19. Kapitel
Ich sehe demnach nichts besseres für mich, als die Methode der Ärzte nachzuahmen, welche glauben, ihrem Patienten sehr viel genutzt zu haben, wenn sie seiner Krankheit einen Namen geben.
Immanuel Kant
Da der Raum, in dem Tais Krankenbett stand, keine Fenster hatte, zählte er die Tage anhand der erlöschenden und wieder aufleuchtenden Decke. Mittlerweile hatte er sich schon an das blendend weiße, künstliche Licht gewöhnt und fand es nicht mehr so schlimm. Was er schlimm fand, war dagegen das Essen, das die Frau – vermutlich Soorts Helferin – ihm regelmäßig brachte. Es war eine schleimige Masse, die aber laut des Heilers »alle nötigen Nährstoffe« beinhaltete. Also musste er sie wohl oder übel runterwürgen.
Am achten Tag war es soweit: Soort kam mit der Frau herein, welche ihm den Schlauch vom Arm entfernte und sie dann alleine ließ. Tai streckte sich und schwang die Beine über den Bettrand. Verwundert starrte er auf die fremdartigen Schuhe, die vor ihm auf dem Boden standen. Die ganze hintere Seite schien zu fehlen. Unsicher schlüpfte er hinein und versuchte einen Schritt zu machen, woraufhin er fast stolperte.
»Wir haben leider keine anderen«, sagte Soort entschuldigend. »Man gewöhnt sich aber schnell dran. Komm mit.«
Tai schlurfte hinter dem Heiler her, der ihn das erste Mal durch die Tür nach draußen führte. Der Flur erinnerte ihn leicht an Kifos Wrack, denn auch hier gab es links und rechts mehrere Türen, die allerdings vernünftige Klinken und keine aufwendigen Räder hatten. Zu seiner Verwunderung waren in die Wände ab und zu Fenster eingelassen. Das allererste war sogar eines, das in seinen Raum zeigte. Dabei hatte er kein Fenster gesehen, nur einen... Spiegel. Allmählich begriff er, dass die Alten Sachen erschaffen hatten, die er sich nicht mal vorstellen konnte.
»Hier ist unser Quarantäne-Bereich«, erklärte Soort, während sie weiter gingen. »In den Räumen bringen wir Gerettete wie dich unter, häufiger aber unsere Läufer, die Jamjama absuchen.« Er blieb vor einem der Fenster stehen und bedeutete Tai, in das Zimmer reinzuschauen, was er auch tat.
Er entdeckte einen älteren Mann mit heller Haut und grauen Strähnen im dunklen Haar, der dort auf dem Bett saß und mit den Fingern auf ein Brett in seinen Händen einhämmerte. Seine Kleidung war nicht weiß, sondern ähnelte schon mehr der, die im Pazifik getragen wurde. Einfaches Stoffhemd und dünne Stoffhose, die Schuhe waren aus Leder.
»Was ist das für ein Brett?«, fragte Tai. Es war ihm schon bei Soorts erstem Besuch aufgefallen. Über seine Oberfläche hatten bunte Bilder geflackert, aber vielleicht hatte er sich auch getäuscht.
»Das ist ein Tablet«, sagte der Heiler. »Darauf sind all unsere Erkenntnisse über die Strahlenkrankheit gespeichert. Aaron hier trägt wahrscheinlich wieder ein paar Sachen ein. Wir werden es heute Abend erfahren.«
»Wie trägt er da was ein? Er hat doch gar keinen Stift. Gar nichts zum Schreiben.«
»Auf den Tablets kann man mit den Fingern schreiben.«
»Wie wenn man seine Finger in Tinte taucht?«
»Nein. Es gibt darin etwas, was dir die fertigen Buchstaben anzeigt. Du musst nur auf sie drücken und das Tablet schreibt sie für dich.«
Was es nicht alles gibt...
Sie gingen weiter.
»Wer hat mich eigentlich in Jamjama gefunden? War es Aaron?«
»Nein, es war Sofia. Vielleicht sehen wir sie in der Kantine. Also, im Speisesaal.« Es schien dem Heiler einige Schwierigkeiten zu bereiten, die Wörter der Alten für Tai umzuformulieren.
Schließlich kamen sie bei einer Tür an, die zur Hälfte aus Glas bestand. Dahinter führten zwei Flure nach links und rechts. Soort nahm den rechten und führte Tai bis zu einer Tür, an deren dicke Klinke er eine kleine, dünne Platte hielt. Es klickte und sie konnten den Raum betreten. In diesem standen mehrere Tische, die mit Glasflaschen, kleinen Phiolen und seltsamen Kästen vollgestellt waren. Dahinter schien es ein weiteres Zimmer zu geben, denn Tai entdeckte noch eine Tür, aber die ganze hintere Wand war von einem Vorhang verdeckt, was ihn zu der Annahme verleitete, dass die Wand in Wirklichkeit aus Glas bestand oder Fenster besaß.
