20. Kapitel
Die Entfesselung der Atomenergie hat kein neues Problem geschaffen. Sie hat lediglich die Notwendigkeit der Lösung eines bereits vorher bestehenden Problems noch akuter gemacht.
Albert Einstein
Das Archiv stellte sich als ein mittelgroßer Raum mit vier Tischen heraus, auf denen jeweils zwei Tablet-Stapel standen. An der hinteren Wand war ein großes von ihnen befestigt. Soort bedeutete Tai, sich auf einen der Stühle zu setzen und ging selbst rüber zu dem großen Tablet, das auf eine Fingerberührung hin aufflackerte. Nach weiterem Umhertippen erschien das Bild einer Karte, die Tai jedoch vollkommen unbekannt war.
»Das ist eine Weltkarte«, erklärte Soort und schmunzelte, als er Tais ungläubiges Gesicht sah.
»Das?«, fragte er und deutete auf das Bild.
»Ja.« Der Heiler zeigte auf den blauen Bereich, der links und rechts der Karte eine ziemlich große Fläche einnahm. »Das hier ist der Pazifik. Als noch Wasser darin war, versteht sich. Vielleicht hilft es, wenn ich ihn in die Mitte der Karte mache.« Er wischte über die Oberfläche des Tablets, sodass die Karte nun etwas anders aussah. »Manchmal erkennen einige Gerettete die groben Umrisse des Pazifiks anhand der Küstenlinien, aber du hast wahrscheinlich noch nie eine richtige Karte gesehen, oder?«
Tai schüttelte den Kopf.
»Aber ich kann dir den Urberg zeigen.« Soort deutete auf ein paar helle Flecken in der Mitte des Pazifiks. »Früher war der Urberg eine Inselgruppe namens Hawaii. Sie gehörte zu den Vereinigten Staaten.« Er umkreiste ein Stück des Kontinents, der östlich des Pazifiks lag. Dann zeigte er auf den größten Kontinent. »Und das hier ist die Russische Allianz. Sie besteht aus mehreren Ländern, die eines nach dem anderen von Russland erobert wurden.«
»Die kleinen Umrisse sind auch alles Länder?«, fragte Tai. »Sie sind so klein! Sie haben doch gar keine Macht! Warum wurden sie nicht auch erobert?«
Soort lächelte belustigt. »Es ist erstaunlich, wie viele der Leute, die wir retten, diese Frage stellen.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Könige dieser Länder irgendeine Macht hatten. Sie hätten mit Leichtigkeit erobert werden können.«
»Keines dieser Länder wurde von einem König regiert.«
Tai war verwirrt. »Von wem dann?«
»Kommt auf das Land an. Bei einigen war es eine Gruppe ausgewählter Leute, bei anderen eine einzige Person, die dann aber kein König war. Solche Personen nennt man Diktatoren. Sie unterscheiden sich von Königen eigentlich nur in dem Punkt, dass sie kein adliges Blut haben. Es gab allgemein auch keinen Adel mehr. Nur die Ober-, Mittel- und Unterschicht. Geld war viel wichtiger als die Herkunft der Familie. Wer genug Geld hatte, konnte sich alles kaufen. Auch Macht.«
Unterscheidet sich nicht sonderlich von heute, dachte Tai. Nur die Begriffe sind anders.
»Der Große Krieg begann eigentlich mit einem Bürgerkrieg in den Vereinigten Staaten«, fuhr Soort fort. »Sie spalteten sich auf, weil sie nicht zufrieden mit ihrem Herrscher waren. Es entstanden die Nordstaaten, die mittleren Staaten, die Südstaaten und die Südoststaaten. Letztere waren diejenigen, die den Bürgerkrieg begannen.«
»Südoststaaten?« Tai horchte auf.
