27. Kapitel
Ein Wahn, der mich beglückt,
Ist eine Wahrheit werth,
Die mich zu Boden drückt.
Christoph Martin Wieland
Der Feuertanzsaal war, nachdem König Miro ihn mit dem Blut seiner strahlenkranken Attentäter getränkt hatte, kaum angetastet worden. Nur die mutigsten Dienerinnen trauten sich hinein, um den Boden zu wischen und den Staub und die auffälligsten Spinnweben zu entfernen. König Javet hatte zwar versucht, wieder Feste darin zu veranstalten, doch sobald die Gäste erfuhren, wo sie würden tanzen und speisen müssen, kamen sie nicht oder baten um einen anderen Ort zum Feiern. Selbst die Hochzeit von König Javet und Königin Rafaga hatte im Innenhof der Burg unter freiem Himmel stattgefunden. Jetzt hingegen saß eine Frau mit auffällig hellen Haaren auf einer der an die Wand geschobenen Bänke.
Ihr wacher Blick wanderte zu dem zerfetzten Gemälde im hinteren Teil des Feuertanzsaals. Dahinter hoben sich die Steine einer frisch errichteten Wand ab. Offenbar war dort früher ein Loch gewesen, das irgendwann zugemauert worden war. Die Augen der Frau wanderten weiter bis zu der Tür, die sich im selben Moment öffnete.
»Du wolltest mich sprechen.« Es war keine Frage, die König Javet stellte, sondern eine Aussage.
»Ja.« Hilgard deutete auf den freien Platz neben sich. »Setz dich.«
»Ich stehe lieber.«
»Du wirkst so unruhig. Ist alles in Ordnung?«
König Javet runzelte verärgert die Stirn und strich sich eine Strähne seines schwarzen Haares zurück, die ihm in die Augen hing. Sie kehrte jedoch wieder zurück und er steckte sie sich so aggressiv hinter das Ohr, dass er kurz vor Schmerz das Gesicht verzerrte. »Es ist nicht leicht, über ein Land zu herrschen«, zischte er. »Besonders, wenn ich befürchten muss, jederzeit hinterrücks verraten zu werden. Oder erdolcht zu werden. Von meinem eigenen Sohn zum Beispiel.« Er fing an, unruhige Kreise mitten im Feuertanzsaal zu drehen, der Blick finster. »Nur gut, dass ich den Dolch rechtzeitig entfernt habe. Was, wenn Kuumwa ihn wirklich bekommen hätte? Ich möchte gar nicht daran denken!« Er seufzte frustriert. »Prinz Ragnar macht nur Schwierigkeiten. Er ist ganz sicher nicht einfach nur aus Höflichkeit gekommen. Wann war Königin Sunna jemals auf Frieden aus? Nie! Er hat etwas vor. Und denkt gleichzeitig, ich wäre blind! Als ob ich nicht sehe, dass er versucht, sich Cheka zu nähern! Hast du gewusst, dass sie ihn bei einem ihrer Ausritte mitgenommen hat? Sie hat ihm dafür sogar eines der Höllenrösser überlassen!«
»Nein«, gab Hilgard zu.
»Sie sind zurückgekommen und haben gelacht!« Javet hob drohend einen Finger. »Er ist zwar ein Prinz, aber selbst für ihn gibt es Grenzen! Wenn ich ihn auch nur ein weiteres Mal dabei erwische, wie er meiner Tochter schöne Augen macht, werde ich ihn unter Arrest stellen, das schwöre ich!«
»Ich kann dir sagen, warum er hierher gekommen ist«, sagte Hilgard auf einmal.
König Javet unterbrach seine ewigen Kreise und sah sie ungläubig an. Dann lachte er auf. »Das bezweifle ich! Königin Sunna hätte dich nie in so einen geheimen Plan eingeweiht!«
»Es gibt nur einen geheimen Plan und den habe ich mir ausgedacht.«
Jedes Lächeln verschwand vom Gesicht des Königs. Sein rechtes Auge funkelte Hilgard wütend an. »Was sagst du da?«
»Sicherlich hast du mittlerweile rausgefunden, dass Rafaga im Nordland war, in Burg Jern«, meinte sie ruhig. »Sie war bei mir und hat mich um etwas gebeten. Ich soll mit dir reden. Das ist alles.«
»Reden? Worüber sollten wir reden?« Sein Gesichtsausdruck entspannte sich etwas, aber er machte immer noch keine Anstalten, sich zu setzen.
