23. Kapitel
Ein mächtiger Vermittler ist der Tod. Da löschen alle Zornesflammen aus, der Haß versöhnt sich, und das schöne Mitleid neigt sich, ein weinend Schwesterbild, mit sanft anschmiegender Umarmung auf die Urne.
Friedrich Schiller
Die Tage vergingen wie im Flug und bald verkündete Shamal: »Wir sind fast bei der Grenze zum Nordland.« Vala war erleichtert, denn ihre Wasser- und Essenvorräte gingen zu Neige. Dafür war die Wunde des Jungen beinahe verheilt. Nur noch ein bräunlicher Wundschorf erinnerte an den Leoparden, der ihn angefallen hatte. Auch Mlaghai konnte wieder selbstständig gehen. Trotzdem nahmen entweder Shamal oder Vala ihn auf die Arme, wenn er zu erschöpft aussah. Zum Glück waren ihnen keine feindlichen Stammeskrieger mehr begegnet. Mittlerweile hatten sie die Mwitu-Ebene aber schon verlassen.
»Schau mal!« Vala deutete nach vorne, wo sie die Spitzen einiger Hausdächer ausgemacht hatte. »Denkst du, da können wir unsere Vorräte auffüllen, bevor wir das Nordland betreten?«
Shamal überlegte kurz. »Wir haben kein Geld und auch nichts zum Tauschen. Das heißt, wir müssten stehlen.«
Vala verzog gequält das Gesicht, sah aber ein, dass es keine andere Möglichkeit gab, schnell an neuen Proviant zu kommen. Ich habe zwar noch das Magierinnenkleid, doch das wird niemand haben wollen. Es hat nur noch einen Ärmel...
»Ich habe nur... Zuhause mal gestohlen«, gab sie zu. Beinahe wäre ihr das Wort ›Burg‹ herausgerutscht. »Aus der Küche.«
»Das kriegen wir schon irgendwie hin«, munterte Shamal sie auf. Mlaghai fiepte bestätigend.
Sie setzten ihren Weg in der prallen Sonne fort, bis sie am Tor der Stadt ankamen. Es stand weit offen und die Wächter schienen kein Problem damit zu haben, sie einfach durch zu winken. Der Name der Stadt lautete ›Mpaka‹, wie Vala dem Schild entnehmen konnte, das über dem Torbogen angebracht war. Die Häuser waren aus massivem Stein gehauen und um einiges größer als in Kelele. Es waren auch viel mehr Menschen unterwegs, die sich vor bestimmten Gebäuden in großen Gruppen versammelt hatten und eine eklig aussehende Flüssigkeit tranken. Vala stellte fest, dass es hier viel mehr Bleichgesichter gab und die Adligen des Ostlands unterhielten sich sogar mit ihnen. Jedes zweite Gespräch konnte sie jedoch nicht verstehen, weil es in einer ihr fremden Sprache geführt wurde.
»Wo gehen wir hin?«, fragte sie Shamal leise. Der Junge mit seiner ungewöhnlichen Hautfarbe und der nackten Brust zog viele Blicke auf sich.
»Am besten, wir mischen uns erstmal unter die Leute«, schlug er vor, packte seinen Speer fester und ging voraus. Vala folgte ihm so schnell sie konnte und nahm bei der Gelegenheit auch Mlaghai auf die Arme. Der Klippschliefer konnte in dem Gewirr aus Beinen leicht verloren gehen.
Shamal führte sie zu einem der Häuser, vor dem die Gruppen aus Menschen sich versammelt hatten. Vala las ›Nordost-Theke‹ an dem Schild neben der Eingangstür. Drinnen waren noch mehr Menschen – Adlige und Bleichgesichter wild gemischt. Sie saßen an langen oder runden Tischen, lachten laut und viel und prosteten sich mit gefüllten Gläsern zu. Die Flüssigkeit darin spritzte dann meistens in die Höhe oder wurde verschüttet, doch das störte anscheinend niemanden.