Soort nickte. »Das sollte dir bekannt vorkommen. Kifo hat davon erzählt.«
»Und was ist danach passiert?«
»Die Südoststaaten sind relativ klein, nur diese kleine Ecke hier.« Er deutete auf den entsprechenden Umriss. »Aber sie hatten Atombomben, die sie benutzen, um erst die Südstaaten und dann die mittleren Staaten zu erobern. Eigentlich sollte man das eher als Zerstörung bezeichnen. Allerdings hatten die Nordstaaten ebenfalls Atomwaffen. Und zwar besondere.« Nun flogen seine Finger zwischen den Vereinigten Staaten und der Russischen Allianz hin und her. »Diese beiden Länder waren schon eine sehr lange Zeit verfeindet. Beide hatten einen roten Knopf, mit dem sie Atomwaffen auf ihren Feind schicken können, sollte das nötig sein.«
»Einen Knopf?«, unterbrach Tai ihn und erinnerte sich erschrocken an die Knöpfe, die Maua in ihrer Schatzkiste lagerte. »So wie die an unserer Kleidung? Hatten sie früher noch eine andere Funktion?«
Soort schien kurz verwirrt, lachte dann aber auf. »Tut mir leid. Ich habe vergessen, dass es im Pazifik diese Art von Knöpfen gar nicht gibt. Nein, ich meine nicht die an der Kleidung. Sie heißen einfach gleich. Wenn du auf einen dieser anderen Knöpfe drückst, können verschiedene Sachen passieren. Du kannst mit ihnen zum Beispiel so etwas wie die Tablets an- und ausschalten.« Er führte es an einem der gestapelten Exemplare vor. »Oder das Drücken eines Knopfes könnte der Befehl für etwas sein. In unserem Fall befahl der rote Knopf, dass Atomwaffen losgeschickt werden sollten.« Er sah Tai über seine Brille hinweg fragend an.
Tai nickte als Zeichen dafür, dass er verstanden hatte. Diese Knöpfe scheinen wirklich mächtig gewesen zu sein.
»Wenn die Vereinigten Staaten ihren Knopf drückten, würde die Russische Allianz es ebenfalls tun«, fuhr Soort mit ernsterer Stimme fort. »Somit würden sie automatisch sich selbst zerstören.«
»Warum hatten sie diese Knöpfe dann überhaupt?«, fragte Tai verständnislos. »Ihn zu drücken führt doch nur zu Selbstzerstörung.«
»Das Problem war, dass keines der beiden Länder ihn zuerst entfernen wollte. Wenn die Russische Allianz den Anfang gemacht hätte, hätten die Vereinigten Staaten ihren Knopf drücken und ihren Feind vernichten können ohne dabei selbst zerstört zu werden.«
Tai hielt sich den Kopf. Wie dumm. Warum haben sie diese Knöpfe überhaupt eingeführt? Und dann begriff er: Solange sie existieren, kann keiner den anderen angreifen.
»Aber als die Südoststaaten immer weiter vorrückten, sahen die Nordstaaten keine andere Möglichkeit als ihren Knopf zu drücken«, erzählte Soort weiter.
»Aber damit haben sie sich selbst dem Untergang geweiht!«
»Sich selbst und die Südoststaaten«, bestätigte der Heiler. »Sie wären ohnehin im Bürgerkrieg vernichtet worden. So konnten sie wenigstens noch ihren größten Feind mit in den Tod ziehen.« Er fuhr über das Tablet und eine neue Karte tauchte auf. »So sah die Welt dann zu Beginn des Großen Krieges aus.«
Tai starrte auf die große rote Fläche, zu der die Vereinigten Staaten und ein großer Teil der Russischen Allianz geworden war. Offensichtlich waren sie von den Atombomben getroffen und mit Radioaktivität verseucht worden. Er entdeckte auch ein paar rote Punkte und kleine Flecken in anderen Ländern. »Was ist da passiert?«, fragte er und zeigte auf einen von ihnen.
