4. Kapitel
Es ist nur noch ein Ungeheuer, welches gräßlicher ist als Tyrannenunvernunft: Die Volkswut. Nur die Furcht vor der letzten macht die erste erträglich.
Johann Gottfried Seume
»Was beunruhigt dich?«, fragte Fräulein Rica sie sieben Tage nach der Hochzeit von König Miro und Alina, die nun überall herumstolzierte, als hätte sie nie etwas anderes gemacht.
»Zami ist immer noch verschwunden«, antwortete Vala zerknirscht. Sie machte sich immer mehr Sorgen um die junge Prinzessin und fühlte sich schlecht, weil sie nichts machen konnte. »Wo ist sie? Was ist mit ihr passiert?«
»Bestimmt hat König Miro sie nur in eine andere Stadt geschickt, damit sie ihre Lektion lernt und kein Mitleid mehr mit Bleichgesichtern hat. Vielleicht nach Nyeupe, wo sie unermüdlich neue Brunnen graben. Es hat dort vor Kurzem einen Aufstand gegeben und viele sind hingerichtet worden.« Die Erzieherin setzte ein schiefes Lächeln auf. »Er würde seiner Tochter nie etwas antun.«
»Aber die Glasfiguren...«
»... hat sie doch schon zerstört, als sie von den Garderittern in ihrem Zimmer eingesperrt worden ist.«
Vala schüttelte den Kopf. Das stimmt nicht! Sie musterte Fräulein Rica misstrauisch, die jedoch nicht mal mit der Wimper zuckte. Das Gesicht war starr. Zu starr. Sie wusste etwas! Warum sagte sie es nicht?
»Komm, ich habe eine Überraschung für dich«, meinte die Erzieherin auf einmal, stand auf und verließ das Nähzimmer, in dem die adligen Töchter in allerlei Sachen unterrichtet wurden. Vala folgte ihr in großen Schritten.
Seltsam, dachte sie. Sie wartete immer noch auf König Miros Bestrafung dafür, dass sie das Kleid ihrer Mutter bei seiner Hochzeit getragen hatte. Fräulein Rica würde keine Überraschung für sie haben, wenn der König es nicht billigte. Die Erzieherin führte sie auf den Innenhof, wo Finis, die drittälteste Tochter von König Miro, gerade ihre Reitstunde hatte. Sie war eine regelrechte Pferdenärrin und jammerte ihrem Vater die ganze Zeit die Ohren über gewisse Friesen voll, die sie unbedingt haben wollte. Letztendlich hatte er ihr versprochen, zu ihrem dreizehnten Geburtstag einen zu schenken, wenn sie bis dahin das störrischste Pony in der gesamten Burg gebändigt hatte. Bisher schien es allerdings nicht richtig zu klappen, denn Finis zerrte wie wild an den Zügeln des stämmigen Tieres, das sich jedoch keinen Schritt bewegte. Vala konnte sich ein gehässiges Grinsen nicht verkneifen und bemerkte gar nicht, dass Fräulein Rica stehen geblieben war.
Verwundert blickte Vala zu den Ställen, die sich vor ihnen aufreihten. Hier waren die Pferde der Garderitter untergebracht. Auch das Pferd König Miros war dabei: Ein schlanker Hengst mit strahlend weißem Fell, den König Abdul, der Herrscher des Südlands, ihm zu seiner Krönung geschenkt hatte. Sein Name war Alnabil und er wurde den ganzen Tag über von mindestens vier Garderittern bewacht. Sein Futter wurde täglich neu gemischt und von drei anderen Pferden vorgekostet, bevor er selber es fressen durfte.
Onkel kümmert sich mehr um sein Reittier als um mich, dachte Vala und fand das auf gewisse Weise amüsant. Doch als Fräulein Rica einem bleichgesichtigen Stallburschen zuwinkte und der in den Ställen verschwand, riss Vala erstaunt die Augen auf. Sie glaubte nicht, was gerade geschah. Der Stallbursche kam mit einem braun-weißen Pferd auf sie zu und ihr stockte der Atem.