»Über die alten Zeiten zum Beispiel«, schlug Hilgard vor. »Weißt du noch, wie wir uns das erste Mal begegnet sind? Wir waren beide im Kerker von Burg Jern. Und dann habe ich dir verraten, wie du dein Leben und das von Annie und mir retten kannst. Ich erinnere mich noch an Annie, aber sehr schwach. Sie war ein hübsches, nettes Mädchen, oder?«
»Ja, das ist sie.«
»Es muss dich schwer getroffen haben, als sie gestorben ist.«
König Javet starrte sie regungslos an. Langsam schweifte sein Blick in Richtung einer anderen Bank und verharrte dort. Hilgard erhob sich von ihrem Platz, strich die Falten ihres Kleides glatt und bewegte sich mit langsamen, gemächlichen Schritten zu genau dieser Bank, wo sie sich erneut hinsetzte. König Javet blinzelte und schüttelte ruckartig den Kopf, als hätte sie ihn damit aus einer Trance gerissen. Verärgert runzelte er die Stirn.
»Mir gefällt nicht, was du gerade tust.« Ein drohender Unterton lag in seiner Stimme.
»Was tu ich denn gerade?« Hilgard faltete die Hände in ihren Schoß. »Ich habe mich nur umgesetzt. Wir sind alleine in diesem Raum und du möchtest dich nicht setzen. Ich nehme also niemandem den Platz weg. Oder bist du anderer Meinung?« Als er schwieg, fuhr sie fort: »Rafaga hat mir erzählt, dass du dein Schwert nach Annie benannt hast. Eine schöne Erinnerung. Ich habe auch etwas, was mich an meine Mutter erinnert.« Sie strich mit den Fingern an ihrer silbernen Halskette entlang, bis sie das Medaillon zu fassen bekam. »Das hat früher ihr gehört. Ich glaube, ich habe dir noch nie erzählt, wie sie gestorben ist, oder?«
»Es interessiert mich nicht!« Javets Körper wirkte nun so angespannt als würde er sich auf einen Kampf vorbereiten. »Dieses Gespräch geht mir allmählich auf die Nerven! Ich möchte nicht über diese alten Zeiten reden! Die liegen in der Vergangenheit! Ich habe genug Probleme in der Gegenwart!«
»Ja, die alten Zeiten liegen in der Vergangenheit, da hast du recht.« Hilgard stand wieder auf und stellte sich genau auf den Punkt, auf den Javets Blick nun fixiert war. Wieder ruckte sein Kopf hoch, wütend. »Meine Mutter hat früher gesagt, dass man die Vergangenheit ruhen lassen soll und hat sich dann selber nicht daran gehalten, weil sie nicht fassen konnte, dass König Borne sie für eine andere verlassen hat. Oft behaupten wir, nach gewissen Prinzipien zu leben ohne es dann wirklich zu tun. Nur können wir uns unsere Fehler nicht eingestehen. Wir lügen uns immer weiter an, bis wir denken, dass das, was wir tun, wirklich mit unseren Prinzipien übereinstimmt. Dass es richtig ist.« Sie begegnete Javets Blick fest und mit Entschlossenheit. »Ich sehe, dass du Annie, nach all dieser Zeit, immer noch nicht loslassen kannst. Es ist sogar so weit gekommen, dass du sie siehst, nicht wahr? Sie steht gerade neben mir.«
König Javet schaute zur Seite, blinzelte. »Das stimmt nicht.«
»Rafaga hat erzählt, dass du manchmal sogar mit ihr redest«, fuhr Hilgard fort. »Das muss aufhören, Javet. Annie ist tot und du solltest die Toten ruhen lassen. Was du siehst, ist nicht die echte Annie. Es ist eine fremde Frau, die du aus deinen Wünschen und deiner Sehnsucht erschaffen hast.«
»Sie sagt, du sollst schweigen.«
»Hätte die echte Annie das gesagt?« Hilgard versuchte, seinen Blick wieder einzufangen, doch es gelang ihr nicht. »Hätte sie wirklich von dir verlangt, alle anderen Meinungen außer ihre eigene zu ignorieren? Weisheit kommt nicht durch blinden Gehorsam. Du kannst hier und jetzt entscheiden, nicht auf sie zu hören und mich reden zu lassen.«
König Javet zögerte, der ganze Körper angespannt. Seine Lippen zitterten, doch er hielt sie fest zusammengepresst, seine Finger zuckten. Schließlich öffnete er den Mund, doch bevor er etwas sagen konnte, wurde die Tür zum Feuertanzsaal aufgerissen und ein junger Garderitter stürmte herein. Als er Hilgard sah, wirkte er etwas überrascht, verbeugte sich jedoch hastig.