»Kleinere Unfälle in Atomkraftwerken. Mit ihnen konnte man Energie erzeugen. Damit zum Beispiel das Licht funktioniert.« Soort deutete zur Decke, die immer noch leuchtete. »Energie war sehr wichtig. Ohne sie wäre damals vieles unmöglich gewesen. Es ist so, als hättest du keine Möglichkeit Feuer zu machen.«
»Aber warum würde man so etwas Gefährliches benutzen, um diese Energie herzustellen? Danach ist doch alles verseucht.«
»Ja.« Soort legte nachdenklich einen Finger ans Kinn. »Ein großes Problem war die Lagerung des verseuchten Mülls, der dabei entstanden ist. Weißt du, ursprünglich war diese Station hier ein Forschungslabor, in dem Wissenschaftler nach einer Möglichkeit gesucht haben, diesen Müll fachgerecht zu entsorgen. Wir nannten uns ›Thousand Suns‹. Das bedeutet ›Tausend Sonnen‹. Allerdings ist das Projekt gescheitert.«
So wie die Menschen daran gescheitert sind, den Plastik aus dem Pazifik zu holen, dachte Tai. Ich hätte nicht gedacht, dass die Alten so viele Probleme hatten.
»Um deine Frage zu beantworten: Die Menschen damals mussten Atomkraftwerke benutzen, um genug Energie zu bekommen. Vorher haben sie Öl und Kohle verbrannt, um das zu tun, aber diese Ressourcen sind endlich und sind bald zu Neige gegangen. Dann haben sie es mit Sonnen- und Windenergie versucht, aber sie hätten die halbe Welt mit solchen Kraftwerken vollstellen müssen, um genug Energie für alle zu bekommen. Es gab irgendwann den lustigen Vorschlag, Solarkraftwerke in allen Wüsten aufzustellen, weil die Sonne da ja besonders oft und lange am Himmel steht.«
»Und was ist so lustig daran?« Tai zuckte mit den Schultern. »Wenn man aus der Sonne Energie bekommt, sollte man die Kraftwerke dafür doch da aufstellen, wo sie besonders oft ist.«
»Ist dir jemals aufgefallen, dass dir in schwarzer Kleidung schneller warm wird als in weißer?«
Tai nickte. »Ja, aber was hat das damit zu tun?«
»Weiße Sachen reflektieren das Sonnenlicht. Es wird also einfach zurückgeworfen. Schwarze Sachen absorbieren es hingegen und heizen sich dabei auf«, erklärte Soort. »Nun ist der Sand in der Wüste hell und die Sonnenkraftwerke dunkel. Wenn die ganze Wüste mit ihnen vollgestellt ist, heizt sie sich viel stärker auf als vorher. Mehr Wasser verdampft, es kommt öfter zu Regenfällen und Wolken am Himmel, wodurch der ganze Aufwand wieder umsonst war. So eine Aktion hätte das gesamte Weltklima durcheinander gebracht. Vielleicht wären die Wüsten früher oder später sogar zu einem blühenden Paradies geworden und andere Orte zu Wüsten.«
Tai schwieg eine Weile. Er musste darüber nachdenken, was Soort ihm da erzählte, doch dieser fuhr bereits fort:
»Die einzige Alternative, die die Menschen dann noch hatten, waren Atomkraftwerke. Alle Länder bauten sie. Es kam zwar ab und zu zu Unfällen – deswegen die roten Punkte –, aber man konnte damit leben. Jetzt hatten die Vereinigten Staaten und die Russische Allianz sich jedoch gegenseitig fast vollständig vernichtet. Die Überlebenden aus den Staaten flohen in den Süden, doch nur wenige von ihnen wurden über die Grenze gelassen. Irgendwann hatte einer ihrer Herrscher eine Mauer an der Grenze errichten lassen, die jetzt ihre eigenen Bewohner nicht mehr rausließ.« Soort seufzte. »Auch die Überlebenden der Russischen Allianz flohen und allmählich wurden Stimmen laut, die behaupteten, das alles wäre geplant gewesen. Jemand hätte die Südoststaaten bezahlt, um den Bürgerkrieg anzufangen. Also warfen sich jetzt fast alle Länder in den Kampf, den du als Großer Krieg kennst. Atombomben wurden wahllos abgeschossen – Hauptsache, der angebliche Feind ging dabei drauf. Dadurch wurden die Kontinente immer radioaktiver.
