35. Kapitel
Bettler: Jemand, der sich auf die Hilfe seiner Freunde verlassen hat.
Ambrose Bierce
Diese Nacht war für einige Bewohner der Hauptstadt des Nordlandes keine sichere Nacht. Der Samariter war wieder unterwegs, so sagte man. Und er war auf der Suche nach Bud. Dieser hatte sich, sobald ihm das zu Ohren gekommen war, in seinem Haus verschanzt und hoffte darauf, keinen Besuch zu bekommen.
»Ich hätte wissen müssen, dass die Sache einen Haken hatte«, murmelte er vor sich hin, während er in seinem Zimmer auf und ab ging. Zwar standen zwei Berserker vor der Tür des Hauses Wache, aber das sagte gar nichts. Die verdammten Bettler behaupten, der Samariter könne sie von der Sucht erlösen. Das behaupten sie. Das behaupten die verdammten Versager auf der Straße. Alles Nichtsnutze.
Bud fuhr zusammen, als ein Schatten über die Vorhänge seines Fensters fiel, aber es war anscheinend nur irgendein Vogel, der vorbeigeflogen war. Also fuhr er fort, nervös hin und her zu gehen.
»Solche Angebote haben immer einen Haken. Natürlich haben sie das.« Es war wahrlich ein Glückstreffer gewesen, dass ein dunkelhäutiger Berserker zum Verkauf gestanden hatte. Wie ein gebürtiger Ostländer hatte er nicht ausgesehen, aber das war nicht das Wichtigste. Die Menge brauchte einfach jemanden, der die Rolle des übermütigen Ostland-Königs Kushindwa spielte. Er hatte vor drei oder vier Generationen König Laurbær und sein gesamtes Gefolge zu einem Kampf herausgefordert. Würde er gewinnen, so sollte das Nordland ihm gehören. Natürlich hatte König Kushindwa verloren, aber die Nachstellung des Kampfes war in der Arena in Streve äußerst beliebt. Wenn nun tatsächlich ein Ostländer den übermütigen Herrscher spielte, wie viele Einnahmen würde es da nur geben!
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Ein schwarzer Wirbelwind fegte herein und im nächsten Moment spürte Bud eiskaltes Eisen an seinem Hals. Ein peinliches Winseln entkam seiner Kehle, bevor er die Arme hob und in Todesangst dem Samariter ins Gesicht blickte. Denn niemand anderes konnte dieser verschleierte Mann in Schwarz sein.
»Dir wurde ein Junge namens...«
»Er ist im Keller!«, stieß Bud hervor, bevor der Samariter seinen Satz auch nur zu Ende sprechen konnte. »Er ist im Keller! Dritte Tür links! Bitte hab Gnade!« Er winselte erneut, als die scharfe Klinge seine Haut einschnitt.
»Sklavenhändler verdienen keine Gnade.« Der Samariter schien kurz zu überlegen. Bud schöpfte gerade Hoffnung, als er doch noch den kurzen Schmerz spürte. Rotes Blut spritzte aus der Wunde an seinem Hals, traf jedoch nur die Fenstervorhänge. Bis auf ihn war das Zimmer schon leer.
Die Treppe in den Keller war nicht lang, dafür aber pechschwarz. Keine einzige Laterne beleuchtete die Stufen, die der Samariter hinab ging. Unten angekommen bog er links ab und blieb vor der dritten Tür stehen. Dahinter war es ebenfalls dunkel. Ein leises Klimpern ertönte, als er den Schlüsselbund hervor holte, den er zuvor aus Buds Zimmer mitgenommen hatte. Nach einigen Versuchen fand er den passenden Schlüssel, drehte ihn jedoch noch nicht um. Stattdessen zog er sein Schwert mitsamt Scheide hinter seinem Gürtel hervor und packte es wie eine Keule am unteren Ende.
Es klickte. Die Tür sprang auf und eine massige Gestalt stürzte sich auf den Samariter. Gerade noch rechtzeitig schaffte er es, in der Dunkelheit auszuweichen und dem Angreifer einen Schlag gegen den Schädel zu verpassen. Ein leises Knurren, ein zweiter Schlag, dann war es still. Das Scharren von Füßen deutete an, dass jemand sich mit Gewicht auf dem Rücken in Bewegung setzte, die Treppe wieder hoch.