»Hier«, sagte der Junge und drückte ihr die Zügel in die Hände. Verwirrt nahm Vala sie entgegen und schaute fragend zwischen dem Stallburschen und Fräulein Rica hin und her.
»Er heißt Doa«, erklärte die Erzieherin. »Und er gehört jetzt dir.«
»Was?«, fragte Vala, als sie die Sprache wiedergefunden hatte. »Warum? Wofür? Ich dachte...« Sie verstummte. Besser, sie sagte nicht, was sie dachte. Vielleicht hatte König Miro gar nicht bemerkt, dass sie das Kleid ihrer Mutter getragen hatte. Vielleicht war das die Belohnung dafür, dass sie seine Hochzeit nicht gestört hatte. Wie unwahrscheinlich das auch sein mochte...
»Das ist noch nicht alles.« Fräulein Rica nickte dem Stallburschen zu, der einen Metallhocker her holte, mit dem Vala auf den Rücken des Hengstes steigen konnte. Ihres Hengstes. Ihre Finger zitterten vor Aufregung, als sie den Stoff ihres Kleides neu ordnete. Sie sah, wie Fräulein Rica mit der Hand auf das Tor deutete, das aus der Burg heraus und auf die Allee der Rosen führte. Vala verstand den Sinn dieser Geste zuerst nicht. Doch als die Garderitter, die neben dem Tor Wache standen, anfingen, an den Kurbeln zu drehen, glaubte sie ihren Augen nicht. Langsam hob das Eisengitter sich in die Höhe, Stück für Stück. Das eiserne Tor aus zwei Flügeln dahinter schwang geräuschlos auf.
»König Miro hat dir erlaubt, die Burg zu verlassen«, hörte Vala die Stimme von Fräulein Rica neben sich. Doch sie starrte einfach nur auf das offene Tor. Es war offen. Für sie. Das hatte es noch nie gegeben. Ihr Herz klopfte so schnell, dass sie glaubte, es würde gleich zerspringen. In ihrem Hinterkopf spukte der Gedanke an eine Falle, denn das alles war zu schön, um wahr zu sein. Erst ein eigenes Pferd, nun der Weg nach draußen. Was würde als nächstes kommen? Eine Krone, die sie tragen durfte? Unwahrscheinlich...
Aus dem Augenwinkel bemerkte sie Finis' ungläubige Blicke. Die Prinzessin starrte sie einfach nur mit geöffnetem Mund an und ignorierte, dass das Pony, auf dem sie saß, anfing, an einem der Zügel zu kauen. Alle anderen Diener, die im Innenhof versammelt waren, schienen ebenfalls verwirrt.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, redete Fräulein Rica ihr zu. »Jack ist ein guter Pferdeführer und Doa ist ein ganz Lieber. Du wolltest doch schon immer mal die Stadt sehen. Nun hast du die Chance bekommen. Freust du dich denn gar nicht?«
»Doch! Ja!« Vala lachte fröhlich auf. »Ich kann es nur nicht fassen! Hast du Onkel etwa dazu überredet?«
»Nein«, antwortete die Erzieherin. »Es war seine Idee. Vielleicht die einzige gute seit Beginn seiner Regierungszeit. Das habe ich natürlich nie gesagt«, fügte sie mit einem Seitenblick auf den Stallburschen hinzu. Dieser nickte, woraufhin Fräulein Rica in die Hände klatschte. »Dann wollen wir mal!«
Vala klammerte sich erschrocken an der Mähne des Hengstes fest, als dieser sich in Bewegung setzte. Sie hatte bisher nur ein einziges Mal auf einem Pferd gesessen und das war heimlich und nachts gewesen. Niemand wusste davon. Nicht mal Fräulein Rica. Als sie das Tor passierten, kniff Vala die Augen fest zusammen. Fast befürchtete sie, dass das Eisengitter von oben auf sie drauf fallen und unter sich zerquetschen würde, doch nichts geschah. Stattdessen trommelten Doas Hufe über den harten Pflasterstein der Burgbrücke. Neugierig schaute sie an Jack, dem Stallburschen, vorbei. Die alte Jenny hatte ihr erzählt, dass die Gräben um eine Burg herum früher mit Wasser gefüllt gewesen waren, damit Feinde sie nicht überqueren konnten. Nun, da alles Wasser bis auf das im Großen Wasserreservoir im Süden verdampft war, war das außer in den Monaten nach dem Muttersturm nicht mehr möglich. Stattdessen hatte man spitze Eisenpfähle in den Gräben aufgestellt. Jeder, der den Versuch wagte, sie zu überqueren, wurde gnadenlos aufgespießt.
