Allein
Von außen war ihr nichts anzusehen. Sie hatte wie viele der anderen Schüler und Schülerinnen einen interessierten aber neutralen Gesichtsausdruck aufgesetzt - auf den sie recht stolz war, weil er ihre eigentlichen Emotionen so gut verbarg - und blickte starr auf das whiteboard, vor dem der lehrer wild gestikulierend hin und her lief. Doch in ihrem inneren tobte es. Sie führte einen Krieg - gegen sich selbst.
Du hast nichts getan, du kannst dir nicht die Schuld geben.
Aber irgendeinen Grund wird es doch geben müssen?
Nein, du bist toll, so wie du bist.
Glaube ich nicht... jedenfalls finden das nicht alle.
Die hämische Stimme in ihrem Kopf ließ nicht nach und das Mädchen merkte, wie ihre Selbsbeherrschung zu bröckeln begann. Dabei war ihr Pokerface doch normalerweise so gut - sie schaffte es, alle zu täuschen, verbarg ihre wahren Gefühle selbst vor denen, die sie am meisten liebte, hatte bis jetzt erst einer Person ihr chaotisches inneres anvertraut, was rückblickend ein Fehler gewesen war. Sie schüttelte fast unmerklich den Kopf, sie musste jetzt stark bleiben. Erneut startete sie einen Angriff:
Wenn es an mir läge, würden die Leute es doch sagen, oder?
Nicht, wenn sie hinter deinem Rücken über dich reden. Das haben sie doch schonmal getan, nicht? Was hindert sie daran, es nochmal zu tun?
Das Mädchen spürte, wie ihr die Tränen in die Augen traten. Aber sie durfte nicht weinen, keine Schwäche zeigen. Nicht jetzt. Also blinzelte sie heftig und vertrieb die Tränen mit all ihrer Kraft, was ihr auch kurzzeitig gelang. Die Zeit jedoch hatte die hämische Stimme genutzt, um weiter zu ärgern:
Warum denn nicht? Sie mögen dich wahrscheinlich eh nicht. Wer würde dich denn mögen?
Dem Mädchen wurde es zu viel. Ihre Hände fuhren wie von selbst hoch und drückten sich auf die Seiten ihres Kopfes, als könnte sie mit genug Druck auch die Stimmen aus ihrem Kopf vertreiben. Das brachte ihr einige verwunderte Blicke ihrer Klassenkameraden ein, aber es half nichts.
Sieh dich doch nur an. Du bist weder klein noch groß. Du hast kein besonderes Talent. Du vergräbst dich den ganzen Tag nur in Büchern, anstatt in der wirklichen Welt zu leben.
"Das stimmt nicht!"
Sie sprach das so vehement aus, dass erst einmal Stille herrschte. Jedoch nicht nur in ihrem Kopf sondern auch im Klassenzimmer: den letzten Satz hatte sie aus versehen laut ausgesprochen. Die Köpfe all ihrer Klassenkameraden hatten sich zu ihr umgedreht und selbst der Lehrer hatte seinen Vortrag unterbrochen, um mit langen Schritten an ihren Tisch zu kommen. Die Stimme nutze diese Pause, um weiter zu sticheln:
Hübsch bist du auch nicht. Guck dir doch mal dieses Gesicht an! Kannst du überhaupt irgendwas? So wird dich nie jemand lieben.
Das Mädchen spürte, wie ihr die Tränen heiß und unerbittlich übers Gesicht liefen; sie hatte nicht mehr die nötige Kraft um diese zu stoppen. Nur verschwommen hörte sie, wie der Lehrer sie fragte ob alles in Ordnung sei.
Du wirst für immer alleine bleiben. Einsam. Niemand mag dich. Allein!
Das brachte das Fass zum Überlaufen. "SEI STILL!" Ein wütender Schrei durchbrach die Stille, zornig und doch von tiefer Verzweiflung erfüllt. Es war ihr eigener. Schockierte, mitfühlende aber auch belustigte Blicke trafen sie von allen Seiten, doch sie scherte sich nicht darum. Wegen der Tränen, die noch immer ihr Gesicht benetzten, sah sie nur verschwommen, doch sie drängte sich mit einer gestammelten Entschuldigung am Lehrer vorbei, verließ fluchtartig das Zimmer und lief den Gang entlang. Um weiteren Fragen zu entgehen ließ sie sich ihre langen Haare übers Gesicht hängen, als sie in Richtung Schultoilette flüchtete. Dort angekommen, huschte sie an ein paar Sechstklässlerinnen vorbei und schloss sich in einer der Kabinen ein. Sobald das Schloss klickte, brach das Mädchen zusammen und begann haltlos zu schluchzen.
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