6. Kapitel
Die Ideen sind nicht verantwortlich für das, was die Menschen aus ihnen machen.
Werner Heisenberg
Tai konnte den Abend kaum erwarten. Es war das erste Mal, dass er so etwas wie ein Geheimnis mit einem der Buren teilte. Und bedeutete das nicht, dass sie ihm vertrauten? Ndege und Muuaji jedenfalls. Da Boriti es verboten hatte, die hinteren Wracks zu betreten, mussten sie sich eine Ausrede einfallen lassen. Letztendlich behauptete Ndege, er würde Tai zeigen, wie die Mechanik der Hakenspulen funktionierte, mit denen die Buren sich an steilen Felswänden hoch und runter bewegen konnten. Dabei hatte er das schon vor zwei Tagen gemacht.
Die Sonne war nur noch eine blasse Scheibe nahe des Horizonts und die Gänge zwischen den Wracks waren in dunkle Schatten mit kühler Luft getaucht. Tais Anspannung stieg je mehr sie sich den verlassenen Metallkolossen näherten. Kein Mensch war zu sehen. Keine spielenden Kinder und niemand, der spontan einen Spaziergang machte. Auch im Sand gab es keine einzige Spur. Wenigstens bedeutete das, dass auch keine Untiere in der Nähe waren. Vor einem Wrack, von dem nur noch die Spitze aus dem Boden ragte, blieb Ndege stehen. Ein schwarzes Loch klaffte in der Metallwand.
»Hast du dein Messer?«, fragte der Bure.
»Ja«, antwortete Tai und wagte nicht zu fragen, ob er es brauchen würde. Er wollte nicht aussehen, als hätte er Angst. Immerhin hatte sein Mut ihn überhaupt so weit gebracht.
»Fass am besten so wenig wie möglich an«, warnte Ndege ihn noch, bevor er als erster in dem finsteren Loch verschwand. Mit einem mulmigen Gefühl im Magen folgte Tai ihm.
Sein neuer Freund hatte zum Glück eine kleine Laterne mitgenommen, die ein gespenstisches Licht im Inneren des Wracks verbreitete. Sie mussten zuerst eine schräge Metallwand hinunterklettern, wobei Tai zwei Mal fast den Halt verlor. Es ging immer weiter runter und bald war es draußen so dunkel, dass er nicht mehr sagen konnte, wo genau über ihnen sich jetzt der Einstieg befand. Schließlich hielt Ndege an und reichte ihm wortlos die Laterne. Dann drehte er an einem halb verrosteten Rad, das sich nur unter lautem Quietschen und Knirschen bewegte. Daraufhin öffnete sich eine Tür, durch die sie in einen weiteren Raum traten. Dieser war viel kleiner. Die Wände waren aber vollgestellt mit Schränken und auf dem Boden lagen irgendwelche Sachen, die durch die Schräglage des Wracks alle in eine Ecke gerutscht waren.
Tai ging neugierig zu dem Haufen hinüber und betrachtete ihn. Ihm fiel ein Stück Papier auf, auf dem zwei Menschen abgebildet waren. Doch sie sahen so echt aus! Das konnte unmöglich ein gezeichnetes Bild sein! Fasziniert bückte er sich, um es aufzuheben, als ihm einfiel, was Ndege ihm gesagt hatte: Nichts anfassen.
Der Bure hatte mittlerweile eine weitere Tür geöffnet. Tai folgte ihm in einen anderen Gang. Links und rechts davon gab es immer wieder Türen, die Ndege jedoch nicht beachtete. Er blieb nur vor einer stehen, auf die auf Augenhöhe ein schwarzes Zeichen auf gelbem Grund gemalt war. Es sah aus wie eine Sonne, von der aber nur drei breite Strahlen abgingen.
»Bereit?«, fragte Ndege ihn.
Tai nickte entschlossen und atmete tief durch. Wer würde so tief unten in diesem Wrack wohnen? Was ist hinter dieser Tür?
Geduldig wartete er, bis Ndege die dieses Mal drei Räder gedreht hatte. Ein leises Zischen ertönte, dann zog der Bure quietschend die Tür auf. Dahinter leuchtete ein schwaches Licht. Der unangenehme Geruch abgestandener Luft kam Tai entgegen und er unterdrückte ein Husten, bevor er den Raum betrat. Er befand sich auf einem engmaschigen Metallgitter, das wie eine Plattform aus der Wand ragte. An einer Seite führte eine Treppe hinab in den eigentlichen Raum, aber als er sie nehmen wollte, hielt Ndege ihn auf.
