12. Kapitel
Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.
Albert Einstein
Der Wagen, in den Tai gestoßen wurde, war ein großer Kasten aus Metall auf Rädern, der von einem mächtigen Arbeitspferd gezogen wurde, das ihn an Kahawia erinnerte. Tai fluchte und wand sich im Griff der zwei Wächter, die ihn hinein bugsierten, doch es war hoffnungslos. Der Aufenthalt in der Einöde hatte ihn geschwächt und Muuajis Säbel hatte er auch verloren. Kaum war er drinnen, wurde die Tür hinter ihm zugeschlagen. Das einzige Licht kam nun von oben durch ein Loch in der Decke, das zwar groß genug für einen Menschen wäre, aber vergittert war. Wenigstens konnte er so die zwei anderen Personen sehen, die offenbar sein Schicksal teilen sollten.
Eine davon war eine Frau, die etwa fünfzig Jahre alt sein musste. Die Haare hatte sie vollständig unter einem zerfaserten Kopftuch versteckt und ihre trüben Augen starrten ins Leere. Ihre Haut war zwar dunkel, doch ihre abgetragene Kleidung zeigte deutlich, dass sie keine Adlige war. Ein Lächeln lag auf ihren schmalen Lippen, als Tai einige Schritte ging, um sich auf den Boden zu setzen und den Rücken gegen die Wand zu lehnen. Mittlerweile hatte der Wagen sich schon in Bewegung gesetzt.
»Hat es dich also auch erwischt?«, fragte der andere Anwesende. Er wirkte noch älter als die Frau, war aber für sein Alter erstaunlich muskulös. Seine Schultern waren breiter als die aller Männer, denen Tai je begegnet war. Vermutlich war er ein Krieger oder ein Schmied, wobei ersteres wahrscheinlicher war, da er keine Brandnarben an den Armen hatte.
»Scheint so«, entgegnete Tai missmutig.
»Du bist noch ziemlich jung, oder? Wie alt bist du?«
»Achtzehn.«
»Wie zum Henker hast du dir die Strahlenkrankheit geholt? Bist du ins Grenzland gelaufen oder was?«
»Nein«, entgegnete Tai gereizt. Ich habe etwas noch viel dümmeres gemacht.
»Lass ihn doch in Ruhe, Mukoto«, sagte nun die Frau mit krächzender Stimme. »Er hat gerade erst erfahren, dass er strahlenkrank ist. Gib ihm etwas Zeit.«
Der Mann, Mukoto, schnaubte. »Genug Zeit wird er auch in den Wasserstädten haben, wenn er sich dort zu Tode schuftet.«
»In den Wasserstädten? Er bringt zu den Wasserstädten? Zum Großen Wasserreservoir?« Tai schaffte es nicht, seinen Unglauben zu verbergen. Meinte der Kahata das damit, dass ich dem Ostland einen letzten Dienst erweisen werde? Dennoch konnte er es nicht glauben. »Seit wann lässt man dort Strahlenkranke arbeiten? Ich dachte, die Wasserhändler würden sich dort einfach das Wasser holen!«
»Als ob sie das tun würden«, meinte Mukoto verächtlich. »Keiner der Wasserhändler, mit denen ich geredet habe, konnte mir sagen, wie das Große Wasserreservoir aussieht. Sie haben es nie gesehen. Das kann nur bedeuten, dass es andere gibt, die das Wasser schöpfen, abfüllen und ihnen bringen. Nur wusste ich bis vor wenigen Wochen auch noch nicht, dass das die Arbeit von Strahlenkranken wie uns ist. Die noch nicht allzu krank sind.«
»Wasser schöpfen?«, platzte Tai heraus. »Aber... warum weiß niemand davon? Warum Strahlenkranke? Dann müssten doch alle Menschen schon strahlenkrank sein, wenn das Wasser von ihnen berührt wurde!«
»Keine Ahnung.«
»Die Wasserhändler wissen es«, krächzte die alte Frau. »Und sie schweigen, weil es ein Geheimnis ist, das sie bewahren müssen. Alle wollen das Wasser. Aber niemand will wissen, wie es beschafft wird. Es ist so wie mit Nyeupe. Alle wollen das Wasser aus den tiefen Brunnenschächten, aber niemand will wissen, wie es den Arbeitern geht, die die Schächte graben. Die Wasserhändler sind für viele ein Symbol der Hoffnung. Da wäre es schlecht, wenn dieses Symbol in Wirklichkeit für Strahlenkranke steht, die sich zu Tode arbeiten.«
Tai atmete tief ein und wieder aus. Was für eine verdammte Scheiße!