Die kleine Gruppe verließ die Brücke und betrat die Allee der Rosen. Erst jetzt bemerkte Vala, dass mehrere Garderitter sich links und rechts von ihnen aufgereiht hatten. Vermutlich zum Schutz. In Ngome lebten auch Bleichgesichter, die jeden Adligen tot sehen wollten; das hatte Broda ihr jedes Mal eingeschärft, wenn die älteste Königstochter von einem Ausflug zurückgekommen war. »Aber du wirst Burg Fedha ja sowieso nie verlassen«, hatte sie dann noch gehässig hinzugefügt. Wie sehr sie sich geirrt hatte, würde sie erst heute erkennen.
Als die ersten Menschen am Rand der Straße auftauchten, fühlte Vala sich leicht verunsichert. Sie starrten sie an als wäre sie ein Geist. Vor allem die Bleichgesichter. Was wollten sie? Wollten sie sie wirklich töten? Sie entdeckte die kleine Bäckerfamilie, die sie von ihrem Zimmer aus beobachtet hatte, und lächelte ihnen freundlich zu. Erstaunlicherweise lächelten sie zurück. Plötzlich hob der Vater die zu Faust geballten Hand hoch und rief laut und deutlich: »Hoch lebe Prinzessin Vala! Rechtmäßige Königin des Ostlands!«
Vala zuckte vor Überraschung zusammen. Das war das letzte, was sie erwartet hatte.
»Hoch lebe Prinzessin Vala!«, ertönte die Stimme einer Bleichgesicht-Frau von der anderen Straßenseite, die ebenfalls die Faust zum Himmel gestreckt hatte. Ihre Augen waren eingefallen und ihre Kleidung bestand nur noch aus Lumpen. Trotzdem strahlte sie eine Entschlossenheit aus wie Vala sie selten bei jemandem gesehen hatte.
»Hoch lebe sie!«, fiel ein anderer aus den hinteren Reihen in den Ruf ein. Und plötzlich schrie und skandierte die gesamte Menge am Straßenrand: »Prinzessin Vala! Prinzessin Vala! Hoch lebe Prinzessin Vala! Hoch lebe die rechtmäßige Königin!«
»Nieder mit dem Tyrannen!«, kreischte die Bleichgesicht-Frau, die als zweites gerufen hatte. Bevor Vala etwas tun konnte, waren zwei Garderitter ausgeschwärmt, die die Frau an den Haaren packten und sie auf die offene Straße schleppten, wo ein dritter auf sie wartete. Mit einem kraftvollen Hieb seines Schwertes trennte er ihr den Kopf von den Schultern, der einige Schritte weit rollte und dann liegen blieb. Geschocktes Schweigen machte sich breit, das jedoch nicht lang anhielt. Die Menschen gerieten in Bewegung.
»Nieder mit dem Tyrannen!«, schrie ein Bleichgesicht-Mann, zückte ein blitzendes Messer und ging auf einen der Garderitter los. Bald wütete um Vala herum ein Kampf, aus dem es kein Entkommen mehr gab. Sie blickte panisch um sich. Versuchte, einen Ausweg aus dieser Gewalt zu finden und gleichzeitig den Kopf der Frau zu vergessen, der immer noch irgendwo herum lag.
