38. 07. Dezember 1941
Weder Niall noch Louis hatten Harry am Morgen des nächsten Tages finden können.
Es war Samstag, die meisten Soldaten hatten frei und somit war es nichts Ungewöhnliches, dass einige von ihnen den Tag an Land verbrachten.
Aber normalerweise hätte Harry ihnen zumindest Bescheid gegeben und erklärt, wohin er gehen würde.
Niall war nicht überrascht, dass sein bester Freund Abstand suchte.
Allerdings wusste er auch, dass er sich in einem Zustand befand, in dem man ihn besser nicht allein lassen sollte.
Also entschloss er sich zusammen mit Louis dazu, nach dem Frühstück aufzubrechen und den Strand nach ihrem Freund abzusuchen.
Nach einer Weile stieß auch Liam zu ihnen, den sie zufällig getroffen hatten.
Ihre Bemühungen allerdings blieben vergebens.
Es war fast so, als würde Harry nicht gefunden werden wollen.
Und so war es auch.
Harry saß nachdenklich an einem Strandabschnitt weit entfernt von Pearl Harbor, zu dem er sich schon in den frühen Morgenstunden geschlichen hatte.
Dort versuchte er, seine Gedanken zu ordnen, doch es war ein hoffnungsloses Unterfangen.
Er kam einfach zu keinem vernünftigen Schluss.
Er konnte zwar auf eine gewisse Art und Weise verstehen, warum Niall und Louis nicht von Anfang an ehrlich zu ihm gewesen waren – aber er fühlte sich so hintergangen, so belogen.
Allein die Zeitspanne, über die sie ihn im Dunkeln hatten tappen lassen, ließ ihn den Glauben an ihren Worten verlieren.
Wie konnten sie nach all dem, was passiert war, noch behaupten, sie hätten nur das Beste für ihn gewollt?
Niemand konnte wissen, was das Beste für ihn war.
Noch nicht einmal er selbst wusste, was er wirklich brauchte, um diese Geschichte endlich hinter sich lassen zu können.
Mit der untergehenden Sonne machte er sich auf den Weg zurück zur USS Arizona.
Noch immer bemüht, jedem möglichen Gespräch aus dem Weg zu gehen, zog er sich in das unterste Deck zurück und versuchte, ein wenig zu lesen.
Doch auch das gelang ihm nicht.
Egal, wie sehr er es versuchte, er konnte sich einfach nicht konzentrieren.
Er konnte seine Gedanken nicht dazu bringen, sich länger als eine halbe Minute mit etwas anderem zu befassen, als der Situation, in der er gerade steckte.
Er ging erst weit nach den anderen zu Bett, damit niemand auf die Idee kam, ihn zu fragen, wie es ihm ging.
Während er sich hinlegte, hoffte er, dass Niall und Louis nicht wachgeblieben waren, um ihn zur Rede zu stellen.
Doch er hatte Glück.
Nichts.
Kein Ton.
Und trotz der seltsamen Ruhe, die ihn umgab, konnte er nicht schlafen.
Er verbrachte die Hälfte der Nacht in einer Art Dämmerzustand, aus dem er immer wieder geweckt wurde, ohne sagen zu können, wovon.
Er quälte sich bis in die frühen Morgenstundendes 7. Dezembers 1941, ehe er aufgab und sich anzog und nach draußen ging.
Die Sonne ging auf, es war fast Morgen, als er nachdenklich das Wasser beobachtete, das sanft gegen den Bug der USS Arizona plätscherte.
Harry hatte keine Ahnung, was er jetzt tun sollte.
Sich in Louis getäuscht zu haben, konnte er sich noch irgendwie mit einer rosafarbenen Brille erklären.
Aber Niall?
Niall war seit dem Kindergarten sein bester Freund gewesen.
Niemals hätte er gedacht, dass er jemals irgendetwas tun könnte, um ihn absichtlich zu hintergehen.
Er hätte seine Hand dafür ins Feuer gelegt, dass es nichts und niemanden gab, der sich zwischen sie stellen konnte.
Aber er hatte sich auch in diesem Punkt getäuscht.
Er spürte, wie sein gesamter Körper schmerzte, als er langsam im Sitzen einschlief.
Zu groß war die Erschöpfung, gegen die sein Geist seit Stunden ankämpfte.
Geweckt wurde er erst wieder gegen kurz vor acht Uhr, durch einen Lärm, den er zuerst nicht zuordnen konnte.
Es war Sonntag, folglich konnten es keine militärischen Übungen sein.
Und doch hörte er ein Geräusch, das sich anhörte, als würden mehrere Kampfflugzeuge in Hochgeschwindigkeit über seinen Kopf hinwegfliegen.
Dann fielen die ersten Schüsse.
Harry zuckte erschrocken zusammen.
Innerhalb einer einzigen Sekunde war er hellwach.
Eine Sekunde, die ihn beinahe sein Leben gekostet hatte.