»Besser nicht«, flüsterte er ihm zu. »Das da unten ist sein Revier.«
Wessen Revier?, wollte Tai fragen, als er ihn sah. Den Menschen, der in einer Ecke kauerte und sich in der Hocke hin und her wiegte. Er war scheinbar nackt, hatte keine Haare und die Haut war faltig und voller Altersflecken. Tai hatte noch nie einen so alten Menschen gesehen. Er müsste doch schon lange tot sein! Wovon ernährt er sich hier unten? Er war so geschockt, dass er nicht bemerkte, wie der alte Mann den Kopf hob und ihn anstarrte.
»Ich grüße dich, Kifo«, sagte Ndege neben ihm und riss Tai aus seiner Schockstarre. »Der Große Krieg ist vorbei. Möchtest du zu uns nach oben kommen?«
Der Alte hielt kurz inne und schüttelte dann wild den Kopf. »Er ist nie vorbei, nie vorbei.« Seine krächzende Stimme hallte laut in dem Raum wider. Den Worten haftete ein schwacher Akzent an, den Tai nicht richtig einordnen konnte. »Kreischende Menschen. Sterbende Menschen. Verpufft im Feuer. Nie da gewesen. Nur noch ein Schatten. Nein, nein, nein. Hier ist es sicher. Hier lebe ich. Hier lebe ich weiter. Immer weiter.«
Bestürzt beobachtete Tai, wie Kifo sich an dem länglichen Objekt neben sich auf die Beine zog. Er strauchelte kurz und stakste dann hinüber zu einem der Schränke an der Wand. Seine Finger zitterten, als er eine der Schubladen öffnete. Tai konnte nicht genau erkennen, was sich darin befand, aber es musste etwas sein, was auch für das schwache Licht in diesem Raum verantwortlich war. Kifo hielt sich etwas an die Lippen, schluckte und kehrte dann wieder zu seinem Platz neben dem länglichen Objekt zurück. Tai bemerkte, dass darauf dasselbe Zeichen gemalt war wie auf der Tür. Allgemein wimmelte es hier nur so vor diesem Zeichen. Auch auf dem Schrank war es abgebildet. Und auf weiteren Kisten und Truhen, die sich hier überall stapelten.
»Ich konnte es nicht tun«, krächzte Kifo auf einmal. »Ich musste an die Katastrophen in Japan, Nordwestkorea und den mittleren Staaten denken. Die vielen Toten. Und die russische Allianz, vollständig ausgelöscht. Alle tot. Es hätte nie passieren dürfen. Aber ich war ein Feigling. Ich konnte es nicht. Selbst nicht für mein Land.« Er stieß einen unmenschlichen Klagelaut aus und fing wieder an, sich hin und her zu wiegen, wobei er leise etwas auf einer anderen Sprache murmelte.
»Wovon redet er?«, flüsterte Tai Ndege zu.
»Von der Zeit vor dem Großen Krieg«, antwortete er in gedämpftem Tonfall. »Er ist einer der Alten. Vielleicht sogar der letzte. Mit ziemlicher Sicherheit sogar.«
»Ein Alter?« Tai musste sich zügeln, um weiterhin leise zu sein. »Das ist unmöglich!«
»Wie erklärst du dir dann, dass er Sachen weiß, die wir uns nicht erklären können?«
»Vielleicht ist er ein Verrückter.«
Ndege schüttelte den Kopf. »Dafür erzählt er zu viele Sachen, die in sich stimmig sind. Und schau ihn dir an. Er muss unglaublich alt sein. Mehrere hundert Jahre. Er hat das Wrack wahrscheinlich nie verlassen. Du hast es vorhin selber gehört: Er denkt, dass oben immer noch der Große Krieg tobt.«
»Wie hat er so lange überlebt?«
Der Bure deutete zu dem Schrank, aus dessen Schublade Kifo sich zuvor etwas geholt hatte. »Er ernährt sich von der Flüssigkeit in den Gefäßen dort. Sie halten ihn am Leben. Ich habe keine Ahnung, was genau da drin ist, aber ich möchte es auch nicht herausfinden. Ewiges Leben zu so einem Preis...« Er schüttelte den Kopf.
