen aus der Maschine versammelten sich vor dem Förderband der Gepäckausgabe, wohingegen ich mich unschlüssig umsah, um zu entscheiden, wohin ich nun eigentlich gehen sollte.
Nachdem ich mich gesammelt hatte, beschloss ich, als erstes einen Waschraum aufzusuchen, um mich dort ein wenig frisch zu machen. Also folgte ich den Beschilderungen, bis ich schließlich die Toiletten gefunden hatte. Ich zog die schwere Metalltür auf und platzierte mich anschließend vor der großen Spiegelfront, während ich meinen Rucksack sorgsam neben dem Waschbecken ablegte.
Meine blonden Haare standen aufgrund der langen Verweildauer im Flugzeug in alle Richtungen ab. Daher zog ich eilig meine Bürste aus der vorderen Rucksacktasche, um sie wieder in eine vorzeigbare Form zu bringen und anschließend zu einem praktischen Zopf zu binden. Einen Moment lang betrachtete ich mich einfach nur und während mir meine grünen Augen müde entgegenblickten, fiel mir etwas in meinem Gesicht auf, was ich schon lange nicht mehr an mir beobachtet hatte: Hoffnung.
Die Hoffnung, mich selbst zu finden und nicht einfach nur die Version von mir zu sein, die meine Eltern mir stets vorgegeben hatten.
Diese Erkenntnis beflügelte mich förmlich und ich verließ voller Enthusiasmus den Waschraum. Im Flugzeug hatte meine Verfassung die gesamte Zeit über zwischen Verunsicherung und Zuversicht geschwankt, aber nun fühlte ich mich ganz plötzlich gefestigt in meiner Entscheidung. Im Endeffekt war wohl alles besser, als ein Leben ohne jegliche Selbstbestimmung leben zu müssen.
Während ich gut gelaunt den Flughafen durchquerte, hielt ich nach einem Geldautomaten Ausschau, denn ich hatte nur noch knapp 80 Dollar in der Tasche. Zu meinem Glück entdeckte ich ziemlich schnell einen entsprechenden Automaten, welchen ich auch sofort ansteuerte. Eilig schob ich meine Kreditkarte in die schmale Vorrichtung, um noch etwas Geld abzuheben.
Mit einem Mal waren jedoch alle Glückgefühle verschwunden und ich starrte fassungslos auf den Monitor. Dort wurde mir angezeigt, dass meine Kreditkarte ungültig war.
„Das darf nicht wahr sein", murmelte ich angespannt vor mich hin. Mehrmals betätigte ich hektisch den Abbruch-Button, nur um die Karte gleich darauf erneut einführen zu können. Die Meldung blieb jedoch beständig und nun dämmerte mir, dass das Konto anscheinend von meinen Eltern gesperrt worden war. Natürlich. Wie naiv von mir, dies zuvor überhaupt nicht in Betracht gezogen zu haben.
Wie in Trance lief ich daraufhin in irgendeine Richtung, bis ich schließlich einen Ausgang erreichte und durch eine Tür nach draußen trat. Sofort schlug mir das tropische Klima entgegen und so stoppte ich unter dem Vordach, um mich meiner Strickjacke zu entledigen. Nachdem ich die Jacke achtlos in den Rucksack gestopft hatte, lehnte ich mich erschöpft gegen eine nebenliegende Steinsäule und schloss entmutigt die Augen.
Was sollte ich jetzt machen? Die Erkenntnis, so gut wie mittellos in einem völlig fremden Land zu sein, trieb mir die Tränen in die Augen und so kam es, dass ich leise zu schluchzen anfing.
„Tränen kehren eines Tages zu ihrem Verursacher zurück", ertönte plötzlich eine männliche Stimme mit einem unverkennbaren spanischen Akzent neben mir, woraufhin ich perplex meine Augen öffnete.
„Was?", entgegnete ich irritiert, während ich mir mit dem Handrücken notdürftig das Gesicht trocknete. Irgendwie war es mir ziemlich unangenehm in meiner Verfassung von einem völlig Fremden angesprochen zu werden.
„Ist ein altes Sprichwort", erklärte mein Gesprächspartner schulterzuckend und lächelte mich dabei aufmunternd an. Seine braunen Augen strahlten dabei eine angenehme Wärme aus und wurden von ein paar feinen Lachfältchen eingerahmt.
„In meinem Fall wird das wohl eher nicht passieren", antwortete ich nachdenklich, denn ich hatte meinen Vater tatsächlich noch nie weinen gesehen. Wahrscheinlich feierte er im Geiste bereits seinen Triumph über mich, da er wusste, dass ich ohne Geld gezwungen war, mich bald zu bei ihm zu melden.
„Kann ich dir vielleicht irgendwie helfen?", wollte der Mann daraufhin von mir wissen. Er hatte seinen Kopf schief gelegt und musterte mich interessiert.
Als wäre die gesamte Situation nicht schon grotesk genug gewesen, sprach ich aus einem plötzlichen Impuls heraus einfach aus, was mich bedrückte. Ich erzählte ihm von meinen Eltern und ihren Vorstellungen, dem nicht angetretenen Studium, meiner Flucht und letztendlich auch von der gesperrten Kreditkarte. Nur über Lucas verlor ich kein Wort. Nicht, weil mich der Gedanke an ihn schmerzte. Viel mehr, weil er ohnehin schon lange keinen Platz mehr in meinem Herzen gehabt hatte.
Nachdem ich meinen Monolog beendet hatte, schlug ich mir erschrocken die Hand vor den Mund.
Hatte ich gerade ernsthaft einem Unbekannten mein Herz ausgeschüttet?
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