15. Kapitel
Die Ketten waren so, dass sie ihre Hände nur weit genug auseinander bewegen konnten, um Wasser zu schöpfen. Tai war der erste, der sich unter dem kalten Blick des Mannes in Blau auf den Felsen setzte, der zum Glück durch die Sonne etwas aufgewärmt war. Leicht zögernd ergriff er den Schöpfeimer, tunkte ihn ins Wasser und musste sich sofort zurückhalten, um nichts davon zu trinken. Er hatte nicht wirklich Durst, aber das Plätschern, die herunterfallenden Tropfen, die leichten Wellen, die vom Wind gegen das Ufer gedrückt wurden, es war einfach zu verführerisch. Er musste sich regelrecht dazu zwingen, den Eimer in der Wanne zu leeren.
»Sehr gut«, lobte der Mann in Blau. »Sie gehören dir, Harry.«
Nun trat der Aufseher zu ihnen. Er war kahl und hatte fettige, pralle Wangen, darüber kleine Knopfaugen. In zwei Halterungen an seinem Gürtel steckten Schlossolen, die er wohl im Notfall oder bei Ungehorsam benutzen würde. Finster blickte er zu Yueani, die sich nun ebenfalls hinsetzte und den Eimer ergriff. Ihre Augen sprühten wütende Funken.
Schweigend füllte Tai erneut seinen Eimer, genauso wie Yueani. Dann nochmal. Und nochmal. Mit der Zeit führten seine Arme die Bewegung fast von alleine aus. Eimer ins Wasser, rausholen, in die Wanne schütten, wiederholen. Irgendwann schien Harry davon überzeugt zu sein, dass sie ihre Arbeit fortführen würden, denn er entfernte sich ein Stück und behielt nun auch die anderen Arbeiter im Auge.
»Und?«, flüsterte auf einmal Yueani, die das auch bemerkt hatte.
»Was ›und‹?«, zischte er zurück.
»Wie lautet der Fluchtplan?«
Tai seufzte. »Wir haben nicht wirklich eine Chance.« Es schmerzte ihn, das zugeben zu müssen. Es waren einfach zu viele der Wachmänner da. Und selbst wenn sie es schafften, auf eine der Plattformen zu kommen: Auf dem Weg nach unten waren sie eine offene Zielscheibe für die Schlossolen der anderen unterhalb des Wasserreservoirs.
»Keine Chance.« Yueani spuckte aus, überlegte kurz und spuckte dann in ihren Eimer. »Es gibt immer einen Ausweg! Es gibt immer eine Chance!«
»Das habe ich auch eine Zeit lang gedacht.« Tais Herz schmerzte bei den Erinnerungen an sein Zuhause und Chuma Chakavu. Bei den Erinnerungen an seine Mutter, Haifai, Sakafu, die kleine Nyasi. Dann Ndege, Bidii, Maua und alle anderen Buren. Damals war er geflohen, doch jetzt war nicht mal das möglich.
»Es kann nicht sein, dass wir bis zu unserem Lebensende hier feststecken!«, regte Yueani sich auf. »Wenn alle Arbeiter sich zusammentun, werden wir die Aufseher leicht überwältigen können. Ein Teil von uns wird fliehen können. Vielleicht sogar der größere Teil.«
»Und wie willst du das machen?« Tai verstummte, als ein Wasserträger kam und ihre volle Wanne gegen eine leere austauschte. Sein Blick war leer und ganz ohne Hoffnung. Als Tai ihm begrüßend zunickte, reagierte er nicht. »Alle hier sehen nicht so aus, als hätten sie noch irgendeine Kraft in sich.«
Yueani machte Anstalten, auf die Füße zu springen und irgendeine Dummheit zu begehen, doch Tai hielt sie schnell am Arm fest und zog sie wieder runter.
»Denkst du wirklich, es hätte noch nie jemand versucht, so einen Aufstand anzuzetteln?«, zischte er ihr zu. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich weiß, wo diejenigen jetzt gelandet sind. Nämlich in Jamjama.«
Überrascht bemerkte er, dass Tränen in den Augen der jungen Frau schimmerten. Ihre Lippen bebten, aber sie gab kein Schluchzen von sich. Gereizt schüttelte sie seine Hand ab und fuhr stur damit fort, Wasser zu schöpfen. Tai zögerte kurz, bevor er sich ebenfalls an die Arbeit machte.
