29. Kapitel
Gunst die kehrt sich nach dem Glücke.
Geld und Reichthum das zersteubt.
Schönheit läst uns bald zu rücke.
Ein getreues Hertze bleibt.
Paul Fleming
»Es ist nicht so, wie du jetzt vielleicht denkst«, sagte Hilgard. »Mein Vater ist zwar der König des Nordlands, aber ich habe keinerlei Ansprüche auf den Thron.«
»Das ist unmöglich«, widersprach Vala und rückte näher zu dem Mädchen heran, wobei sie darauf achtete, mit ihrem Rücken nicht gegen die Gitterstangen zu kommen. »Du hast königliches Blut in dir! Natürlich hast du einen Anspruch auf den Thron! Aber... Wie bist du dann in die Hände der Sklavenhändler gekommen?«
Hilgard schmunzelte belustigt. »Lass mich ganz von vorne beginnen. Noch vor meiner Geburt.«
Vala nickte und setzte sich etwas gemütlicher hin.
»Meine Mutter kam aus dem Ostlands. Deswegen kann ich auch deine Sprache sprechen – sie brachte es mir bei. Sie hieß Helga. Wahrscheinlich war das nicht ihr richtiger Name, aber ich habe sie nie danach gefragt. Sie erzählte mir, sie sei aus einem kleinen Dorf ins Nordland geflohen, nachdem sie bemerkt hat, dass sie magische Fähigkeiten zu haben schien.«
Eine richtige Magierin! Vala riss erstaunt die Augen auf.
»Zwar werden Magier von der Gesellschaft nicht so sehr verachtet wie andere Strahlenkranke, doch anscheinend war den Dorfmenschen das egal«, fuhr Hilgard fort. »Meine Mutter reiste von Stadt zu Stadt und verdiente sich ihr Geld, indem sie Kleider für reiche Adlige nähte und ausbesserte. Auf einer dieser Reisen lernte sie Borne kennen.«
»Den jetzigen König des Nordlands.« Vala erinnerte sich, dass Fräulein Rica das irgendwann einst erwähnt hatte.
»Genau. Damals war er aber noch ein einfacher Adliger, ein Soldat«, erklärte Hilgard. »Sie verliebten sich ineinander und das Ergebnis ihrer Liebe bin ich. Ich wurde in Ødelagt geboren. Dieser Teil der Geschichte, die ihr dir erzählt habe, stimmt also.« Sie lächelte gequält. »Aber die Liebe zwischen meinen Eltern hielt nicht lange an. Mein Vater musste das Dorf immer wieder verlassen, um für den damaligen König des Nordlands, König Gråskjegg, in ein paar kleineren Scharmützeln zu kämpfen. Ich glaube, dass es während dieser Zeit geschehen sein muss, aber ich bin mir nicht sicher.«
»Was ist geschehen?«
Hilgard fixierte Vala mit ihren dunklen Augen. »Er hat sich in Prinzessin Sunna, die Tochter des Königs und dessen einziges Kind, verliebt. Und sie sich in ihn. Mein Vater ist noch ein letztes Mal zu uns gekommen, um meiner Mutter alles zu gestehen. Sie ist ungeheuer wütend gewesen. Obwohl ich da erst fünf Jahre alt war, kann ich mich immer noch an das laute Geschrei erinnern. Meine Eltern hatten nie öffentlich geheiratet, also konnte meine Mutter von ihm nicht mal Geld als Entschädigung verlangen. Aber sie war eine Magierin. Sie war so wütend auf Borne, dass sie ihm einen Fluch auf den Hals gehetzt hat.«
»Was für einen Fluch?« Valas Haut prickelte vor Anspannung.
»Sie hat ihn mit ewiger Unfruchtbarkeit verflucht«, flüsterte Hilgard. »Er sollte nie mehr Kinder zeugen können. Das hat vor allem eines bedeutet: Die Königsfamilie des Nordlandes würde aussterben, wenn Prinzessin Sunna sich nicht einen anderen Mann suchen würde. Meine Mutter hat offenbar gehofft, dass Borne zu ihr zurückkommen würde. Aber mein Vater war nicht dumm. Er hat Prinzessin Sunna nichts von dem Fluch verraten und sie haben ein Jahr später geheiratet.«
»Und dann ist König Gråskjegg gestorben«, fiel Vala ein. »Das ist gar nicht mal so lange her.«
»Er ist vor drei Jahren gestorben«, bestätigte Hilgard. »Da seine Frau schon lange gestorben war und er keine männlichen Erben hatte, hat Prinzessin Sunna den Thron nach ihm bestiegen. Königin Sunna!« Sie lachte freudlos. »Es muss weitere zwei Jahre gedauert haben, bis Borne seiner Frau erzählt hat, warum sie keine Kinder bekamen. Er muss ihr auch verraten haben, wo meine Mutter und ich uns aufhalten. Wahrscheinlich dachte er, sie könnte Helga irgendwie dazu zwingen, den Fluch wieder aufzuheben. Königin Sunna hat ihrem Ehemann wie erwartet befohlen, zu uns zurückzukehren und um Gnade zu bitten. Als mein Vater eines Tages vor der Tür gestanden hat als wäre nichts passiert, ist meine Mutter überglücklich gewesen. Sie hat gedacht, er würde sie wieder lieben, aber dem ist nicht so gewesen. Nachdem sie den wahren Grund für sein Kommen erfahren hatte, hat sie ihn rausgeschmissen.«
Hilgard verstummte, obwohl die Geschichte offensichtlich noch nicht zu Ende war. Ihr Gesicht hatte sich verfinstert. Erst nach einigen Minuten setzte sie ihre Erzählung fort. Ihre Stimme war ein raues Krächzen. »Noch im selben Jahr ist meine Mutter gestorben. Jedoch nicht, wie die meisten Magier, an der Strahlenkrankheit, sondern an irgendeiner Art... Schwäche. Die einzige Heilerin in Ødelagt hat behauptet, sie wäre an gebrochenem Herzen gestorben, aber ich bezweifle, dass man an sowas sterben kann. Ich glaube, sie war einfach nur enttäuscht vom Leben und wollte es nicht mehr.«
Das tut mir leid, wollte Vala sagen, doch sie bekam den Mund nicht auf.
