21. Kapitel
Wenn du ein fairer Jäger sein willst, so gib dem Hasen auch ein Gewehr.
Griechisches Sprichwort
Vala, Shamal und Mlaghai warteten den Rest der Nacht in einem riesigen Wrack im Norden des Pakiti-Territoriums ab und wechselten sich ab mit der Wache. Ihr Versteck war gut gewählt. Keine der Wachen, zu denen auch Shaki gehörte, ließ sich blicken. Als die ersten Strahlen der Sonne über der Klippe erschienen, die Vala einst runtergefallen war, waren die beiden unglaublich müde.
»Aber wir müssen jetzt schnell das Territorium meines Stammes verlassen«, sagte Shamal und gähnte. Auch Mlaghai riss das Maul auf und zeigte seine spitzen Nagezähne. »Sobald meine Mutter im Lager ist und bemerkt, dass wir nicht da sind, wird sie sofort Suchtrupps losschicken.«
»Du bist dir sicher, dass du mit mir gehen möchtest?«, vergewisserte Vala sich. »Du begibst dich in große Gefahr.«
»Du doch auch«, entgegnete der Junge entschlossen. »Wir sollten zusammenhalten. Dann kann uns nicht so viel geschehen.«
Nicht so viel geschehen, dachte sie und musste vor Heiterkeit fast auflachen. Das habe ich vor einiger Zeit in Burg Fedha auch noch geglaubt...
»Lass uns aufbrechen«, bestimmte Shamal und nahm seinen Beutel und den Speer seiner Mutter auf. Mlaghai kletterte voraus, über den Geröllhaufen, der bis letzte Nacht noch den Eingang zum Wrack versperrt hatte. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie die seltsam geformten Steine so weit beiseite geschoben hatten, dass sie ins Innere konnten. Früher musste das Wrack wohl eines dieser ›Schiffe‹ gewesen sein, die über die Ozeane gefahren waren. Es war viel größer als sie es sich vorgestellt hatte und bestand vollständig aus grauem Metall. Es schien irgendwie besonders zu sein, denn nicht mal ein Hauch von Rost war zu sehen.
Als Vala zu Shamal nach draußen kletterte, drehte sie sich nochmal zu dem Wrack um. Es sah irgendwie traurig aus. An einem Ende des verfallenen Schiffes schien etwas im Licht der aufgehenden Sonne zu schimmern. Sie kniff die Augen zusammen und entzifferte zu ihrem Erstaunen Buchstaben und drei Wörter, die in das Metall eingekerbt waren. Jeder Buchstabe musste so groß wie ein ausgewachsener Mensch sein. ›Thousand Suns‹ stand dort geschrieben. Was das wohl bedeutet?
»In welche Richtung gehen wir?«, riss Shamal sie aus ihren Gedanken.
Sie drehte sich zu ihm um. »Welches Land ist uns am nächsten?«
Der Junge überlegte kurz und antwortete: »Das Südland und das Nordland sind ungefähr gleich weit von uns entfernt.«
»Wir gehen ins Nordland«, beschloss Vala kurzerhand. Ich möchte Serval nicht begegnen und er ist mit Mascha, Nikolai und allen anderen bestimmt immer noch in Richtung Süden unterwegs.
Shamal wirkte nur für einen kurzen Augenblick überrascht, raffte sich jedoch schnell wieder zusammen und nickte. »Dann ins Nordland.«
Sie entfernten sich immer weiter von dem Wrack, das ihnen bis vor Kurzem noch Schatten gespendet hatte. Vala hatte fast vergessen, wie es sich anfühlte, unter der prallen Sonne zu reisen. Ihre schwarzen Haare heizten sich auf und auch ihre Haut schien nach einer Stunde schon fast zu brennen. Die Müdigkeit machte es nicht besser. Shamal hingegen war diese Hitze anscheinend gewöhnt. Er ging munter voran, sprang manchmal sogar zusammen mit Mlaghai herum, um mit ihm zu spielen. Sie wollte nicht schwach aussehen und kämpfte sich deshalb weiter. Schritt für Schritt. Ohne Pause. Nach einer weiteren Stunde Marsch wurde Shamal langsamer und blieb schließlich ganz stehen.
Vala schleppte sich bis zu ihm, brachte ihren Atem unter Kontrolle und fragte: »Was ist los?«
Der Junge deutete auf einen grauen Stein, der in einiger Entfernung im rötlichen Sand stand. »Das ist ein Grenzstein«, erklärte er. »Einer von denen, die meine Mutter gestern Abend erwähnt hat. Wenn wir jetzt weitergehen, betreten wir das Territorium des Adui-Stammes.«
Sie verstand das Problem. Wenn sie jetzt das Territorium dieses Stammes betraten, konnte das als Provokation angesehen werden. Wollte sie das riskieren? »Gibt es einen anderen Weg? Irgendwie... außen rum?«
»Wir könnten einen Umweg machen und durch das Dunia-Territorium gehen«, schlug Shamal vor. »Ajali hat mit der Ältesten des Dunia-Stammes vor einiger Zeit einen Frieden ausgehandelt, der es uns erlaubt, im Notfall ihr Territorium zu durchqueren. Aber das würde uns mehrere Tage kosten.«
»War das Dunia-Territorium nicht weiter im Osten?«, erinnerte Vala sich. Näher an Ngome. Näher an Onkel und seinen Garderittern. Am Ende laufen wir ihnen noch in die Arme...
