42. Kapitel
Bei unserer Geburt treten wir auf den Kampfplatz und verlassen ihn bei unserem Tode.
Jean-Jacques Rousseau
Vala ließ Dhoruba unermüdlich galoppieren, bis sie das Gefühl hatte, dass der Hengst gleich umkippen würde. Die Wut in ihr hatte nicht nachgelassen. Sie brannte heller als je zuvor. Mit jeder Stunde, mit jedem Tag, der verging, wünschte sie sich, ihren Onkel endlich tot zu sehen. Er hatte ihr alles genommen. Ihr Zuhause, ihre Sicherheit, ihre Freunde. Er sollte nicht auch noch ihr Leben haben! Sie ritt meistens nachts, wenn es kühler war, und orientierte sich an den Sternen.
Am dritten Tag ging ihr das Wasser aus. Sie hatte nicht daran gedacht, dass Dhoruba auch trinken musste. Ihre eigene Unbedachtheit verfluchend, lenkte sie den Hengst auf das Territorium des Tiba-Stammes. Es dauerte nicht lange, bis zwei Krieger auftauchten. Sie hielten die Speere auf sie gerichtet und befahlen ihr, abzusteigen.
»Ich bin nur auf der Durchreise!«, rief Vala ihnen entgegen. »Ich brauche Wasser! Ich kann bezahlen!« Sie hielt den Geldbeutel mit den Münzen in die Höhe, die ihr noch vom Samariter geblieben waren.
»Die Stämme der Mwitu-Ebene haben genug von euch Reisenden!«, erwiderte einer der Männer. Das Schaf an seiner Seite senkte bedrohlich den Kopf mit den gedrehten Hörnern. »Ihr bringt nur Unglück! Verschwinde jetzt sofort oder es wird dir schlecht ergehen!«
»Ich kannte die Älteste des Pakiti-Stammes«, versuchte Vala es erneut. »Ajali. Sie wäre nicht begeistert davon, dass ihr einen Hilfesuchenden ablehnt.«
Die zwei Krieger wechselten einen skeptischen Blick und flüsterten miteinander. Schließlich senkten sie die Speere. Der Mann mit dem Schaf als Seelentier löste seinen Wasserschlauch vom Gürtel und reichte ihn Vala. »Ajali in allen Ehren«, sagte er, strich Dhoruba über das schweißnasse Fell und ging mit seinem Begleiter davon.
Vala wartete bis zum Einbruch der Nacht, bevor sie weiter ritt. Dabei hielt sie sich weit weg vom Tiba-Territorium und den anderen Stammesgebieten. Obwohl das ein Umweg war: Sie wollte eine Begegnung mit jemandem wie der Leoparden-Frau vom Adui-Stamm vermeiden. Bald schon war der Steilhang in Sicht, den sie bei ihrer Flucht aus Kelele hinunter gefallen war. Ein boshaftes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Bald, bald ist es so weit.
Plötzlich ertönte ein lautes Knacken. Gleichzeitig riss Dhoruba den Kopf in die Höhe, stieß ein panisches Wiehern aus und überschlug sich in vollem Galopp. Vala schaffte es nicht, sich an seiner Mähne festzuhalten. Sie wurde herumgeschleudert, kam hart auf dem Boden auf und blieb keuchend liegen. Benommen schüttelte sie den Kopf und versuchte, sich aufzusetzen, aber die Arme knickten ihr einfach weg. Sie stöhnte vor Schmerz. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Dhoruba mit verdrehten Gliedern weiter weg lag und hilflos herumzappelte. Auf einmal tauchte eine dunkle Gestalt aus den Schatten der Nacht auf und zog dem Hengst einen scharfen Säbel über die Kehle. Das Pferd zuckte krampfhaft zusammen und blieb still liegen.
»Nein!« Vala stemmte sich mit aller Kraft hoch und wollte zu Dhoruba, aber starke Hände packten sie an den Schultern und drückten sie zu Boden. Ein seltsam entstelltes Gesicht tauchte über ihr auf. Ein Schauer fuhr ihr über den Rücken. Es sah aus, als würden dem Mann Zähne überall aus dem Gesicht wachsen. Ein Strahlenkranker, schoss es ihr durch den Kopf. Ein Wucherer. Gehört er zu denen, die den Pakiti-Stamm ausgelöscht haben?
»Hallo, Prinzessin«, erklang eine Stimme. Es war nicht der Wucherer, der gesprochen hatte, sondern jemand außerhalb ihres Blickfeldes. Nun trat er jedoch neben sie und beugte sich vor. Vala blickte in ein mit schwarzen Stoffbahnen umwickeltes Gesicht, das nur die Augen frei ließ. Kranke, gelb unterlaufene Augen. Ein dritter Arm wuchs dem Mann aus der Brust, mit dem er sich jetzt am Kinn kratzte. »Haben wir dich also endlich gefunden. Wie schön.«
»Habt ihr den Pakiti-Stamm ausgelöscht?«, presste sie hervor.