Nur wenige Meter neben ihm schlug eine Kugel auf das Deck ein, während er noch immer versuchte zu begreifen, was an diesem Dezembermorgen in Pearl Harbor passierte.
Blinzelnd schirmte er mit der Hand seinen Blick gegen das Sonnenlicht ab, das tatsächlich von mehreren Kampfflugzeugen verdunkelt wurde.
Doch diese Flugzeuge trugen keine amerikanische Flagge, sondern das Symbol der aufgehenden Sonne.
Die Flagge Japans.
Harry begriff sofort und war innerhalb weniger Augenblicke auf den Beinen.
Er rannte gebückt zum Eingang und flüchtete unter Deck, während seine Gedanken rasten.
Um ihn herum wurde es langsam hektisch.
Er würde ihn nie vergessen, den Augenblick, in dem die Erkenntnis die Soldaten in Pearl Harbor traf, wie ein Schlag: Sie wurden angegriffen. Von den Japanern.
Die schlimmsten Befürchtungen, die man bisher immer für unwahrscheinlich gehalten hatten, verwandelten sich innerhalb von Sekunden für mehrere tausend Amerikaner in schreckliche Realität.
Sofort sprangen seine Gedanken zu Niall und Louis, die vermutlich noch immer ahnungslos in ihren Betten lagen.
Schnellen Schrittes eilte er zu den Mannschaftsunterkünften und fühlte sich unter Deck vorerst sicher.
Doch er war sich fast genauso sicher, dass diese Sicherheit ihn täuschte und er so schnell wie möglich wieder von hier verschwinden und auf die Japaner schießen musste.
Wenige Gänge vor seinem Ziel traf er auf Sergeant Johnson, der in diesem Moment so blass war, wie Harry ihn noch nie zuvor gesehen hatte.
Als Johnson den Mann sah, dessen Leben er in den letzten Monaten ruiniert hatte, hielt er an und griff ihn bei beiden Schultern.
„Was machst du hier unten, Harry?", wollte er wissen, und in seine Stimme schien sich echte Besorgnis zu mischen. „Wir haben eben eine Meldung bekommen."
Mit zitternden Händen hielt er Harry ein Telegramm entgegen.
Luftangriff auf Pearl Harbor. Dies ist keine Übung.
Harry schluckte, als der Ernst der Lage unerbittlich zu ihm durchdrang.
„Geh nach oben, Harry", riet Sergeant Johnson ihm mit ernster Miene. „Jeden Moment werdet ihr den Befehl bekommen, euch in Gefechtsposition zu begeben."
Harry nickte und deutete den Gang hinunter. „Ich muss den anderen Bescheid geben", erklärte er und wollte an seinem Vorgesetzten vorbei, doch dieser hielt ihn am Arm zurück.
„Das wird schon jemand erledigen", beharrte Johnson. „Wir brauchen jetzt jede verfügbare Kraft oben an Deck."
Niall und Louis befanden sich unterdessen in den Mannschaftsräumen.
Sie hatten gerade ihre Uniformen angelegt, um den Tag zu beginnen, als ein junger Matrose in den Raum stürmte und alle schlafenden Soldaten weckte.
Die beiden Männer warfen sich einen irritierten Blick zu, als sie den jungen Mann dabei beobachtete, wie er die sich noch im Halbschlaf befindlichen Soldaten zu wecken versuchte. „Wir werden angegriffen!"
Einige der Männer richteten sich auf und zogen sich an, während andere sich verschlafen die Augen rieben.
Niall und Louis allerdings hatten keine einzige Sekunde lang Zweifel an dem gehegt, was der junge Matrose ihnen soeben gesagt hatte.
Niall zog die Augenbrauen zusammen und ging auf ihn zu. „Was ist passiert?"
„Luftangriff", stammelte er außer Atem, „Die Japaner fliegen mit Kampfflugzeugen über Pearl Harbor und schießen auf die Schlachtschiffe."
Niall riss die Augen auf und blickte in Louis' Gesicht, das vermutlich genauso schockiert aussah, wie das seine.
Denn sie wussten beide, dass fast die gesamte Pazifikflotte der Vereinigten Staaten in Pearl Harbor vor Anker lag.
Allein neben Ford Island lagen mit der USS Arizona acht Schlachtschiffe in Zweiergruppen in der sogenannten Battleship Row beieinander.
Sie gaben also das perfekte Ziel für jeden Angreifer ab, der es auf sie abgesehen hatte.
Niall war mit wenigen Schritten wieder bei Louis, als er die Frage aussprach, die beide wohl am meisten beschäftigte. Sein Gesicht war plötzlich leichenblass.
„Wo ist Harry?"
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So, meine Freunde, irgendwann hat es ja passieren müssen...🥺🤍
In wenigen Tagen jährt sich der Angriff auf Pearl Harbor zum 82. Mal. Hättet ihr Interesse an ein paar historischen Hintergrundinformationen auf meinem Instagramprofil? Lasst es mich gerne in den Kommentaren wissen🔽🤍
All the love,
Helena xx
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