»Mein Name ist Uchawi«, sagte die alte Frau nun. »Wie ist deiner?«
»Tai.«
Ein seltsamer Ruck schien durch die Frau zu gehen. Ihre Augenlider flatterten. »Bist du schon auf den Pfaden der Vergangenheit gewandelt, Tai?«
»Was?«
»Was laberst du da?«, fuhr Mukoto sie an. »Welche Pfade der Vergangenheit? Ich dachte, dich interessiert nur die Zukunft?«
»Manchmal findet man die Zukunft in der Vergangenheit.« An Tai gewandt fügte sie hinzu: »Ich bin eine Magierin. Aber keine Sorge, ich werde dich nicht verfluchen oder sonstiges. Ich sehe nur manchmal in die Zukunft.«
»In die Zukunft?« Tai horchte auf. »Das heißt, du kannst sehen, was mit uns passieren wird?«
»Das hättest du wohl gerne«, murmelte Mukoto.
»Ich sehe nicht das, was ich sehen will«, erklärte Uchawi. »Ich kann die Visionen nicht kontrollieren. Und sie sind auch nicht in Stein gemeißelt. Nur eine von vielen Möglichkeiten, wie die Zukunft aussehen kann. Sie verändert sich mit jeder Sekunde, mit jedem Herzschlag. Selbst ein Gedanke kann die Zukunft verändern. So etwas wie Schicksal oder Vorsehung gibt es nicht.«
»Also weißt du nicht, was mit uns passiert«, begriff Tai.
Uchawi schüttelte entschuldigend den Kopf.
»Und was sollen wir dann machen? Wir können doch unmöglich weiterhin untätig in diesem Wagen rumsitzen!« Wut stieg in ihm auf. Er sprang auf die Beine, richtete den Blick auf die verschlossene Tür und rammte mit voller Wucht seine Schulter hinein. Ein schrecklicher Schmerz durchfuhr seinen gesamten Arm und er trat fluchend einen Schritt zurück.
»Das bringt nichts. Ich habe es auch schon versucht«, sagte Mukoto, während von draußen gleichzeitig Geräusche erklangen. Der Wagen blieb stehen. Dann schien jemand über das Dach zu gehen und das Gesicht des Kahata tauchte im vergitterten Fenster auf.
»Bitte tut das nicht nochmal«, sagte Sahihi. »Ihr verletzt euch dabei nur.« Er langte hinter sich, brachte zwei Wasserschläuche und einen Proviantbeutel zum Vorschein und ließ beides an einem Seil zu ihnen hinunter. »Hier ist eure Verpflegung für heute.«
»Du sollst verflucht sein, Sahihi!«, brüllte Mukoto zu dem Kahata hoch, der jedoch nur freundlich lächelte.
»Wenn der Gott noch leben würde, hätten deine Worte vielleicht sogar noch irgendeine Bedeutung«, antwortete er kühl.
Tai beobachtete, wie Uchawi blind nach dem Proviantbeutel tastete und dessen Inhalt auf dem Boden entleerte. Kaum hatte sie das getan, zog Sahihi den Beutel am Seil wieder nach oben. Die Wasserschläuche entleerte die alte Frau in einer Schüssel, die fest an der Wand ihres Gefängnisses befestigt war. Sie erinnerte Tai auf groteske Weise an Kahawias Futtertrog. Wir werden wirklich wie Tiere behandelt. Kurz darauf zog Sahihi auch die Wasserschläuche wieder hinauf und verschwand. Der Wagen setzte sich wieder in Bewegung.