»Wir müssen hier weg«, rief Fräulein Rica ihr zu und entwand dem Stallburschen die Zügel, der sie wütend anspuckte und dann in der Menge verschwand. »Das Volk liebt dich zu sehr! Die Garderitter werden alle töten, die etwas gegen König Miro sagen!«
»Aber das ist grausam!« Vala wandte den Blick von einem Jungen ab, der gerade von zweien der Krieger zusammengeschlagen wurde, bis sein Gesicht nur noch aus einer roten Masse zu bestehen schien. »Sie sollen aufhören!«
»Du kannst nichts tun!« Fräulein Rica hatte Schwierigkeiten, Doa mitten in dem Kampfgetümmel dazu zu bringen, zurück zur Burg zu gehen. Der Hengst riss immer wieder seinen Kopf hoch und schnaubte, sodass weiße Schaumflocken durch die Luft flogen. Vala krallte ihre Finger in die Mähne, um nicht herunterzufallen. Sie hatte unglaubliche Angst. Wäre sie erst am Boden, wäre sie den Schwertern der Garderitter und der wilden Menge hilflos ausgeliefert.
»Halt dich fest!« Fräulein Rica hatte sich mittlerweile vor dem Hengst aufgestellt und zerrte an seinen Zügeln, um ihn vorwärts zu bewegen. Doch das brachte nichts. Plötzlich stieg er auf die Hinterbeine, schlug mit den Hufen durch die Luft und prallte dann mit voller Wucht wieder auf der Straße auf. Valas Herz machte einen Sprung. Sie spürte, wie sie anfing zur Seite zu rutschen. Verzweifelt suchte sie nach Halt, ergriff den Knauf des Sattels und zog sich hoch. Gerade wägte sie sich in Sicherheit, als jemand ihr Bein packte. Erschrocken schaute sie hinunter in der Erwartung, ein Bleichgesicht zu sehen, doch es war einer der Garderitter. Die glänzende Rüstung war unverkennbar. Und er zerrte mit aller Kraft an ihr als wolle er, dass sie vom Pferd fiel.
»Was soll das?«, schrie sie ihn an und versuchte, mit dem anderen Bein nach ihm zu treten, doch er wich geschickt aus und packte auch dieses. Mit einem Ruck zog er sie von Doa herunter. Vala kreischte entsetzt auf und keuchte, als der Aufprall auf dem harten Pflasterstein ihr die Luft aus den Lungen presste. Hinter sich hörte sie das Klappern von Pferdehufen. Ihr Hengst schien immer noch in Panik zu sein. Warum kam Fräulein Rica ihr nicht zu Hilfe? Wo waren die anderen Garderitter? Sahen sie nicht, was ihr Mitstreiter getan hatte?
Vor ihren Augen blitzte das Metall einer Schwertklinge auf. Vala schrie so laut sie konnte, doch keiner hörte sie. Um sie herum herrschte pures Chaos. Der Garderitter, der sie vom Pferd gerissen hatte, hielt sie mit seinen gepanzerten Händen an den Schultern fest und drückte sie zu Boden. Ein anderer stand nun direkt über ihr. Er hatte das Schwert gezogen und richtete es jetzt auf ihren Hals. Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln und nahmen ihr die klare Sicht.
Was geschieht hier? Was haben sie gegen mich? Sie sind doch Garderitter! Sie sind hier, um mich zu beschützen! Warum tun sie das!
Plötzlich zerriss ein lauter Schmerzensschrei die Luft. Etwas fiel klirrend direkt neben ihr zu Boden. Dann folgte polternd ein großer Körper. Vala spürte, wie der Garderitter, der sie zuvor festgehalten hatte, die Hände von ihr nahm und sich aufrichtete.
»Was zur Hölle...?«, hörte sie ihn rufen, bevor seine Stimme abbrach und etwas Warmes ihr quer durch das Gesicht spritzte. Vala blinzelte, um wieder klar sehen zu können, doch da beugte sich ein dunkler Schatten über sie.
»Entschuldigt mich, Prinzessin«, sagte eine Stimme. Dann wurde ihr etwas Hartes gegen die Schläfe gestoßen und sie verlor das Bewusstsein.
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