Der Strahlenkranke lachte. »Ich habe nur die Älteste etwas gequält, aber sie wollte nicht sagen, wo sie dich versteckt hat. Stell dir vor, sie hat immer noch darauf bestanden, dass sie absolut keine Ahnung hat, wo du bist, als Mian Dui angefangen hat, ihre Finger abzuschneiden.« Er deutete auf eine Frau ohne Augen und Nase, die sich neben dem Wucherer mit den Zähnen im Gesicht postiert hatte. »Finger für Finger. Als die Finger weg waren, kamen die Zehnen. Am besten fand ich immer noch das, was sie mit ihrem Gesicht angestellt hat. Sie sah am Ende fast so aus wie Mian Dui selbst, nicht wahr?«
Die Ohnegliederin und der Wucherer grinsten, wobei letzterer seine unzähligen Zähne zeigte. »Sie war sehr hübsch.«
»Lass deine kranken Fantasien bei dir, Chi!«, befahl der Strahlenkranke mit den drei Armen. Er wandte sich wieder an Vala und betrachtete sie von oben bis unten. In ihrer Brust wütete ein Sturm aus Entsetzen, Zorn und Schmerz. Und Angst, als der Mann vorsichtig die Stoffbahnen an seiner rechten Hand entfernte. Gerötete Haut mit schwarzen Flecken kam zum Vorschein. Es roch nach Verwesung und Tod, doch der Strahlenkranke schien keinerlei Schmerz zu spüren. Er bog die klauenartigen Finger auseinander und hielt ihr die Hand hin. »Warum drückst du mir zum Gruß nicht die Hand?«
Vala wand sich unter dem Griff des Wucherers, konnte sich aber nicht befreien. »Du bist ein Strahlenkranker! Ich werde mich anstecken und sterben!«
»Recht hast du, Prinzessin«, sagte der Mann. »Also, schlägst du ein?«
»Zeteng«, mischte Chi sich nun ein. »König Miro hat uns den Auftrag gegeben, sie sofort zu töten, wenn wir sie finden.«
»Wir haben sie fast drei verdammte Monate gejagt! Da darf man doch wohl zuerst etwas Spaß haben!«, brüllte Zeteng den Wucherer an. »Ich dachte schon, sie wäre wirklich nach Süden gegangen und Xah würde sie erwischen! Es war ein reiner Glücksfall, dass wir Serval entdeckt haben und ihm gefolgt sind! Der Narr hat uns nicht mal bemerkt! Sonst hätten wir nie herausgefunden, dass sie sich in Mpaka versteckt!« Seine Hand kam immer näher. »Verraten hat er dich, kleines Mädchen! Bist du etwa vor ihm davongelaufen, oder warum warst du nicht bei ihm?«
»Er hat meine Mutter und meinen Zwillingsbruder ermordet!«, zischte sie und ließ die Hand nicht aus den Augen. »Und noch andere Unschuldige!«
Zeteng lachte. »Hast du es also herausgefunden! Herzlichen Glückwunsch!«
»Was machen wir mit ihr?«, fragte nun Chi. Jedes Wort wurde von einem Knirschen seiner Zähne begleitet. »Du siehst nicht so aus, als hättest du vor, sie einfach so zu töten.«
»Das habe ich ganz gewiss nicht vor. Drei Monate Arbeit, damit sie dann innerhalb weniger Sekunden stirbt? Und wir uns danach wieder ins Grenzland verziehen, wo wir uns für die ganzen Münzen sowieso nichts kaufen können? Nein...« Der Mann kam ihr noch näher. Vala presste die Lippen fest zusammen und versuchte, den Kopf wegzudrehen, als er mit der Hand über ihr Gesicht streichen wollte. Doch das brachte nichts. Seine Finger fuhren feucht und stinkend über ihre Wange und hinterließen eine unangenehm brennende Spur.
Chi zeigte die unförmigen Zähne. »Wem wird diesmal die Ehre zuteil?«
Zeteng fuhr nun über ihre Stirn. Vala zappelte. Schreckliche Bilder von Ajali und Shaki, wie sie gefoltert und gequält wurden, flackerten vor ihren Augen auf. »Uns allen!«, sagte der Strahlenkranke und breitete zwei Arme aus. Mit dem dritten, der aus seiner Brust wuchs, kratzte er sich am Hals. »Sie soll sehen, wie es ist, einer von uns zu sein! Verstoßen und verachtet von der Gesellschaft!«
»Ins Grenzland?«, fragte Chi.
Zeteng nickte. »Ins Grenzland.« Er drehte sich um und rief den wartenden Gestalten in der Dunkelheit dieselben Worte zu. »Ins Grenzland!« Lautes Johlen und Stampfen antwortete ihm. Kurz darauf wurde Vala etwas über den Kopf gezogen und sie verlor nach einem harten Schlag gegen die Schläfe das Bewusstsein.