»Am besten nichts anfassen«, warnte Soort ihn. »Jedenfalls ist das hier unser Labor, wo wir nach einer Heilung für die Strahlenkrankheit forschen.«
Neugierig wanderte Tai hinter dem Heiler zwischen den Tischen durch, bis sie bei einer großen Tafel ankamen, die auf Soorts Bewegung hin aufflackerte. Sie schien so etwas wie ein Tablet zu sein, denn auf einmal tauchten Bilder von Buchstaben auf, auf die der Heiler tippte. Einige weitere Berührungen und die Zeichnung eines menschlichen Körpers tauchte auf. Ein schwarzes Geschwür wucherte über seinen Oberarm und war mit fremden Worten beschriftet.
»Das ist die Strahlenkrankheit, die du hast«, erklärte Soort. »Ihr im Pazifik denkt immer noch, dass es nur eine gibt, oder?«
Verblüfft starrte Tai den anderen Mann an. »Stimmt das nicht?«
Der Heiler schüttelte den Kopf. »Nein. Es gibt grob gesagt zwei, die in sich aber auch noch verschieden sind.« Er zeigte auf das Bild. »Diese hier nennen wir die Lepra-Mutation.«
»Die was?«
»Lepra-Mutation«, wiederholte Soort geduldig. »Lepra war eine Krankheit zur Zeit der Alten. Sie war eigentlich ausgestorben, doch durch die Zustände nach dem Großen Krieg ist sie erneut ausgebrochen – und zwar schlimmer als je zuvor. Der Erreger ist wegen der Radioaktivität mutiert, sodass keine Medizin mehr gegen ihn geholfen hat. Bis heute sind wir immer noch auf der Suche nach einem Heilmittel.«
Tai sparte sich die Frage, was genau ein Erreger war, und hörte einfach weiter zu. Soort wischte über die Oberfläche des Tablets und ein neues Bild erschien. Es zeigte einen Wucherer, dem sechs weitere Arme aus der Brust und dem Rücken wuchsen.
»Diese hier nennen wir die Nachkriegskrankheit«, fuhr er fort. »Da die Menschen während des Großen Krieges der Radioaktivität ungehindert ausgeliefert waren, veränderten sich Teile ihres Erbguts. Also das, was sie an ihre Kinder weitergeben. Dadurch kamen ihre Kinder mit teilweise sehr grässlichen Mutationen zur Welt. Acht Arme, keine Augen, fast fellartiger Haarwuchs, stark dehnbare Gliedmaßen. Einige von ihnen sahen normal aus, hatten aber trotzdem die mutierten Gene ihrer Eltern geerbt, welche sie wiederum an ihre Kinder weitergaben. Die Nachkriegskrankheit ist mit unseren derzeitigen Mitteln unheilbar.«
Tai war überwältigt von dem Wissen, das sich vor ihm auftat. Es gab nicht ›die eine‹ Strahlenkrankheit, sondern mehrere. Er konnte es kaum fassen. All die Zeit war er zu dumm gewesen, um das zu erkennen. Und alle anderen auch. Allerdings... »Aber die meisten dieser... Nachkriegskranken sind ansteckend. Man darf sie nicht berühren.«
»Die meisten der Nachkriegskranken haben die Lepra-Mutation, da hast du recht.« Soort nickte ihm zu. »Sie sind anfälliger für den Erreger, der sie auslöst. Und es hilft nicht gerade, dass sie zusammen mit allen anderen ins Grenzland verbannt werden.«
»Aber wenn das eine einfach eine ansteckende Krankheit ist und das andere von den Eltern vererbt wird«, seine Gedanken flitzten hin und her, »warum betritt dann keiner die Kontinente? Warum haben alle so eine große Angst vor dem Totenland?«
»Weil man dort die echte Strahlenkrankheit bekommt.« Soort berührte das Tablet an einer Stelle und es erlosch. »Es ist keine Lüge, dass das Totenland verseucht ist. Die Radioaktivität ist dort so hoch, dass jeder innerhalb von wenigen Tagen, vielleicht sogar Stunden, stirbt.«
Tai schaute ihn ungläubig an. »Was? Wie ist das möglich? Warum könnt ihr dann hier überleben?«
»Sirkel hat Wände aus Blei«, erklärte der Heiler. »Deswegen gibt es hier auch keine Fenster nach draußen. Blei ist das einzige, was vor der gefährlichsten Strahlung schützt.« Er deutete in Richtung Tür. »Komm, wir gehen weiter.«
Soort führte ihn wieder den Flur entlang, der jetzt mehrere Biegungen machte und Abzweigungen hatte. Einige von ihnen waren durch Glastüren mit dicken Klinken unterbrochen, an die der Heiler wieder die kleine Platte halten musste, damit sie aufgingen.
»Ganz Sirkel hat Wände aus Blei?«, hakte Tai auf einmal nach. »Ich dachte, Sirkel wäre eine Stadt.«
»Nein, Sirkel ist nicht wirklich eine Stadt wie du sie kennst.« Soort rückte seine Brille zurecht. »Sie besteht nur aus einem einzigen Gebäude. Wir nennen es Station.«
»Und diese Station war schon immer hier?«
»Kann man so sagen. Wir sind da.«
Der Heiler öffnete eine Tür, hinter der sich wohl der Speisesaal befand. Jedenfalls gab es mehrere Tische und Stühle. An der hinteren Wand gab es weitere dieser großen Tablets, vor denen zurzeit jedoch nur eine Frau in Stoffhemd und -hose stand. Die langen, blonden Haare hatte sie sich zu einem Zopf nach hinten gebunden. Als sie ihre Schritte hörte, drehte sie sich um.