»Ich bin wirklich nicht strahlenkrank«, sagte Yueani nach einer Weile. Es war eine Festigkeit in ihrer Stimme, die nicht daran zweifeln ließ, dass sie die Wahrheit sprach. »Sonst hätte ich doch schon lange halb Kusini angesteckt. Und Marco auch. Dieser Dreckskerl.« Sie spuckte seinen Namen aus als wäre er eine Beleidigung.
»War Marco dein... Freund?«, fragte Tai vorsichtig.
»Nein, er war mein Mann.«
»Du bist verheiratet?« Es gelang ihm nicht ganz, seine Überraschung zu verbergen.
»Denkst du, ich hätte mich versprochen?«, fuhr Yueani ihn an. »Ja, ich bin verheiratet. Siehst du den Ring nicht?« Sie hob ihre linke Hand, an deren Ringfinger das kostbare Schmuckstück aus Gold glänzte, das ihm schonmal aufgefallen war.
»Aber warum...?«
»Geld.« Yueani unterbrach seine Frage mit diesem Wort und einem darauf folgenden, verächtlichen Schnauben. »Ich hätte es von Anfang an wissen müssen. Ich dachte, er würde mich lieben. Er hat mir so vieles versprochen. Jetzt kenne ich den Grund, aus dem er mich heiraten wollte.« Sie seufzte. »Er wollte einfach mein Geld haben.«
»Deine Familie scheint ja sehr reich zu sein«, bemerkte Tai und hatte nicht erwartet, so eine heftige Reaktion bei ihr auszulösen.
Yueani hämmerte den Schöpfeimer so heftig auf die Wasseroberfläche, dass es laut knallte und ein Regen aus nassen Tropfen auf sie niederging. Besorgt sah Tai hinüber zu Harry, der bereits auf den Weg zu ihnen war und nicht sonderlich zufrieden zu sein schien. Schneller als er es dem Aufseher zugetraut hätte, war dieser da und baute sich vor ihnen auf.
»Was soll das?«, brüllte er Yueani an. »Du verschwendest wertvolles Wasser! Mach das nie wieder, elende Strahlenkranke!«
»Fick dich ins Knie!«, schnauzte sie ihn an.
Harrys Gesicht lief rot an. Blitzschnell hob er seine Hand und ließ sie auf Yueanis Wange hinabsausen. Der Schlag war so heftig, dass die junge Frau mit einem lauten Schrei zu Boden ging. Ihre Lippe war aufgeplatzt und rotes Blut tropfte auf den Steinboden. Doch trotz des Schmerzes lag ein wilder Ausdruck auf ihrem Gesicht. Sie setzte sich wieder auf, obwohl ein rotes Rinnsal ihr Kinn hinab floss und ein unschöner Handabdruck auf ihrer Wange prangte. Gerade öffnete sie den Mund, um dem Aufseher eine weitere Beleidigung an den Kopf zu werfen, als weiter hinten ein Tumult ausbrach.
Tai sah einen Strahlenkranken, dessen rechter Arm fast vollständig geschwärzt war, an mehreren Wächtern vorbeilaufen. Die Verzweiflung war ihm deutlich anzusehen. Er schlug einen der Männer in Schwarz nieder, um an die Hebel zu den Plattformen ranzukommen, als auch schon der Knall einer Schlossole ertönte. Dann noch einer. Der Strahlenkranke schrie auf, fiel zu Boden und blieb regungslos liegen. Geschockt starrte Tai auf die Leiche des Mannes, die nun weggezerrt wurde, während alle anderen Strahlenkranken einfach weiter arbeiteten.
Harry drehte sich grinsend zu ihnen um. »Jetzt seht ihr, was mit denen passiert, die zu fliehen versuchen«, sagte er. »Glaubt nicht, ich wüsste nicht, woran ihr gedacht habt. Niemand kommt hier weg. Euer einziger Ausweg ist der Tod. Jeder von euch ist ersetzbar. Fast täglich bringen die Kahata uns neue Arbeiter. Denkt darüber nach.« Damit drehte er sich um und ging zurück auf seinen Posten.
Yueani flüsterte einen Fluch auf Südländisch, ergriff ihren Schöpfeimer und tunkte ihn wieder ins Wasser, dieses Mal ohne dass es spritzte.
