26. Kapitel
Du kannst dir nicht aussuchen wie du stirbst. Oder wann. Du kannst nur entscheiden wie du lebst. Jetzt.
Joan Baez
Das Knarren der Stalltür und das darauf folgende Geräusch, als würde jemand nach Luft schnappen, rissen Tai aus seinem ohnehin nur leichten Schlaf. Er setzte sich in dem Haufen aus Maisresten auf und rieb sich die verklebten und geschwollenen Augen. Hatte er im Schlaf geweint? Er musste mehrmals blinzeln, bis er wieder klar sah. Und was oder, eher gesagt, wen er sah, war Nyasi. Sie stand in der Stalltür, den Mund vor Erstaunen aufgeklappt und die Hand immer noch erhoben, obwohl die Tür bereits vollständig aufgeschwungen war. Wie erstarrt schaute sie ihn an, bis sich langsam ein Lächeln auf ihren Lippen ausbreitete.
»Tai!«, rief sie aus, rannte ohne zu zögern auf ihn zu und warf sich auf ihn.
Tai konnte nicht anders als sie lachend in die Arme zu schließen. Ein kurzer Moment der Glückseligkeit, bis ihm einfiel, dass sie ihn eigentlich nicht berühren durfte. Sanft schob er sie von sich weg, was sie jedoch kaum zu bemerken schien. Nyasi strahlte ihn an und wirkte genau wie die kleine Schwester, der süße Sonnenschein, den er damals zurückgelassen hatte. Nur war sie ein Stück gewachsen und hatte ihre lockigen Haare gebändigt, indem sie sie zu vielen kleinen Zöpfen geflochten hatte. So wie er früher.
»Du bist wieder da!« Die Aufregung in ihrer Stimme war nicht zu überhören. »Ich dachte erstmal, du wärst ein Räuber. Aber welcher Räuber würde sein eigenes Pferd in den Stall stellen?« Sie deutete auf Qasi.
»Da hast du vollkommen recht.« Tai schmunzelte. Sie ist noch scharfsinniger geworden als vorher. »Die Stute heißt Qasi. Sie hat mich eine sehr lange Strecke bis hierhin getragen und mir sogar das Leben gerettet.«
Nyasis Blick wanderte zu der provisorisch verbundenen Wunde an seinem rechten Arm und sie schlug sich die Hand vor den Mund. »Du wurdest verletzt? Wirst du verfolgt? Was ist passiert? Du musst mir alles erzählen!«
»Später«, versprach er ihr. »Erst muss ich mit Mutter und Damu reden.« Auch wenn ich es nicht möchte, muss ich wohl darauf hoffen, dass sie mich wieder aufnehmen. Ich habe kein Geld, um mir ein eigenes Haus zu leisten, und wenn erst alle erfahren haben, dass ich strahlenkrank bin, wird keiner mir Arbeit geben wollen.
Ein zweifelnder Ausdruck trat auf Nyasis Gesicht und sie druckste etwas herum. »Also...«, hob sie schließlich zögernd an. »Vater ist unglaublich wütend auf dich. Haifai hat versucht zu fliehen, nachdem du aufgebrochen bist. Er meint, ihr habt das zusammen geplant. Er hat gesagt, dass er dich nie wieder sehen möchte. Du bist ja sowieso nicht sein Sohn.«
So etwas Ähnliches hatte er schon erwartet. »Und Mutter?«
»Sie hat viel mit ihm gestritten und gesagt, dass du uns alle hier raus holen würdest. Dass du eine wichtige Mission hast. Aber Vater hat da nicht dran geglaubt. Er hat damit gedroht, sie rauszuschmeißen, wenn sie weiter so redet. Und sie hat geschwiegen.«
Tai senkte den Kopf und fühlte eine frustrierende Hilflosigkeit in ihm aufsteigen. Wenn ich zurückkehre und Mutter sieht, dass ich keinen Erfolg hatte, wird sie schwer enttäuscht sein. Damu wird sich über sie lustig machen und sagen, dass er doch die ganze Zeit recht hatte. Dabei ist allein meine Mission schon eine einzige Lüge gewesen. Ich bin nicht der Sohn eines Königs. Ich werde nie auf dem silbernen Thron sitzen und meine Familie aus Kimbilio wegholen. Es war alles eine Lüge, die meine Mutter an mich verfüttert hat. Und ich habe sie aufgenommen als wäre ich ein verhungertes Adlerküken.