An der hinteren Wand waren mehrere große Fässer übereinander gestapelt. Drei von ihnen waren auf die Seite gelegt worden und in ihnen steckte ein Metallhaken, aus dem das ungewöhnliche Getränk floss, wenn man auf ihn drauf drückte. Eine höher gelegene Tischplatte trennte die Fässer von den restlichen Menschen. Doch hinter ihr huschten ein paar Frauen hin und her und füllten die Gläser, die ihnen entgegen gestreckt wurden. Ein Mann reichte die gefüllten Gläser an die Gäste weiter, die ihm dafür mehrere Münzen in die Hand drückten.
»Im rechten Fass ist Wasser«, sagte Shamal und zeigte in die besagte Richtung. »Gib mir deinen Wasserschlauch, dann fülle ich deinen mit auf.«
»Und ich?«, fragte sie. Er wird doch nicht selber das Wasser stehlen wollen!
»Du setzt dich irgendwo hin und verhältst dich unauffällig«, bestimmte er. »Behalte Mlaghai dicht bei dir. Und nimm am besten auch noch meinen Speer und den Proviantbeutel.« Beides drückte er ihr in die Hand, bevor er sich umdrehte und sich langsam in Richtung des Wasserfasses bewegte.
Vala tat, wie ihr geheißen, und quetschte sich zwischen den Leuten hindurch auf der Suche nach einem Sitzplatz. Sie fand einen am Rand eines langen Tisches, an dem vor allem Adlige des Ostlands saßen und sich unterhielten. Dort angekommen ließ sie sich in einiger Entfernung zu den zwei ins Gespräch vertieften Männern nieder. Zu spät bemerkte sie, dass einer von ihnen der Wasserhändler Skauti war.
Verdammter Mist! Schnell drehte sie den Kopf weg und legte Shamals Speer auf den Boden, damit sie nicht so sehr auffiel. Hoffentlich schaut er nicht in meine Richtung und erkennt mich! Ihr blieb nichts anderes übrig, als still sitzen zu bleiben, denn wenn sie jetzt aufstand, würde der Wasserhändler erst recht auf sie aufmerksam werden. Als nichts passierte, beschloss Vala, dem Gespräch zu lauschen, denn die Männer wirkten wegen irgendwas furchtbar aufgeregt.
»Das ist Quatsch, sag ich dir«, behauptete gerade der Mann, der dem Wasserhändler gegenüber saß.
»Aber es ist wahr!«, beharrte Skauti. »Denkst du, ich erkenne einen Strahlenkranken nicht, wenn ich ihn sehe? Und da war eine ganze Horde von ihnen! Mindestens ein Dutzend! Wucherer, Ohneglieder, Blutsauger, Feminine, alles wild durchmischt! Ihr Anführer hatte drei Arme! Kennst du irgendeinen Menschen mit drei Armen, der kein Strahlenkranker ist?«
»Nein. Nein, kenne ich nicht.« Der Mann schien kurz zu überlegen. »Ich kann nur nicht glauben, dass Strahlenkranke einfach so durch die Gegend ziehen können! Sie sind doch hochansteckend! Ich dachte, sie wären schon lange ins Grenzland verbannt worden, um niemandem schaden zu können.«
»Ich kann es mir auch nicht erklären«, entgegnete Skauti. »Aber das beste, Kusafiri, das beste kommt noch!«
»Nun sag schon!«
»Die Strahlenkranken waren auf der Suche nach der Prinzessin.« Die Stimme des Wasserhändlers war zu einem leisen Flüstern geworden.