»Mein König! Wir haben Euch überall gesucht! Es ist wegen Prinzessin Cheka!«
Sobald er den Namen seiner Tochter hörte, verzog sich das Gesicht des Königs zu einer wütenden Grimasse. »Wir reden später!«, schleuderte er Hilgard entgegen, die noch dazu ansetzte, etwas zu sagen, aber im nächsten Moment wurde die Tür des Saals zugeschlagen und sie war alleine.
Einige Augenblicke blieb sie still stehen. Nur ihre zu Fäusten geballten Hände verrieten, dass sie zutiefst frustriert war. Ein roter Blutstropfen floss ihr aus der Nase, den sie jedoch schnell wegwischte. Nach einer kurzen Überlegungszeit raffte sie sich zusammen und eilte ebenfalls hinaus. Im Flur stieß sie fast mit einem Garderitter zusammen, der gerade schnellen Schrittes irgendwo hin eilte. Die sonst eher ruhige Burg war scheinbar kurzzeitig in Chaos versunken. Hilgards Blick blieb an einem anderen Garderitter hängen, der sein Schwert gezogen hatte. Die Klinge war blutbefleckt.
»Prinzessin Hilgard«, sprach sie auf einmal der Garderitter an, der fast mit ihr zusammengestoßen war. »Es tut mir ausdrücklich leid, aber wir haben den Befehl, alle nordländischen Gäste in Gewahrsam zu nehmen.«
»Warum?«
»Prinz Ragnar hat etwas getan, was er nicht hätte tun dürfen...« Der Garderitter klang traurig, fast schon enttäuscht. Mit einer höflichen Handgeste bedeutete er ihr, in welche Richtung sie gehen sollte. Hilgard folgte diesem wortlosen Befehl und ließ sich zurück zu ihrem Gästezimmer führen, vor dem bereits zwei Garderitter Wache standen.
»Bin ich eine Gefangene?«, fragte sie, bevor die Tür hinter ihr geschlossen wurde.
»Es tut mir wirklich leid«, antwortete der Garderitter nur. »Falls Ihr etwas braucht, klopft von innen an die Tür und man wird es Euch bringen.«
»Ich möchte mit meiner Dienerin Irma sprechen.«
»Das ist leider nicht möglich.«
Die Tür fiel ins Schloss.
***
Im Innenhof von Burg Fedha herrschte Chaos. Pferde und Höllenrösser wieherten wild angesichts der vielen gezogenen und teilweise blutbefleckten Waffen. Schreie hallten durch die Luft. Geschockte Gesichter und vor Fassungslosigkeit weit aufgerissene Augen, die von Garderittern eifrig zurück ins Innere der Burg gedrängt wurden. Vor den Ställen hatte sich ein Tumult gebildet. Die Menschenmenge war so dicht, dass ein Durchkommen unmöglich erschien, doch sobald der König kam, wurde Platz gemacht.