Können wir hier wirklich nicht weg? Tai biss die Zähne fest zusammen. Die junge Frau blutete immer noch an der Lippe. Kurz entschlossen entfernte er den Stofffetzen, der zuvor seinen Hals verdeckt hatte, und reichte ihn Yueani. »Hier. Wisch dir damit das Blut ab.«
Sie schaute ihn entgeistert an. »Ganz bestimmt nicht!«
»Wenn du die Seite benutzt, die nicht an meinem Hals war, sollte dir nichts passieren.« Sie zögerte immer noch, also fragte er: »Darf ich?« Behutsam und darauf achtend, die richtige Seite zu verwenden, tupfte er ihr das Blut von der Lippe und dem Kinn, bevor er sich den Fetzen wieder umband.
»Danke«, sagte Yueani nur, bevor sie ihren vollen Eimer in der Wanne entleerte. Auch Tai fuhr jetzt mit seiner Arbeit fort.
Ununterbrochen dachte er darüber nach, wie ihnen eine Flucht gelingen könnte, aber es schien unmöglich. Es waren einfach zu viele Wachen da, die alle Schlossolen bei sich trugen. Eine falsche Bewegung und sie würden sie benutzen.
Irgendwann fiel ihm auf, dass es eigentlich schon lange Nacht sein müsste. Sie waren am späten Nachmittag angekommen und hatten schon bestimmt fünf Stunden oder mehr gearbeitet. Seine Schultern und Arme brannten vom ganzen Schöpfen. Beinahe schlimmer als nach einem Tag auf den Feldern oder den Kampfübungen mit Ndege.
»Warum geht die Sonne nicht unter?«, flüsterte er Yueani leicht beunruhigt zu. »Wir arbeiten schon viel zu lange.«
Sie lachte kurz auf. »Du bist noch nie so weit im Norden oder Süden gewesen, stimmt's?«
»Nein. Was hat das damit zu tun?«
»Die Erde dreht sich um die eigene Achse, aber die Achse ist leicht schräg. Die Hälfte des Jahres ist entweder der Nord- oder der Südpol mehr zur Sonne geneigt als der andere. Dann dauert ein Tag dort viel länger als in der Nähe des Äquators. Manchmal gibt es sogar gar keine Nacht, weil die Sonne nie untergeht, sondern nur kurz den Horizont berührt.«
Tai sah sie verständnislos an. »Was?«
Yueani winkte ab. »Ist nicht schlimm, das du das nicht weißt. Du bist ja nur ein Bauer.«
»Woher weißt du das denn?«
»Ich habe eine reiche Familie, schon vergessen?«
Nach ungefähr einer halben Stunde, in der die Sonne sich dem Horizont wenigstens genähert hatte, riefen alle Aufseher den Arbeitern zu, dass für heute Schluss war. Sie durften ihre Schöpfeimer weglegen und sich vom Ufer entfernen. Einige der Wasserträger bekamen die Aufgabe, das Essen zu verteilen. Es war ein dickflüssiger Eintopf, dessen genauen Inhalt Tai lieber nicht wissen wollte. Wenigstens konnte er damit seinen Hunger stillen. Nachdem ihre Schüsseln wieder eingesammelt worden waren, legten die meisten Strahlenkranken sich schlafen – obwohl es immer noch hell war. Sie zogen sich ihr Oberteil aus und legten es sich über die Augen oder benutzten Stofffetzen, die sie von ihrer Kleidung abgerissen hatten. Einige schliefen auch sofort ein ohne dass das Licht sie störte. Tai hatte gehofft, dass wenigstens jetzt ein paar der Wächter gehen würden, aber es fand nur ein Wachwechsel statt. Seufzend sah er zu Yueani, die jedoch keine Anstalten machte, sich schlafen zu legen.
»Wenn du dich nicht ausruhst, wirst du es morgen bereuen«, warnte er sie.
Sie warf ihm einen unwilligen Blick zu, legte sich dann aber doch auf den harten Stein. Keiner der Arbeiter schien ein Recht auf Decken zu haben.
»Warum hast du das getan?«, fragte sie auf einmal.
»Was?«
»Gesagt, dass du noch nie auf dem Feld gearbeitet hast.«
Tai zuckte mit den Schultern. »Ich wollte dich nicht alleine lassen.«
»Ich brauche keinen Beschützer.«
Er schmunzelte, kommentierte das aber nicht. Dann überkam ihn die Traurigkeit. Ich habe schon so viele verloren oder nicht retten können. Wenigstens bei ihr muss mir das gelingen. Wenigstens sie.