»Hab ich's doch gewusst, dass wir sie hier finden würden. Das ist Sofia. Die Läuferin, die dich gerettet hat.«
Tai betrachtete die Frau, die ein fremdes Wort – vermutlich eine Begrüßung – zu ihnen herüber rief. Ihr Blick richtete sich auf Tai und sie lächelte ihm freundlich zu. Dann winkte sie in Richtung der Tablets, während sie selbst sich irgendein Brett mit verschiedenfarbigem Schleim nahm und sich an einen der Tische setzte.
»Sie lädt uns ein, mit ihr zu essen«, übersetzte Soort. »Welches Gelee mochtest du am liebsten?«
Eigentlich keines, wollte Tai sagen, entschied sich dann aber für das Rote. Kurz darauf saß er mit einem Brett voller rotem Schleim gegenüber von Sofia und musste sich zusammenreißen, um nicht das Gesicht zu verziehen. Um das Essen etwas hinauszuzögern, nickte er der Frau zu. »Ich sollte mich wahrscheinlich für meine Rettung bedanken.«
Soort übersetzte, woraufhin Sofia auflachte, abwinkte und dann wieder ernst wurde. Sie sagte etwas.
»Sie fragt, wo du dich mit der Lepra-Mutation angesteckt hast.«
»Wahrscheinlich in einem Wrack.« Er hielt es nicht für nötig, den Menschen hier von Kifo zu erzählen. Sie würden den Pazifik sowieso nicht betreten, um nach ihm zu schauen.
Sofia nickte nachdenklich und fragte noch etwas.
»Sie möchte wissen, wo du ursprünglich herkommst. Was deine Geschichte ist.«
Tai zögerte. Warum interessiert sie das?
»Sofia interessiert sich für den Pazifik. Das ist alles«, beruhigte Soort ihn. »Es ist etwas ermüdend, die ganze Zeit nur in Sirkel zu verbringen. Deswegen ist sie auch zu einer Läuferin geworden. Dann kommt sie wenigstens ab und zu raus.« Er seufzte schwer. »Mein Bruder war genauso. Du erinnerst mich etwas an ihn. Er hatte auch so ein Muttermal unter dem Auge.«
»Was ist mit ihm passiert? Mit deinem Bruder?« Tai konnte sich die Frage nicht verkneifen.
»Er ist in den Pazifik gegangen und nicht zurückgekehrt.« Sein Gesicht verdüsterte sich.
Ein betretenes Schweigen legte sich über die kleine Gruppe.
»Ich bin in einem Dorf namens Kimbilio aufgewachsen«, hob Tai an, um die Stille zu brechen. Und dann begann er, seine Lebensgeschichte zu erzählen. Jede Einzelheit außer die Tatsache, dass er König Sharafs Sohn war. Vielleicht. Yueanis Worte, dass seine Mutter womöglich nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte, waren ihm nicht aus dem Kopf gegangen. Mittlerweile kam es ihm fast schon peinlich vor, dass er überhaupt gedacht hatte, er hätte irgendein Anrecht auf den Thron. Immer mehr Worte sprudelten aus ihm heraus, die Soort geduldig übersetzte. Als er fertig war, stellte Sofia noch einige Fragen, besonders in Bezug auf die Untiere, denen er begegnet war, und Kifo, den er jetzt doch noch erwähnt hatte.
»Er muss das Lebensserum benutzt haben«, vermutete Soort.
»Was ist das?«
»Eine Erfindung der Alten. Sie soll angeblich ewiges Leben schenken, doch nach einiger Zeit wurde klar, dass das Serum die menschlichen Zellen irgendwann nicht mehr erneuert. Man lebt zwar ewig, ist jedoch in einem alten, gebrechlichen Körper gefangen.« Er schmunzelte. »Später bemerkte man, dass es sich gut als Katalysator eignete. Das bedeutet, dass es die Explosion verschiedener Bomben beschleunigen konnte. Wahrscheinlich hat man sie deswegen zusammen mit den Atombomben gelagert. Kifo nannte sich George Miller, sagtest du?«
Tai nickte.
»Dann war er wahrscheinlich ein Amerikaner.«
»Was ist das?«
Sofia kicherte. Vermutlich hatte sie die Frage verstanden und fand sie unheimlich lustig.
»Ich glaube, als nächstes muss ich dir etwas über unsere Geschichte erzählen. Besonders über den Beginn des Großen Kriegs. Hast du zu Ende gegessen?«
Tai schaute auf den roten Schleim, den er nur zur Hälfte gegessen hatte, und nickte.
»Gut. Sofia ist bestimmt so nett, unsere Tabletts wegzubringen. Komm mit.«
»Wohin?«
»Ins Archiv.«
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Jeiii, es werden Sachen erklärt :)
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