Hinzu kam, dass bei Atombomben eine unglaubliche Energie frei wird. Sie kommt noch lange nicht an die Energie der Sonne heran, aber sie reicht, um die Atmosphäre extrem stark aufzuheizen. Die Überlebenden mussten sich in Bunker flüchten, um der starken Hitze zu entgehen, die draußen herrschte. Viele Jahre blieben sie dort und als sie wieder herauskamen, waren die Ozeane und Meere vollständig verdampft. Das fehlende Wasser hatte sich in einer einzigen, riesigen Gewitterwolke gesammelt, die langsam die Erde umrundet und ab und zu in einem heftigen Regenfall niedergeht.«
»Der Muttersturm«, flüsterte Tai.
»Genau, der Muttersturm«, bestätigte Soort.
»Den letzten hat es vor über dreißig Jahren gegeben«, sagte Tai. »Wo ist er jetzt? Mutter hat erzählt, dass er normalerweise alle zwanzig Jahre kommt. Oder sogar öfter. Aber wo ist er jetzt? Wo ist das ganze Wasser?«
»Dass er länger auf sich warten lässt, ist ein gutes Zeichen«, meinte der Heiler. »Das bedeutet, dass die Atmosphäre allmählich abkühlt. Das Wasser verdampft nicht mehr so schnell, sodass der Muttersturm nicht mehr so schnell wächst wie früher. Vielleicht wird es bald sogar wieder Flüsse und kleine Seen geben.«
Tai versuchte, sich die Einöde mit so viel Wasser wie im Großen Wasserreservoir vorzustellen, doch es gelang ihm nicht.
»Die Erde heilt sich allmählich selbst«, sagte Soort etwas gedankenverloren. »Und unsere Aufgabe ist es, die Menschen zu heilen, die dann auf ihr leben werden.« Sein Blick richtete sich wieder auf Tai. »Du solltest wieder zurück auf dein Zimmer gehen. Bestimmt haben die Schmerzmittel schon etwas nachgelassen.«
Erst jetzt fiel ihm auf, dass sein Rücken tatsächlich allmählich weh tat. Er hatte es nur nicht gemerkt, weil er dem Heiler so angestrengt zugehört hatte. Etwas ungelenk stand er auf und verließ zusammen mit Soort das Archiv. »Ich kann wirklich nicht hier bleiben, oder?«
Der Heiler schüttelte bedauernd den Kopf. »Tut mir leid. Du musst wieder zurück in den Pazifik. Hier bist du nur eine Gefahr für die anderen. Insbesondere wegen deiner Lepra-Mutation.«
Sofort hatte Tai wieder den Drang, sich am Hals zu kratzen, unterdrückte ihn aber. »Ich habe jetzt verstanden, dass dieser Ort wichtig ist. Für die Zukunft des gesamten Pazifiks. Ich werde niemandem verraten, dass es euch gibt.«
Soort lächelte ihm dankbar zu. »Erstmal müssen wir aber dafür sorgen, dass deine Wunde richtig verheilt. Danach wird einer unserer Läufer dich wieder zurück in den Pazifik bringen. Ich hoffe, du wirst deinen eigenen Weg nach Hause finden. Oder dorthin, wo du sein möchtest.«
Wo ich sein möchte... Tai wusste nicht, warum er sich bei diesen Worten so traurig fühlte. Ich möchte nicht auf dem Thron sein, begriff er. Mutter wollte das. Aber ich bin nur für mich selbst verantwortlich, nicht für sie. Ich werde nach Maua suchen. Sie muss noch am Leben sein. Irgendwo.
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