»Irgendwie müssen Königin Sunna und Borne das mitbekommen haben«, fuhr Hilgard fort. »Vielleicht noch am gleichen Tag, wobei ich mich dann frage, warum sie so lange gezögert haben. Vielleicht ein Jahr später, aber in diesem Fall ist es beachtlich, was für schlechte Spione die Königsfamilie hat. Jedenfalls sind vor mittlerweile fast zwei Monaten vermummte Krieger nach Ødelagt gekommen. Sie haben uns überfallen und alle Menschen, bis auf einige bestimmte, getötet: Kinder. Genauer gesagt Mädchen mit hellen Haaren, die ungefähr in meinem Alter waren. Sie haben sie eingefangen und in einen geschlossenen Wagen gesteckt.«
»Aber dich haben sie nicht bekommen?«, fragte Vala. »Das waren nicht Vitsak und seine Kumpanen, oder? Das waren... Garderitter.«
»Ja«, sagte Hilgard. »Das waren Garderitter, die Königin Sunna und mein Vater geschickt haben, um mich zu entführen. Ich habe sie an ihren Schwertern erkannt. Nur Garderitter tragen Schwerter. Die anderen Nordländer kämpfen mit Streitäxten.«
»Warum hätten sie dich entführen sollen?«, wollte Vala wissen. »Was hätte das ihnen gebracht? Deine Mutter war nicht mehr da, also hätten sie sie auch nicht mit deinem Leben erpressen können.«
»Sie dachten, dass ich den Fluch aufheben kann.«
Vala klappte vor Fassungslosigkeit der Mund auf. »Du... du bist...«
»Ja«, antwortete Hilgard. »Ich bin eine Magierin, wie meine Mutter. Helgas Fluch ist mittlerweile im ganzen Nordland bekannt. Alle wissen, dass sie eine Tochter hatte, aber keiner weiß, wie sie genau aussieht. Nur, dass sie blonde Haare hat und ungefähr dreizehn Jahre alt ist. Das ist mein einziger Vorteil. Bisher hat mich niemand erkannt. Sonst wäre ich direkt der Königsfamilie ausgeliefert worden. Doch du hast mich heute dazu gezwungen, mich zu offenbaren.«
»In der Arena...«
»Ich habe den Vorsteher der Arena dazu gebracht, mich mit sich auf die Ehrentribüne zu nehmen. Da war etwas Magie im Spiel. Du hast gesehen, dass mir Blut aus der Nase kam. Das war sehr ungeschickt von mir.« Hilgard seufzte. »Als Shamal auf den Kampfplatz geholt wurde, habe ich den Leuten gesagt, dass ich Helgas Tochter bin. Ich habe ihnen gedroht, denselben Fluch der Unfruchtbarkeit über die gesamte Stadt zu legen, wenn sie Shamal und mich nicht sofort gehen lassen.«
»Das... ist unglaublich«, stotterte Vala. Sie hätte nie gedacht, dass Hilgard ihre Sicherheit aufs Spiel setzten würde, um Shamal oder ihr zu helfen. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich selber offenbaren würde, wer ich in Wirklichkeit bin. Was sie wohl sagen würde, wenn sie wüsste, dass jetzt gerade eine weitere Königstochter vor ihr sitzt. Wobei... Sie hat recht. Sie hat eigentlich kein königliches Blut in sich, weil Borne nie der Sohn eines Königs war.
»Nun weißt du, wer ich bin«, meinte Hilgard und zog sich die Kapuze über den Kopf, sodass ihre weißblonden Haare wieder verborgen waren. »Jetzt können wir nur noch warten.«
»Warten?« Vala sah sie verständnislos an. »Worauf?«
»Darauf, dass wir Borg erreichen, die Hauptstadt des Nordlands und den Sitz der Königsfamilie.«
»Vitsak wird dich Königin Sunna ausliefern...«, begriff Vala.
»Was soll er sonst tun?«, fragte Hilgard und drehte sich zur Seite, sodass ihr Gesicht nicht mehr zu sehen war. »Für meine Auslieferung gibt es bestimmt eine große Belohnung, die er sich auf keinen Fall entgehen lassen kann.«
Vala sank in sich zusammen. Bald werde ich alleine sein. Diesmal endgültig, denn niemals wird die Königsfamilie zulassen, dass Hilgard wieder jemanden mit ihrer Magie rettet. Wenn Shamal doch nur wieder normal werden würde... Sie versank in der grausamen Realität. Ich werde niemanden mehr haben, der mich beschützen kann. Mein restliches Leben werde ich als Sklavin irgendeines adligen Nordländers verbringen. Die aufgerissenen Wunden der Peitschenhiebe brannten wie Feuer auf ihrem Rücken. Ein schrecklicher Vorgeschmack von dem, was auf sie zukommen würde. Die Sonne versank als roter Flammenball im Westen.
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