»Gewöhn dich dran«, sagte Mukoto, während er ein Stück hartes Brot vom Boden aufhob. »Wenigstens versorgt er uns mit Essen und Trinken, damit wir in den Wasserstädten vernünftig arbeiten können.«
»Und was ist, wenn ich mal muss?«
Wortlos deutete der Mann auf ein kleines Loch in der Ecke des Wagens. Es gab nicht mal einen Sichtschutz, um sich von den anderen abzuschirmen.
Mit schmerzendem Arm nahm Tai nun auch eines der Brotstücke auf und biss hinein. Es war Tage her, dass er etwas gegessen hatte, aber trotzdem hatte er keine Freude daran, endlich halbwegs satt zu sein. Wir werden nur bei Kräften gehalten, um in den Wasserstädten schuften zu können.
»Was ist eigentlich mit dir?«, fiel ihm auf einmal auf.
»Was sollte mit mir sein?«, fragte Uchawi.
»Du bist blind.«
»Stimmt. Das ist mir bisher gar nicht aufgefallen.« Ein leichtes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen.
»Ich meine, wirst du dort überhaupt arbeiten können?« Sorge stieg in Tai auf. Zwar kannte er seine Mitgefangenen gerade mal eine Stunde, aber sie steckten alle in derselben aussichtslosen Situation. Er wollte nicht, dass ihnen etwas Schlimmeres passierte als ihnen jetzt schon drohte.
»Ich bin zwar blind, aber nicht nutzlos«, sagte Uchawi. »Wenn ich Wasser schöpfen soll, brauche ich nur zu wissen, wo mein Eimer ist und wo das Wasser.«
»Dann... Entschuldige, dass ich das überhaupt gefragt habe.«
»Ist schon in Ordnung«, beruhigte sie ihn. »Es ist nichts Schlechtes, Fragen zu stellen. Nur, wer Fragen stellt, wird am Ende mit Antworten belohnt.« Sie seufzte. »Ich komme ursprünglich aus Ngome. Dort bin ich im Armenviertel aufgewachsen und habe schon früh erfahren, dass ich eine Magierin bin. Viele sind zu mir gekommen, um nach Antworten in ihrer Zukunft zu suchen. Doch nur einige haben mein Heim auch zufrieden verlassen. Naja, wenigstens haben sie gefragt.«
»Du kommst aus Ngome? Aus der Hauptstadt?«
»Ja. Aber sie ist nicht so schön, wie du sie dir vorstellst.«
Mukoto schnaubte, als er das hörte. »Nicht so schön? Es ist eine schreckliche Stadt. Zu viel Blut ist dort vergossen worden. Wusstest du, dass man den Gelben Platz, auf dem das Volk sich versammelt, wenn der König zu ihm spricht, heimlich Blutplatz nennt? König Miro hat damals nicht nur seinen Bruder getötet, sondern auch Hunderte Unschuldige, die treu zu König Witan gestanden haben. Er hat sie hinrichten lassen, weil sie ihn nicht als neuen Herrscher anerkennen wollten. Der ganze Platz war von Leichen unschuldiger Menschen bedeckt.«
»Woher weißt du das?«, fragte Tai, entsetzt über das, was König Miro damals getan hatte.
»Ich war einer derjenigen, der die Hinrichtungen durchgeführt hat«, antwortete Mukoto. »Ich war einer seiner Garderitter. Einer derjenigen, die ihm geholfen haben, das Blutbad anzurichten. Danach hat er mich entlassen. Ich bin nach Kelele gezogen und habe dort als Rausschmeißer in einer Taverne gearbeitet.«
Ein echter Garderitter, dachte Tai ehrfurchtsvoll. Aber einer, der gemeinsame Sache mit König Miro gemacht hat. Er beschloss, nicht weiter nachzufragen. Wenn er Mukoto verärgerte und dieser auf ihn losging, würde er ohne Zweifel unterliegen. Er war um einiges größer und kräftiger und hatte viel mehr Kampferfahrung.