»Dann bin ich hier wohl nicht mehr willkommen«, seufzte Tai. Als er aufblickte, sah er Tränen in Nyasis Augenwinkeln schimmern. »Nein, nicht weinen! Es ist nicht deine Schuld!«
»Das ist so unfair«, schluchzte sie. »Niemand hat gefragt, was Sakafu und ich uns überhaupt wünschen. Wir haben beide gehofft, dass du wiederkommst! Wir wollten, dass alles so wird wie früher!« Jetzt rollte ihr die erste Träne über die Wange.
Tai konnte nicht anders als sie in die Arme zu nehmen, wobei er darauf achtete, sie nicht mit einem Teil seiner Haut zu berühren. »Es wird alles gut«, versicherte er ihr, obwohl er wusste, dass das wahrscheinlich eine Lüge war. »Ich verspreche dir, dass ich dich ganz oft besuchen werde, wenn du ausgezogen bist. Dann haben Mutter und Damu dir nichts mehr zu sagen.«
Nyasi blinzelte ihn mit verweinten Augen an. »Versprichst du es?«
»Ja, natürlich.«
Ein scheues Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Die anderen werden auch bald rauskommen. Ich bin nur so früh hier, weil ich Kahawia füttern sollte.«
Die kräftige Stute scharrte bereits ungeduldig mit den Hufen.
»Ich verstehe.« Tai erhob sich auf die Beine und band Qasi los. Die Stute beugte sich neugierig zu Nyasi runter und ließ zu, dass das Mädchen sie streichelte.
»Wirst du denn hier bleiben? In Kimbilio, meine ich«, fragte Nyasi, immer noch mit einem Anflug von Traurigkeit in der Stimme.
»Ich werde versuchen, entweder bei Haifai oder einer alten Freundin von mir unterzukommen«, erklärte er. Auch wenn sie beide wahrscheinlich ablehnen werden. Aber das muss sie ja nicht wissen. »Sag Mutter und Damu aber nicht, dass ich hier war. Oder dass du von meiner Rückkehr weißt. Es ist nur zu deinem Besten. Sie werden es ohnehin früh genug erfahren.«
Nyasi nickte langsam, umarmte ihn ein letztes Mal und begleitete ihn noch bis zum Gatter. Im Haus brannte mittlerweile irgendwo Licht, aber noch war niemand am Küchenfenster, der ihn sehen könnte. Behände schwang er sich auf Qasis Rücken und winkte seiner Schwester zum Abschied zu, die einsam und allein am Zaun zurückblieb. Bald schon wandte sie ihr Gesicht ab und ging mit gesenktem Kopf zurück zum Stall, während Tai den gestreuten Weg zum Dorfplatz entlang ritt.
Kurz bevor er dort ankam, entdeckte er auf einmal eine Gestalt, die scheinbar im Schatten des äußersten Hauses auf jemanden wartete. Als er sich näherte, trat sie ins Licht. Tai hielt sofort an. Maua? Sie trug dieselbe Kleidung wie gestern: Ein Hemd und eine Hose, eher untypisch für die Frauen des Dorfes, aber typisch für eine Bure. Tai stieg von Qasi ab und wartete, bis sie bei ihm angekommen war. Was möchte sie? Ich dachte, alles, was zwischen uns war, ist jetzt vorbei? Doch er konnte nicht leugnen, dass trotzdem ein Funken Hoffnung in seiner Brust glühte. Die Hoffnung wurde vernichtet, als er ihren düsteren Blick sah.
»Bist du wirklich geflohen wie ein Feigling, als die Plünderer angegriffen haben?«, fragte sie ohne Umschweife. »Ist das die Wahrheit?«
Tai seufzte. »Die Wahrheit ist kompliziert.«
Maua musterte ihn misstrauisch. »So kompliziert, dass du sie mir nicht erzählen kannst?«
Sie wird nicht locker lassen... Also erzählte er ihr, wo er gewesen war. Dass er versucht hatte, Kifo dazu zu bringen, ihm eine Atombombe zu geben. Die Mission seiner Mutter. Die Lügen seiner Mutter. Dass er in allem eine Möglichkeit gesehen hatte, den Thron zu erobern. Wie er selbst die Buren als Mittel zum Zweck hatte benutzen wollen, obwohl das ohnehin nicht geklappt hätte. Nach seinem erfolglosen Gespräch mit Kifo hatte er dann die Kampfgeräusche gehört, war fassungslos und wütend zugleich gewesen. Hatte Ndeges und Muuajis Leichen gefunden und einen der Plünderer umgebracht, bevor er in Richtung der nächsten Stadt geflohen war. Und dort hatte man ihn als Strahlenkranken gefangen genommen, bevor er überhaupt die Gelegenheit hatte, nach ihr zu suchen.