»Vater!« Ein Mädchen von ungefähr fünfzehn Jahren wurde von einer Garderitterin festgehalten. Um ihre Schultern war zwar ein Mantel geschlungen, aber dadrunter lugten die losen Schnüre ihrer Reiterweste hervor. Tränen standen in ihren Augen, während sie verzweifelt versuchte, sich loszureißen und zu dem jungen Mann zu kommen, der von zwei Garderittern zu Boden gestoßen worden war. Einer von ihnen hielt ihm die scharfe Klinge seines Schwertes an die Kehle, was ein Aufstehen unmöglich machte.
»Wie kannst du es wagen!«, donnerte König Javet. »Wärst du nicht der Prinz des Nordlandes, hätte man dich sofort getötet!«
Ragnar schmunzelte und hob den Kopf etwas an. Die Klinge folgte ihm. Er schien keine Angst vor ihr zu haben, obwohl sich bereits ein blutender Schnitt über seinen nackten Oberkörper zog. Die Hose war das einzige, was er noch an hatte, doch der Gürtel, der sie an seinen Hüften halten sollte, stand offen. »Dann ist es ja gut, dass ich ein Prinz bin, oder?«
»Vater! Vater, bitte! Er kann nichts dafür! Ich habe selbst...«
»Schweig!«, fuhr König Javet seine Tochter an. »Bewahre dir wenigstens die Ehre, die dir noch geblieben ist!« Er machte eine barsche Handbewegung. »Bringt sie weg!«
»Nein, Vater!« Doch Chekas Proteste blieben ungehört. Die Frau, die sie festhielt, zerrte sie mit sich mit und verschwand hinter dem Kreis aus Garderittern, der sich mittlerweile gebildet hatte. Aus einer anderen Richtung eilte ein weiterer Höllenmann herbei und blieb neben dem König stehen.
»Prinzessin Hilgard wurde vorerst in ihrem Zimmer unter Bewachung gestellt«, berichtete er. »Das restliche Gefolge wurde ebenfalls gefangen genommen. Einige haben sich gewehrt und wurden verletzt. Sie wissen nicht, was passiert ist. Sie denken, Ihr habt sie als Geisel genommen, um etwas von Königin Sunna zu verlangen. Sie denken an Krieg.«
»So, denken sie das?« König Javet warf dem jungen Garderitter einen herausfordernden Blick zu. Die Hand lag auf dem Griff seines Schwertes. »Sie wissen also nicht, was für ein Scheusal ihr Prinz ist? Dass er sich fast an meiner Tochter vergangen hätte?«
»Mein König, was soll mit ihm passieren?«, fragte nun der Garderitter, der Ragnar das Schwert an den Hals hielt. Durch den Helm konnte man seinen Gesichtsausdruck nicht sehen, doch in seiner Stimme schwang Unsicherheit mit.
König Javet umfasste den Griff seines Schwertes so fest, dass seine behandschuhte Hand sichtbar zitterte, aber kurz bevor er es ziehen konnte, ertönte ein lauter Ruf: »Halt!« Er wirbelte herum. Von der gegenüberliegenden Seite des Innenhofs her schritt Qing Xin auf den Kreis aus Garderittern zu. Neben ihm ging Königin Rafaga, deren blaues Kleid hinter ihr her wehte. Ihre blassblauen Augen waren voller Sorge. Es war jedoch der Westländer, der gerufen hatte.
»Willst du mir erklären, wie das passieren konnte?«, fuhr König Javet Qing Xin an und ignorierte seine Ehefrau vollkommen, die ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter legte. »Ich habe dir befohlen, den Prinzen zu überwachen!«
»Das habe ich auch«, erwiderte Qing Xin ruhig. »Er hat nichts getan, was respektlos oder...«
»Er hat Cheka eindeutig verführt! Sie hätte sich nie auf ihn eingelassen! Sie ist eine Prinzessin, meine Tochter! Und sie ist erst fünfzehn!«
»Prinzessin Broda hätte auch mit fünfzehn geheiratet, wenn die Verlobung nicht von Euch gelöst worden wäre.«
»Widersprichst du mir gerade, Qing Xin?«, fragte König Javet scharf.