»Irgendeiner der Saufkerle dort muss wohl strahlenkrank gewesen sein«, fuhr Mukoto fort und krempelte seinen rechten Ärmel hoch, wo eine eiternde und nässende Wunde zu sehen war. Am Rand befand sich eine schwarze Kruste. Ähnlich der, die Tai am Hals hatte. »Jedenfalls hat Sahihi mich erwischt und zu Uchawi in diesen Wagen hier geschmissen.«
»Und ich bin hier, weil die Gerüchte über meine Gabe sich zu weit verbreitet haben«, erklärte die alte Frau. »Magier sind zwar nicht ansteckend, aber irgendwann holt die Strahlenkrankheit uns doch noch ein. Ich bin wohl einfach zu alt gewesen als dass man mir weiterhin geglaubt hätte, ich wäre keine Gefahr.« Sie schmunzelte. »Dabei war zuletzt sogar die Königin bei mir.«
»Königin Rafaga?«, hakte Mukoto nach. Die Verachtung in seiner Stimme war unüberhörbar. »Das glaube ich dir nicht.«
»Glaubst du mir, wenn ich sage, dass sie sich Sorgen um ihren Mann gemacht hat? Dass er verrückt geworden ist und mit seiner verstorbenen ersten Liebe redet? Jetzt hört man davon doch schon in jedem Dorf. Und ich habe es dir erzählt, als wir noch in Kelele waren und davon noch niemand wusste.«
Mukoto starrte sie finster an. »Ich glaube dir trotzdem nicht. Eine Königin würde nie und nimmer freiwillig ins Armenviertel spazieren.«
»Königin Rafaga schon.«
»Also stimmt es, dass König Javet verrückt geworden ist?«, warf Tai ein. Er wusste nicht, warum ihm das jetzt noch so wichtig war. Mit jeder Sekunde entfernte er sich doch weiter von Ngome und dem Thron, der rechtmäßig ihm gehörte. Der Geisteszustand des Königs konnte ihm eigentlich relativ egal sein.
»Verrückt ist ein großes Wort.« Uchawi wiegte ihren Kopf hin und her. »Ich glaube, König Javet hat einfach zu viel erlebt. Er war noch jung, als er König geworden ist, und musste sich bereits mit Kriegen und mächtigen Feinden auseinandersetzen. Nicht wenige seiner Verbündeten und Freunde sind dabei gestorben. Das hinterlässt Spuren.«
»Er soll angeblich im Grenzland aufgewachsen sein«, fügte Mukoto hinzu. »Wer weiß, vielleicht holt ihn all das Gift, das er dort eingeatmet hat, jetzt ein und er ist strahlenkrank geworden. Wäre nicht das erste Mal, dass dann einer verrückt wird.«
»Dass man die Toten sieht, ist kein Symptom der Strahlenkrankheit, Mukoto«, tadelte Uchawi ihn. »Er schafft es nicht, die Toten der Vergangenheit ruhen zu lassen. Sie verfolgen ihn und geben ihm wahrscheinlich die Schuld dafür, dass er sie nicht retten konnte.«
Der ehemalige Garderitter zuckte mit den Schultern. »Wenn du das sagst.« Seine dunklen Augen richteten sich auf Tai. »Und du? Wo kommst du ursprünglich her?«
»Aus Kimbilio.«
»Kenne ich nicht.«
»Es ist ein kleines Dorf irgendwo östlich von Kosa.«
»Du bist ein Bauer?« Mukoto hob überrascht die Augenbrauen. »Das hätte ich jetzt nicht gedacht. Du siehst nicht aus wie eine Schmutzhaut.«
»Mein Vater kam aus dem Südland.«
»Aus dem Südland?« Mukoto lachte auf und winkte ab. »Ich frage einfach nicht weiter nach.«
Tai überlegte, ob er dem ehemaligen Garderitter an den Kopf werfen sollte, dass er der Sohn von König Sharaf und Königin Alina war, ließ es aber bleiben. Er würde es ihm sowieso nicht glauben. Und bringen würde es auch nichts.
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