Maua hörte sich alles schweigend an und sagte auch während des Rests der Geschichte nichts – seinen Aufenthalt in Sirkel ließ er natürlich aus. Erst, als er vollständig geendet hatte, nickte sie langsam.
»Du hast gekämpft wie ein Bure«, sagte sie schließlich.
»Und ich bin gescheitert.«
Sie schüttelte den Kopf. »Du bist am Leben. Wo bist du bitte gescheitert?«
»Ich habe dich verloren.«
»Hast du nicht. Ich lebe ja auch noch.«
Tai brachte ein gequältes Lächeln zustande. »Du weißt, was ich meine.« Als sie nicht antwortete, fügte er hinzu: »Wenn ich dich früher gefunden hätte als Moyo, wärst du jetzt mit mir verlobt und nicht mit ihm.«
»Wir werden nie wissen, was gewesen wäre«, entgegnete sie. »Wir wissen nur, was war und was jetzt ist. Ich habe gedacht, du wärst tot. Ich habe um dich getrauert wie eine Frau um ihren Mann trauern würde. Und dann habe ich mein Leben weiter gelebt. Habe Moyo kennengelernt und mich in ihn verliebt. Dass du plötzlich aufgetaucht bist, ändert nichts daran.«
Tai musste sich zusammenreißen, um nichts Dummes von sich zu geben.
»Ich habe dich geliebt, Tai, das war nicht gelogen«, erklärte Maua weiter. »Das war alles echt. Aber das Leben geht weiter. Ich werde dich immer als meine erste Liebe im Herzen tragen, aber Moyo ist derjenige, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen möchte. Es ist gut so. Verstehst du das? Kannst du das verstehen?« Sie seufzte. »Ich war mehr erschrocken als erleichtert, als du plötzlich vor unserer Tür aufgetaucht bist. Ich dachte, ich würde hin und her gerissen sein zwischen Moyo und dir, aber erstaunlicherweise bin ich das nicht.«
Die Worte waren wie Dolche, die sein Herz durchstießen. So ist es also, dachte er. Aber welches Recht habe ich schon, sie zu verurteilen? Sie dachte, ich wäre tot, und Moyo war an ihrer Seite, um sie zu unterstützen, ihr zu helfen. Ich hätte es sein sollen, doch ich war nicht da. Natürlich läuft es darauf hinaus, dass sie sich für jemand anderen entscheidet.
»Eigentlich bin ich hier, um dir zu zeigen, wo du übernachten kannst«, sagte Maua auf einmal. »Ich habe mir schon gedacht, dass Alina und Damu dich nicht aufnehmen würden.«
»Du wusstest das?«, fragte er erstaunt.
»Ich kenne dich besser als du denkst. Ich habe gesehen, dass du an deinem eigenen Plan gezweifelt hast.« Sie beugte sich vor und öffnete ihre Augen übertrieben weit. »Man sieht es an deinen Augen.«
Tai verkniff sich angesichts dieser Grimasse ein Auflachen. Trotzdem entschlüpfte ihm ein schiefes Lächeln.
»Komm!« Maua bedeutete ihm, ihr zu folgen. Sie führte ihn nicht über den Dorfplatz, sondern außen an den Feldern vorbei, bis sie bei einem offenbar verlassenen Gebäude stehen blieb. Es war früher wohl das Zuhause von jemandem gewesen, jetzt wohnte da aber niemand mehr. Tai konnte sich nicht daran erinnern, es je gesehen zu haben.