Im Erdgeschoss des Hauses legte der Samariter den Menschen, den er trug, kurz auf dem Boden ab. Er tastete über die Schädeldecke, an deren einer Seite sich bereits eine Beule abzeichnete. Dann überprüfte er die Atmung und den Herzschlag. Der Bewusstlose war ein junger Berserker. Kräftige Muskeln zierten seinen viel zu kleinen Körper. Er sah aus, als wäre er von innen mit Luft aufgeblasen worden. Auch war sein Kopf vollständig kahl, die Haare alle ausgefallen. Halb verblasste Narben zogen sich an seinen Armen und seinem Oberkörper über die dunkle Haut.
Nachdem der Samariter sich vergewissert hatte, dass es dem Jungen den Umständen entsprechend gut ging, hievte er ihn sich wieder auf den Rücken und verließ das Haus. Links und rechts des Eingangs waren zwei Blutflecken am Boden zu sehen, doch von den Leichen keine Spur.
Die Straßen waren fast vollkommen leer. Nur ein einziger Schatten huschte von Hauseingang zu Hauseingang und versuchte, dem Samariter zu folgen. Dieser blieb schließlich in einer abgeschiedenen Gasse stehen, lehnte den bewusstlosen Berserker an eine Mauer und richtete sich hoch auf.
»Komm heraus«, sagte er in die Dunkelheit hinein. »Ich weiß, dass du da bist.«
Erst passierte nichts, doch dann tauchte ein Mädchen auf, das vielleicht siebzehn oder achtzehn Jahre alt war. Sie trug ein Hemd und eine Hose mit vielen Flicken und war barfuß. In einigem Abstand zum Samariter blieb sie stehen und strich sich eine verfilzte, blonde Haarsträhne nach hinten, während sie ihn neugierig betrachtete.
»Du weißt, dass du mir nicht folgen darfst, Gishild.« Die Stimme des Samariters klang streng.
Das Mädchen schaute kurz betreten zu Boden, bevor ihr Blick weiter zu dem bewusstlosen Berserker wanderte. »Hat Vala dich gefunden? Ist das ihr Freund?« Ihre blauen Augen fingen an zu leuchten. »Wirst du ihn heilen?«
»Ja.«
Jetzt wirkte Gishild traurig. Ihre Mundwinkel zuckten. »Du wirst ihn heilen, aber du konntest meine Eltern nicht heilen, als sie an der Staublunge erkrankt sind.«
»Ich kann nicht allen helfen. Und ich kann nicht alle retten.«
»Warum nicht?« Gishild sah ihn jetzt direkt an. Nicht anklagend. Eher, als würde sie ehrlich versuchen, das Unbegreifbare zu begreifen. »Es muss für dich eine Leichtigkeit sein, jemanden von der Staublunge zu heilen, wenn du es schaffst, sogar einen Berserker wieder normal zu machen. Und alle haben Angst vor dir. Als ich gehört habe, dass du wieder unterwegs bist und nach Bud suchst, habe ich mich vor seinem Haus auf die Lauer gelegt. Ich möchte deine Kunst erlernen. Ich möchte auch anderen helfen, so wie du. Dann können wir zu zweit arbeiten und noch viel mehr Menschen heilen. Wir könnten sogar den Sklavenmarkt zur Schließung zwingen. Die Korruption beenden.«
»Du kannst nicht meine Schülerin sein«, entgegnete der Samariter kalt.
»Warum nicht? Ich bin zwar eine Bettlerin, aber ich lerne schnell! Ich kann alle Schlösser öffnen!« Sie fummelte an ihrem Gürtel herum, bis sie einen Eisenring mit allerlei Stäben in die Luft hielt.
»Das hat nichts damit zu tun.«
»Mit was dann?«
Der Samariter antwortete eine lange Zeit nicht. Der Schleier vor seinem Gewicht schlug leichte Wellen, schwarz wie die Nacht. Der graue Umhang war zu schwer und bewegte sich erst, als der Samariter die Hand hob und Gishild zu sich winkte. Das Mädchen zögerte, kam aber näher. Dicht vor ihm blieb sie stehen und er beugte sich zu ihr runter, flüsterte ihr anscheinend etwas ins Ohr.
Auf einmal riss Gishild entsetzt die Augen auf. Sie machte einen Satz nach hinten und wollte fliehen, doch der Samariter packte sie blitzschnell am Oberarm und zog sie ruckartig zu sich zurück. Blanke Panik stand in ihrem Gesicht, aber ihr Schrei wurde von einer behandschuhten Hand erstickt.
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Ein weiteres Kapitel, das in der ersten Fassung nicht vorhanden war. Ich habe es hinzugefügt, weil ich das Gefühl hatte, dass die Andeutungen, die ich vorher über Gishild und die Methoden des Samariters gemacht habe, zu vage waren. Jetzt sollte einiges klarer geworden sein :)
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