»Welche Prinzessin?«
»Welche Prinzessin!« Skauti schnaubte. »Natürlich die, die in Ngome angeblich von einer wilden Menschenmenge niedergestochen wurde. Die Tochter von König Witan. Prinzessin Vala.«
»Va...?«
»Sh!«, zischte Skauti den anderen an. »Wer weiß, wer alles zuhört. Jedenfalls, Kusafiri, haben die mich gefragt, ob ich Prinzessin Vala gesehen hätte.«
»Und?«, fragte Kusafiri neugierig. »Hast du?«
»Erstaunlicherweise ja! Ich habe sie genau erkannt. Sie ist ihrer Mutter unglaublich ähnlich und Königin Sybille kennt man ja. Die berühmte Magd, die es geschafft hat, den König in sich zu verlieben. Jetzt rate mal, wo die Prinzessin war?«
»Wo?«
»Beim Pakiti-Stamm!«
»Ist nicht wahr!«
»Doch, doch!«, beharrte Skauti. »Du weißt ja, dass ich den Stämmen der Mwitu-Ebene das erste Wasser bringe, bevor Ujumbe mit den ganz großen Fässern kommt. Und als ich beim Pakiti-Stamm war, habe ich die Prinzessin gesehen. Sie hat nicht mal den Namen gewechselt. Wie sie wohl dahin gekommen ist? Ich hatte den Eindruck, dass sie von der Ältesten des Pakiti-Stammes adoptiert worden ist oder sowas.«
»Und die Strahlenkranken?«, wollte Kusafiri wissen.
»Was sollte mit denen sein?«
»Hast du ihnen gesagt, wo die Prinzessin ist?«
»Was denkst du denn? Sie haben mir gedroht, mich zu berühren! Und ich möchte nicht als Strahlenkranker sterben! Ich mag meine Arbeit.«
Vala musste sich zusammenreißen, um nicht zu zittern. Sie war davon ausgegangen, dass Skauti zu ihrem Onkel gehen und sie dort verraten würde. Aber warum machten jetzt plötzlich Strahlenkranke Jagd auf sie? Gehören sie zu Onkel? Hat er sie statt den Garderittern nach mir geschickt? Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Die Strahlenkranken werden zum Pakiti-Stamm reisen. Sie werden alle anstecken! Ajali, Shaki, alle! Was habe ich bloß angerichtet!
»Ah, Ujumbe!«, rief Kusafiri auf einmal fröhlich. »Endlich bist du auch da! du hast so einiges verpasst! Du musst dir anhören, was Skauti zu erzählen hat! Das ist unglaublich!«
»Ich fürchte, was ich zu erzählen habe, ist noch unglaublicher«, ertönte die tiefe Stimme eines weiteren Mannes. Die Bank, auf der alle saßen, zitterte leicht, als der Neuankömmling sich neben seinen Freunden niederließ.
»Noch unglaublicher?«, hakte Kusafiri nach. »Dann musst du aber wirklich was erlebt haben, mein Freund.«
»Was erlebt? Oh ja!« Ujumbes Stimme zitterte leicht. »Darf ich mich an einem eurer Biere bedienen? Ich muss mich erstmal etwas beruhigen.« Ein Glas wurde über den Tisch zu ihm hingeschoben. Nach einiger Zeit der Stille sagte er: »Der Pakiti-Stamm existiert nicht mehr.«
Vala erstarrte. Ihr Atem stockte und ihre Hände verkrampften sich um Mlaghai, der sie schließlich in den Finger beißen musste, damit sie ihn losließ. Der Klippschliefer sprang von ihrem Schoß und rollte sich zu ihren Füßen zusammen.
»Was?«, fragten Skauti und Kusafiri gleichzeitig mit einer Fassungslosigkeit, die Vala gerade ebenfalls fühlte. Sie wollte am liebsten schreien.