Der Westländer neigte höflich den Kopf. »Ich mache Euch nur auf alle Fakten aufmerksam. Das ist meine Aufgabe als Euer Berater.« Er deutete auf Ragnar, der mittlerweile interessiert alles verfolgte, was gesprochen wurde. »Ihr seid gerade versucht, den Prinzen des Nordlandes hinzurichten. Davon rate ich Euch stark ab. Das würde einen Krieg zwischen dem Ostland und dem Nordland auslösen. Königin Sunna verfügt über viel mehr Mittel als wir und ihre Armee ist ebenfalls stärker. Sie zögert nicht, Berserker in ihre Reihen aufzunehmen. Gegen solche Gegner haben wir keine Chance.« Er machte eine kurze Pause. »Schickt ihn und sein Gefolge einfach zurück und verlangt eine hohe Kompensation von Königin Sunna.«
»Hör auf ihn, Liebster«, flüsterte Königin Rafaga ihm zu. »Cheka ist auch meine Tochter. Vielleicht hat er sie verführt, vielleicht nicht. Jedenfalls hat er sie zu nichts gezwungen. Das hat sie mir versichert. Und es ist nichts zwischen ihnen passiert. Lass es gut sein. Das ist keinen Krieg wert.«
»Du warst es«, presste König Javet zwischen seinen Zähnen hervor und schüttelte Rafagas Hand ab.
Diese wich verunsichert zurück. »Was?«
»Du hast überhaupt dafür gesorgt, dass er hierher gekommen ist!«
Königin Rafaga riss erschrocken die Augen auf. »Ich wusste nicht, dass er kommen wird! Das ist keineswegs meine Absicht gewesen! Ich wollte nur, dass Hilgard mit dir redet!«
Hinter ihr breitete sich ein Anflug von Erkenntnis auf Ragnars Gesicht aus. Sein Blick verdüsterte sich.
»Mit mir redet!«, rief König Javet aus. »Oh ja, das hat sie! Und ich habe verstanden, was das bedeutet! Du vertraust mir nicht! Vielleicht hast du das nie! Du denkst, ich bin nicht dazu in der Lage, ein Land zu führen! Du lügst und spinnst Intrigen hinter meinem Rücken! So etwas nennt sich Königin?«
Blitzschnell hatte er sein Schwert Annie gezogen. Rafaga schrie erschrocken auf und wich zur Seite aus, doch das wäre nicht nötig gewesen. Krachend fuhr das Schwert auf Ragnars Nacken nieder und trennte seinen Kopf mit Schwung vom Körper. Auf dem Gesicht des Prinzen stand noch ein Ausdruck von Überraschung, dann wurde alles von rotem Blut bedeckt, das in pulsierenden Stößen aus seinem Hals spritzte. Der Oberkörper kippte nach vorne, die Arme und Beine zuckten noch kurz, dann lagen sie still. Die zwei Garderitter, die hinter ihm gestanden hatten, rührten sich nicht. Das Schwert des Königs hatte ihnen beinahe die Hände abgetrennt.
»Du hast mir nichts zu sagen«, knurrte König Javet in die Stille hinein und zeigte mit der blutigen Klinge auf Rafaga. »Nehmt sie fest und werft sie in das Kerkerzimmer unter der Treppe. Sie ist nun keine Königin mehr, nur eine Verräterin.«
Rafaga starrte ihn mit vor Schock und Angst weit aufgerissenen Augen an, bis endlich Bewegung in zwei der Garderitter kam, die den Befehl des Königs ausführen würden.
»Mein König, das ist ein schrecklicher Fehler!«, erhob sich die Stimme der Hauptfrau. Sie hatte ihren Helm abgenommen, sodass man die vernarbten Krallenspuren auf ihrer linken Wange sehen konnte. »Ihr hättet den Prinzen nicht töten dürfen! Wenn Königin Sunna davon erfährt, wird es Krieg geben! Er war ihr einziger Sohn!«
»Dann sorge dafür, dass es niemanden gibt, der ihr davon berichten kann«, entgegnete König Javet kalt. »Lass nur Hilgard am Leben. Königin Sunna wird eher froh darüber sein, wenn sie stirbt.«
»Ich...«
»Estrella, tu, was er sagt«, unterdrückte Qing Xin jeden weiteren Protest der Hauptfrau. Mit ruhigem Blick beobachtete er, wie die zwei Garderitter Rafaga abführten. Estrella verstummte sofort, deutete eine steife Verbeugung an und entfernte sich zusammen mit dem Großteil der restlichen Garderitter. Nur einige wenige blieben zurück, um den Körper des Prinzen wegzubringen und die Pferde zu beruhigen.