»Meine Eltern sind tot«, sagte Yueani in die Stille hinein. »Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben. Mein Vater hat sich letztes Jahr eine Entzündung geholt, die nicht heilen wollte.«
»Das tut mir leid.«
»Muss es nicht. Mein Vater hat mich sehr geliebt. Hat mir die besten Lehrer gegeben und dafür gesorgt, dass ich alles beherrsche, was er auch kann. Er war der Bürgermeister von Kusini und hat mir nach seinem Tod sein Amt und all seinen Besitz vermacht. Ich habe ihm am Sterbebett versprochen, dass ich einen Mann heiraten werde, der mich liebt und in allem unterstützen wird. Ich dachte, ich hätte ihn in Marco gefunden. Wie man sich irren kann...«
»Er... hat dich an den Kahata verraten?«, wagte Tai eine Vermutung.
»Dieses Schwein«, zischte Yueani. »Ja, er hat dem Kahata von meinen sechs Fingern berichtet und dass ich eine Gefahr für ganz Kusini wäre. Niemand hat mir geholfen. Es waren ohnehin schon viele skeptisch, weil ich eher meiner Mutter ähnele, die aus dem Südland kam. Dabei gehört Kusini ja zum Ostland. Dass ich strahlenkrank sein sollte, passte ihnen nur zu gut.« Sie verzog ihr Gesicht. »Jetzt ist Marco wohl der Bürgermeister und vergnügt sich mit meinem Geld. Mit dem Geld meines Vaters.«
Tai wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Sie hat genauso viel verloren wie ich. Wenn nicht sogar mehr. Er hatte das Gefühl, dass er sie trösten musste, wusste aber gleichzeitig, dass sie das vermutlich nicht zulassen würde. Kurz flammte der Gedanke auf, sie in den Arm zu nehmen, doch er verwarf ihn schnell. Nicht, dass Yueani das als Annäherungsversuch sieht. Also legte er sich ebenfalls auf den harten Stein, der jungen Frau gegenüber.
»Dein Vater wird dir bestimmt verzeihen«, flüsterte er schließlich in ihre Richtung. »Es ist nicht deine Schuld, dass Marco sich als so ein Verräter erwiesen hat.«
»Ich hätte es wissen müssen«, antwortete sie leise. »Er wollte die Hochzeit viel zu schnell.«
»Liebe macht manchmal blind.«
Yueani runzelte verärgert die Stirn. »Ist das eine Entschuldigung, die du so oft gehört hast, dass du sie jetzt selbst überall benutzt?«
»Meiner Mutter ist etwas Ähnliches passiert wie dir«, gab er schließlich zu. »Sie hat einen Mann geheiratet, der sie nur benutzt hat, um an das zu kommen, was sie sich hart erarbeitet hat. Er hat behauptet, sie wäre ihm untreu gewesen.«
»Und? War sie das?«
»Natürlich nicht!«
Yueani schmunzelte. »Du liebst deine Mutter sehr, oder? Schonmal darüber nachgedacht, dass diese Liebe dich blind gemacht haben könnte?«
Tai spürte Ärger sich aufsteigen. »Meine Mutter würde mich nicht anlügen.«
Die junge Frau zuckte nur mit den Schultern. »Wie du meinst.« Dann drehte sie sich auf die andere Seite, sodass sie ihm den Rücken zudrehte. Scheinbar war das Gespräch beendet.
Mutter würde mich nie anlügen! Tai konnte nicht glauben, was Yueani da angedeutet hatte. König Sharaf hat sie verstoßen, um an den Thron zu kommen! Ganz klar! Und trotzdem nagte ein gewisser Zweifel an ihm. König Sharaf wusste, dass Mutter schwanger mit mir war. Warum hat er sie dennoch verstoßen? Warum hat sein Bruder, König Aswad, nie nach mir gesucht? Ich bin doch sein Neffe. Und die Südländer legen sehr viel Wert auf ihre Familie. Wie er es auch drehte und wendete, ihm fiel keine vernünftige Erklärung dafür ein. Vielleicht bin ich einfach zu müde. Mit einem mulmigen Gefühl im Magen schlief er schließlich ein.
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