»Ich komme ja immer nach dir zu den Stämmen«, sagte Ujumbe, offensichtlich an Skauti gewandt. »Bei den ersten Stämmen lief alles gut, aber als ich ins Pakiti-Territorium kam...« Er verstummte für kurze Zeit. »Ich konnte schon von Weitem sehen, dass das Lager vollkommen zerstört war. Die Zelte waren niedergerissen, einige abgebrannt und...«
»Und die Menschen?«, wollte Skauti wissen. »Was ist mit Ajali, der Ältesten, und all den anderen?«
»Tot.« Ujumbes Stimme war ein heiseres Krächzen. »Alle tot. Einige grausam verstümmelt. Ajali... Man hat sie schrecklich misshandelt. Überall war Blut. Nicht nur Menschenblut. Die Seelentiere wurden alle abgeschlachtet wie gewöhnliches Bauernvieh. Sie müssen so viele Schmerzen gelitten haben...«
»Was habe ich bloß getan«, wisperte Skauti. »Bei meiner Seele, was habe ich nur angerichtet!«
»Du weißt, wer es gewesen ist?«
»Natürlich weiß ich das!«, herrschte der Wasserhändler Ujumbe an. »Es waren Strahlenkranke!« Die Bank erzitterte, als er aufstand. »Lasst uns gehen. Mir ist das alles nicht geheuer!«
»Strahlenkranke? Aber...«
»Komm, Ujumbe, wir erzählen es dir draußen.«
Vala wartete stocksteif, bis die drei Männer aufgestanden waren und die ›Nordost-Theke‹ verlassen hatten. Sie versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten so gut es ging. Keine Aufmerksamkeit erregen, redete sie sich ein. Unauffällig bleiben, unauffällig bleiben, unauffällig...
»Vala!« Wie aus dem Nichts tauchte Shamal vor ihr auf. Sie hätte ihn beinahe nicht erkannt, denn er hatte seine Stammeshose gegen eine andere getauscht und trug nun auch ein Oberteil, das seine nackte Brust bedeckte. In den Händen hielt er die zwei Wasserschläuche und ein dunkles Wollkleid, das offenbar für sie bestimmt war. Er bemerkte nicht, wie aufgewühlt sie war, hob den Speer vom Boden auf, nahm seinen Proviantbeutel und hielt ihr auffordernd die Hand hin. »Verschwinden wir schnell, bevor jemand bemerkt, dass ein paar Kleidungssachen sich in Nichts aufgelöst haben.«
Wortlos ergriff sie seine Hand und folgte ihm aus dem Haus hinaus nach draußen. Während er sie durch die Straßen der Stadt führte, befand sie sich in einer Art geschockter Trance. Wie viele Menschen sind jetzt schon wegen mir gestorben? Wie viele? Zu viele! Warum tut Onkel mir das an? Ich sollte mich ihm einfach stellen. Aber sind diese Menschen dann nicht umsonst gestorben? Shamal blieb vor einem Gebäude stehen, das nach einem verlassenen Stall aussah. Soll ich es ihm sagen? Soll ich ihm sagen, dass seine Mutter, seine Familie, sein ganzer Stamm ausgelöscht worden ist? Wegen mir? Nein... Er wird mich hassen, weil ich von der Gefahr gewusst, ihm aber nichts erzählt habe. Aber irgendwann wird er es erfahren. Wenn der richtige Augenblick gekommen ist.
»Hier können wir bestimmt übernachten«, drang Shamals Stimme zu ihr hindurch. »Das Gebäude scheint niemandem zu gehören.«
»Ja«, murmelte Vala. »Bestimmt können wir da übernachten.«
Der Junge ging auf die metallene Tür zu, stieß sie auf und sah hinein, den Speer fest in der Hand. Mlaghai sprang an seine Seite, schnüffelte und gab dann ein leises Fiepen von sich. »Scheint ungefährlich zu sein. Geh du zuerst rein und zieh das neue Kleid an. Das ist weniger auffällig als das, das Mutter dir gegeben hat.«
Vala nickte wortlos und wollte schon den Stall betreten, als Shamal sie am Unterarm festhielt. Er schaute ihr besorgt in die Augen. »Ist alles in Ordnung? Du wirkst irgendwie... traurig. Und bedrückt. Ist etwas passiert, während ich weg war?«
Sie zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. Darin hatte sie Übung. Wie oft hatte sie das am Hof schon machen müssen? »Alles gut. Ich bin nur müde.«
»Dann bin ich ja beruhigt.« Shamal lächelte zurück. »Wir werden diese Nacht das erste Mal auf etwas Weicherem als auf Sand schlafen. Da drin gibt es Stroh.«
Vala fühlte sich unwillkürlich an den Stall erinnert, in dem sie zu sich gekommen war, nachdem Serval sie vor den Garderittern gerettet hatte. So viel ist seitdem passiert, dachte sie. So viel Schlimmes.
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