»Ihr wisst, dass Königin Sunna trotzdem davon erfahren wird«, sagte Qing Xin, sobald die Garderitter außer Hörweite waren. »Sie hat genauso viele Spione hier wie wir in Burg Jern.«
»Dann soll sie davon erfahren«, stieß König Javet voller Hass aus. »Du bist der einzige, dem ich noch vertraue, Qing Xin. Jetzt siehst du, dass ich recht hatte, oder? Sowohl Rafaga als auch Prinz Ragnar haben sich als miese Verräter und Heuchler herausgestellt. Ich frage mich, wie viele noch versuchen, mich zu hintergehen.«
»Wir alle sind Euch treu ergeben«, entgegnete Qing Xin fest. »Oder hat irgendjemand sich Euren Befehlen widersetzt?«
»Estrella hat gesagt...«
»Sie wollte Euch nur auf die Konsequenz Eures Handelns hinweisen«, berichtigte der Westländer ihn. »So wie ich. Aber sicherlich habt Ihr einen Plan, wie Ihr Euer Land erfolgreich verteidigen könnt.«
König Javet überlegte kurz, den Blick auf einen Punkt hinter Qing Xin gerichtet. Schließlich nickte er, scheinbar zufrieden mit sich selbst. »Das Ostland hat genug Einwohner. Die Armee von Königin Sunna ist stark, aber nicht groß. Selbst ein Pferd stirbt, wenn fünfzig Ratten es angreifen.« Er atmete tief durch. »Schick Reiter in jede Stadt und jedes Dorf los. Alle gesunden Männer über sechzehn Jahre, die keine Familie alleine versorgen müssen, sollen für die königliche Armee des Ostlandes eingezogen und trainiert werden.«
Kurz flackerte Verzweiflung in Qing Xins Blick auf, doch gleich darauf kehrte die Ruhe wieder zurück. Er neigte den Kopf. »Ich kümmere mich darum.« Dann wandte er sich ab und überquerte schnellen Schrittes den Innenhof, bis er die Burg betrat. Im Flur herrschte geschäftiges Treiben. Garderitter eilten hin und her. Einige schleppten nordländische Männer und Frauen, die offensichtlich tot waren, in Richtung der Ausgänge. Weiter hinten wurden Befehle gebellt und Türen aufgestoßen. Geschrei, das plötzlich verstummte.
Qing Xin eilte zur nächsten Treppe und kam dabei an Estrella vorbei, die ihren Helm wieder aufgesetzt hatte. »Du solltest vorsichtiger sein«, flüsterte er ihr im Vorbeigehen zu und nahm dann ohne anzuhalten die Treppe nach oben. Er ging den Flur entlang, bis er beim Zimmer des königlichen Beraters war. Dort setzte er sich sofort an den Tisch und schrieb einen Brief. Als er fertig war, unterschrieb er ihn nicht, überlegte, und kritzelte doch noch etwas in die Ecke. Dann rollte er ihn, nachdem die Tinte getrocknet war, zusammen und steckte ihn in seine Tasche. Zurück im Flur vergewisserte er sich, dass er alleine war, bevor er zu einem der vier Burgtürme ging und ihn hochstieg. Das Gurren einiger Tauben begrüßte ihn. Es wurden nur selten Nachrichten auf diese Art verschickt, weil das Risiko, dass die Tiere auf ihrem Weg verdursteten, zu hoch war. Doch dieses Risiko musste er jetzt eingehen. Er suchte sich eine der Tauben aus, schob den Brief in den kleinen Behälter an ihrem Bein und schickte sie auf die Reise. Kurz trudelte sie, dann flog sie entschlossen in Richtung Norden.
»Lass diesen Wahnsinn endlich zu Ende sein«, flüsterte Qing Xin und verließ den Turm so schnell er konnte.
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