Mehrmals kam sie zu sich, doch jedes Mal, wenn sie anfing zu zappeln, wurde sie zurück in die gnadenlose Schwärze geschickt. Bald schon schmerzte ihr Kopf so sehr, dass sie sich nicht mehr rührte, sobald sie das Bewusstsein wiedererlangt hatte. Die Angst vor dem, was ihr bevorstand, schnürte ihr die Kehle zu. Sie bringen mich ins Grenzland, pochte es in ihrem Schädel. Dorthin, wohin alle Strahlenkranken verbannt werden. Wo sie sterben. Wo ich sterben werde. Alles, nur das nicht! Sie wollte nicht so enden wie Zeteng! Mit solchen Händen. Mit einer Haut, die man vor allen verbergen musste.
Die Strahlenkranken waren zu Fuß unterwegs. Lange unterwegs. Sie schienen kaum Schlaf zu benötigen und wenn doch, dann wirkten sie nicht müde. Tagsüber erstickte sie fast in dem Sack, den man ihr über den Kopf gezogen hatte. Er wurde ihr nur abgenommen, um ihr gerade so viel zu trinken zu geben, dass sie den nächsten Tag überlebte. Die Stellen, an denen Zeteng sie im Gesicht berührt hatte, brannten mit jeder Stunde schlimmer. Sie stellte sich vor, wie ihre Haut verfaulte, Blasen schlug und abfiel.
Irgendwann wurde Vala vom Rücken des Strahlenkranken gehoben, der sie gerade trug, und zu Boden gestoßen. Sie blieb mit schmerzenden Gliedern liegen, schaffte es aber irgendwie, ihren Oberkörper aufzurichten. Mit einem Ruck wurde ihr der Sack vom Kopf gerissen. Der grobe Stoff schrammte so schmerzhaft über die brennenden Stellen in ihrem Gesicht, dass sie aufschrie.
»Willkommen Zuhause, Prinzessin!«, hörte sie Zetengs Stimme und dann lautes Gelächter.
Vala blinzelte. Die Gruppe aus Strahlenkranken stand vor ihr. Der Mann mit den drei Armen an ihrer Spitze, rechts von ihm Chi und links von ihm Mian Dui, die Frau ohne Augen und Nase. Nur ihr Mund war noch vorhanden und zu einem hämischen Grinsen verzogen. Hinter ihnen befanden sich Menschen mit schrecklichen Entstellungen und Verkrüppelungen, sodass es Vala Schmerzen bereitete, sie auch nur anzusehen.
»Schau dich ruhig um«, forderte Zeteng sie auf. »Den Weg zurück findest du sowieso nicht mehr!« Er lachte schadenfroh und während Vala noch den Kopf wandte, um hinter sich zu blicken, nickte er Mian Dui auffordernd zu. Der Säbel beschrieb einen Bogen und schlitzte dem Mädchen den Oberschenkel auf. Fassungslos und unfähig, zu reagieren, starrte Vala das hervorquellende Blut an. Ein heftiger Faustschlag seitens Chi schickte sie ins Reich der Träume.
Als sie wieder zu sich kam, waren die Strahlenkranken wie vom Erdboden verschluckt. Vala hatte keine Ahnung, wie lange sie hier gelegen hatte. Die Wunde an ihrem Oberschenkel hatte aber aufgehört, zu bluten. Ihr Gesicht brannte wie Feuer. Die gnadenlosen Strahlen der Sonne machten es auch nicht besser. Ein unangenehmer Geruch hing in der Luft. Sie wusste nicht, ob er von ihr oder von etwas anderem kam.
Ich will so nicht sterben!, dachte Vala verzweifelt. Nicht so! Nicht so! Um sie herum war kein rötlicher Sand, sondern harter, grauer Stein. Die Strahlenkranken hatten sie also wirklich ins Grenzland gebracht. Hinter ihr erhoben sich die Berge des Totenlands in den blendenden Himmel. Wenigstens wusste sie so, welche Richtung sie nehmen musste, um ins Ostland zu kommen. Aber als sie aufstand und einige Schritte gegangen war, gaben ihre Beine nach und sie musste sich auf einen Felsen stützen, um nicht umzufallen. Es ist hoffnungslos. Ein heißer Wind wehte vorbei und wirbelte ihre schwarzen Haare auf. Erschrocken musste sie mit ansehen, wie eine ganze Strähne ihrer Haarpracht einfach davon gerissen und weggeweht wurde. Vala schrie all ihre Verzweiflung, ihren Hass und ihren Schmerz in die wüste Leere hinaus.
Auf einmal fiel ihr die Schlossole ein. Die Strahlenkranken hatten sie ihr nicht abgenommen. Sie steckte immer noch hinter ihrem Gürtel am Rücken. Mit zitternden Händen holte sie sie hervor und starrte sie an. Der Samariter hatte nicht gewusst, ob es weh tat, durch eine Kugel erschossen zu werden. Aber wenn man in den Kopf oder in das Herz schoss, starb man sofort. Ohne sich zu quälen. Ohne dass die Haut am eigenen Körper verfaulte und zu Staub zerfiel.
Vala holte tief Luft und hielt sich die Schlossole an die Schläfe. Den Zeigefinger auf dem Hebel.
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