»Vor einem Monat ist der alte Mann, dem das Haus gehört hat, gestorben«, erklärte sie. »Und kurz darauf sind sein Sohn und seine Tochter nach Mwenyue Ukoma gebracht worden.«
»Beide hatten die Strahlenkrankheit?«
Maua nickte ernst. »Ja, deswegen traut sich auch niemand, das Haus zu betreten. Also steht es leer. Aber für dich sollte das keinen Unterschied machen.« Sie deutete auf seinen Hals. »Tut es weh?«
Tai rückte das Tuch etwas zurecht. »Es juckt sehr stark. Ich versuche, es nicht anzufassen.« Er stockte. »Du wusstest schon vorher, dass ich die Strahlenkrankheit habe, oder? Sonst hättest du mir nicht dieses Haus ausgesucht.«
Maua lächelte. »Es kam mir komisch vor, dass du ein Halstuch trägst, das du so eng festgeknotet hast. Wenn man genauer hinschaut, sieht man schwarze Haut an den Rändern. Du solltest im Haus vielleicht nach einem breiteren Tuch oder etwas Ähnlichem suchen. Damit die Stelle auch wirklich vollständig bedeckt ist. Und hier.« Sie langte in eine ihrer Hosentaschen und holte einen frischen Verband hervor, den sie ihm in die Hand drückte. »Versorg deine Wunde. Muuaji wäre stolz darauf gewesen, dass du – wie er – einen Zwitternager besiegt hast.«
»Danke.« Tai zögerte, wollte sie eigentlich zum Dank umarmen und ihr vielleicht einen kurzen Kuss auf die Wange geben, wusste aber, dass das wahrscheinlich falsch war. Sie hatte ihm klar gemacht, dass ihr Herz nun Moyo gehörte. Stattdessen entschied er sich, ihr den Arm zum Kriegergruß hinzustrecken. Maua lachte auf und umfasste seinen Unterarm, so, wie er es gewünscht hatte.
»Ich muss jetzt gehen«, verkündete sie und strich Qasi zum Abschied über den Kopf. »Du kannst später bei dem Haus uns gegenüber klopfen. Es gehört Max, bei dem ich damals als Magd gearbeitet habe. Eigentlich wollte ich nie wieder ein Wort mit ihm reden, aber er sucht nach einem Knecht und du brauchst nunmal Arbeit.« Damit kehrte sie auf den Pfad zurück und folgte seinem Verlauf, bis sie außer Sicht war.
Tai spürte das warme Gefühl der Dankbarkeit in sich aufsteigen, doch er war zu langsam gewesen, um sich bei Maua zu bedanken. Das würde er später noch nachholen. Er seufzte und richtete seinen Blick dann auf das verlassene Haus vor ihm. Ihm war etwas unwohl bei dem Gedanken, ein Gebäude zu betreten, das schon seit etwa einem Monat leer stand. Wer wusste, was sich dort mittlerweile breit gemacht hatte? Ihm war nicht entgangen, dass der Zaun, der jedes Grundstück normalerweise vor Untieren schützte, zur Hälfte eingerissen war. Dennoch ließ er Qasi stehen, wo sie war, und betrat das Gebäude durch die bereits offen stehende Tür. Zu seiner Beruhigung waren alle anderen Türen, die zu den Zimmern führten, geschlossen und der Flur war bis auf einen großen Schrank und ein paar herumliegende Schuhe leer. Es hatten sich also zum Glück keine Untiere hier eingerichtet.
Das Haus war erstaunlich groß, aber nicht größer als das von Alina. Nach einigem Herumsuchen fand er in einer Kiste viele Schals. Zwei Stofftücher lagen oben auf dem Deckel, doch sie rochen nach Tod. Wahrscheinlich war er nicht der einzige, der den Trick mit den Schals benutzte, um zu verbergen, dass er strahlenkrank war. Nachdem er sie weggeworfen hatte, wählte er eines der sauberen Stofftücher in der Kiste aus und knotete es um seinen Hals fest. Sein Blick fiel auch auf ein paar Handschuhe. Wahrscheinlich wäre es gut, welche zu haben, um zu verhindern, dass Leute sich von Sachen anstecken, die ich berührt habe. Kurzerhand zog er sie an.
Die Sonne stand schon im Zenit, als er fertig mit der Inspektion des Hauses und dem Verbinden seiner Wunde war. Draußen lag jetzt zwar ein ganzer Haufen an Sachen, die er entsorgen musste, und der Zaun war immer noch kaputt, aber darum würde er sich später kümmern. Vielleicht werde ich doch noch eine gute letzte Zeit in meinem Leben haben. Wie lange würde es dauern, bis Alina vor seiner Tür stand und ihm Vorwürfe machte? Wie lange, bis jemand seine Strahlenkrankheit erkannte und verriet? Es war ihm egal. Es zählte nur das Jetzt. Und jetzt würde er zu Max gehen, um bei ihm als Knecht zu arbeiten.
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