»Die Südoststaaten«, heulte Kifo auf einmal und hob drohend einen seiner krummen, knochigen Zeigefinger. »Es sind immer die Südoststaaten. Der Bürgerkrieg hätte nie stattfinden dürfen. Mary, my Mary.«
»Lass uns besser gehen«, flüsterte Ndege Tai zu und zog ihn am Ärmel aus dem Raum hinaus. »Wir waren sowieso schon viel zu lange hier.«
Draußen auf dem Gang schob der Bure die Tür wieder zu und verschloss sie, indem er an den drei Rädern drehte. Dann machten sie sich auf den Weg zurück.
»Wir haben ihm den Namen Kifo gegeben, aber so heißt er nicht wirklich«, erklärte Ndege. »Er selbst nennt sich entweder George oder Miller. Keine Ahnung, welcher davon der richtige ist. Scheinbar gehörte er früher zu einem Land namens Südstaaten und dessen Nachbar hat einen Bürgerkrieg gegen irgendein größeres Land begonnen.« Er hielt inne. »Die genauen Details hat niemand verstanden. Es hat etwas gedauert, bis er begriffen hat, dass wir seine Sprache nicht sprechen. Er hat Ostländisch aber erstaunlich schnell gelernt. Fast, als hätte er seine Kenntnisse nur auffrischen müssen.« Ndege schüttelte den Kopf. »Jedenfalls wurde irgendwann die erste Todeswaffe benutzt – sie hieß Atombombe – und das große Land hat sich selbst zerstört. Dann haben seine verbündeten Länder andere angegriffen, weil sie der Meinung waren, die wären Schuld daran. Irgendwann hat die ganze Welt gegeneinander gekämpft und alle gingen unter. Das war der Große Krieg.«
»Schrecklich.« Tai wusste nicht, was er noch dazu sagen konnte. Dass die Alten sich gegenseitig so sehr gehasst haben... Sie haben sich selbst zerstört. »Dann kommt die Strahlenkrankheit von diesen Atombomben?«
»Das können wir nur vermuten«, antwortete Ndege. »Eigentlich müsste Kifo dann auch krank sein. Wobei man das bei ihm wahrscheinlich nicht mehr genau sagen kann. Deswegen meinte ich, dass du besser nichts anfasst. Ich weiß nicht, wie weit er sich nach oben traut, wenn keiner da ist. Er könnte etwas berührt haben.«
»Und was bedeutet das Zeichen, das überall in dem Raum war?« Tai malte es mit den Fingern in die Luft. »Das schwarz-gelbe.«
»Keine Ahnung«, gab Ndege zu. »Vielleicht ist es ein Warnzeichen der Alten für die Strahlenkrankheit. Umso besser, wenn wir schnell wieder hier raus kommen.«
»Bedeutet das, dass eine dieser Atombomben in Kifos Raum war?«, wollte Tai noch wissen, doch der Bure antwortete ihm nicht mehr. Mittlerweile waren sie schon an dem Einstieg angekommen und kletterten nach draußen.
»Es ist besser, wenn man nicht darüber nachdenkt«, meinte Ndege nur. »Was in dem Wrack ist, sollte in dem Wrack bleiben. Es ist nichts Gutes und es ist gefährlich.« Er sah ihn streng an. »Kifo ist ein Geheimnis der Buren und es soll auch so bleiben. Erzähle niemandem davon. Ich möchte nicht wissen, was machtgierige Leute tun würden, um den letzten lebenden Alten und sein Wissen in die Hände zu bekommen. Vielleicht sogar eine dieser Atombomben.«
Tai nickte, doch innerlich überlegte er, ob er nicht irgendwann nochmal in dieses Wrack hinabsteigen würde. Ndege hat recht. Kifo besitzt so viel verlorenes Wissen! Wird er mir nicht irgendwie helfen können, den Thron zurückzuerobern? Sicher kennt er auch unbekannte Technik der Alten. Und eine Atombombe... Auf dem Rückweg bildete sich eine Gänsehaut an seinem ganzen Körper. Wenn man mit einem zweiten Großen Krieg droht, bekommt man dann alles, was man möchte? Wie mächtig ist so eine Waffe? Auf seltsame Weise fand er diese Vorstellung faszinierend.
Mutter, ich habe einen Plan, falls mein anderer nicht funktioniert. Aber jetzt weiß ich, dass ich meinen rechtmäßigen Platz um jeden Preis bekomme. Niemand würde einen zweiten Großen Krieg riskieren. Niemand außer ich. Erst werden alle mich fürchten, aber dann werden sie verstehen, dass sie im Ostland am sichersten sind. Niemand wird sich mit mir anlegen. Ich werde dich stolz machen, Mutter. Ich kenne meine Bestimmung.
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