Shamal schien ihr Widerstreben zu bemerken, denn er stieß den Speer mehrmals in den Sand und hob ihn dann zum Himmel hoch. »Möge die Seele der Mutter Erde uns verzeihen«, murmelte er. Entschlossen tat er einen Schritt über die Grenze und sah sich um als würde er befürchten, dass gleich ein feindlicher Stammeskrieger hervorspringen und ihn angreifen würde. Aber da war niemand. Shamal war die Erleichterung anzusehen. Auffordernd winkte er Vala hinter sich her und ging weiter, hinter Mlaghai her. Der Klippschliefer war schon etwas voraus gesprungen.
Nach einer geschätzten halben Stunde auf dem Adui-Territorium entspannten sie sich allmählich. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Die Luft flimmerte leicht in der Hitze. Mittlerweile schienen auch Shamal die Kräfte zu verlassen. Nach einiger Zeit legten sie eine Pause ein, tranken einen Schluck Wasser und machten sich wieder auf den Weg. Ab und zu warf Vala einen Blick nach Westen in der Hoffnung, den Urberg zu sehen, doch bisher war da nichts. An diesem Berg trafen sich jedes Jahr die Könige der vier Länder, um über wichtige Dinge zu beraten. Allerdings hatte ihr Onkel sie nie dorthin mit genommen. Die einzige, die dort gewesen war, war Broda. Und die hatte Vala nichts über ihre Erlebnisse am Urberg erzählt...
»Da ist jemand«, sagte Shamal plötzlich. Die Sorge in seiner Stimme war unüberhörbar. Er deutete auf einen dunklen Fleck, der immer größer wurde. »Adui-Krieger, schätze ich.«
»Was machen wir jetzt?« Vala wagte nicht, sich vorzustellen, in welche Schwierigkeiten der Pakiti-Stamm geraten könnte, wenn sie jetzt falsch reagierten.
»Fliehen können wir nicht«, legte der Junge fest. »Sie würden uns verfolgen. Wir müssen uns stellen und ihnen sagen, dass wir nur auf der Durchreise sind. Vielleicht lassen sie uns dann gehen.«
»In Ordnung.«
Mit jedem Schritt, den die Krieger näher kamen, verschlechterte sich Valas Gefühl. Es waren insgesamt drei. Der vorderste war eine Frau, die eine ähnliche Gesichtsbemalung wie Shaki hatte – eine rote Maske. Allerdings trug sie kein Kleid, sondern einen Rock und ein ledernes Oberteil, das ihren Bauch frei ließ. An ihrer rechten Schulter prangten – kaum von den schulterlangen Haaren verdeckt – drei wulstige Narben, die anscheinend von einem Tier mit langen Krallen stammten. An ihrer Seite trabte ein katzenartiges Wesen, wahrscheinlich ihr Seelentier, mit schwarzen Flecken. Hinter ihr gingen zwei Männer. Beide sahen fast gleich aus mit dem einzigen Unterschied, dass dem einen ein Auge fehlte. Um den Hals des Einäugigen wand sich eine Schlange mit schillernden, braunen und schwarzen Schuppen. Der andere hatte offenbar kein Seelentier.
»Wer seid ihr und was habt ihr auf Adui-Territorium zu suchen?«, fragte die Frau, als sie bei ihnen angekommen war. Sie stieß die stumpfe Spitze ihres Speeres auf den Boden. Vala gefiel nicht, wie die gefleckte Katze Mlaghai beobachtete, aber zum Glück versteckte der Klippschliefer sich hinter Shamals Beinen.
»Wir sind nur auf Durchreise«, erklärte der Junge freundlich. »Unser Ziel ist das Nordland. Dafür müssen wir leider durch dieses Territorium. Wir versprechen, dass wir kein Wild jagen. Unser Proviant ist in diesen Beuteln.« Er deutete auf ihr einziges Gepäck.
»Es sind Pakiti-Kinder«, meldete der Einäugige sich zu Wort. »Bestimmt sind es Spione. Du kannst sie nicht durch unser Territorium lassen, Mwindaji! Wenn sie...«
Die Frau hob herrisch eine Hand, worauf der Mann sofort verstummte. Sie musterte Shamal nachdenklich. Dann wanderte ihr Blick zu Vala, die unter diesen schwarzen Augen zusammenzuckte. Sie waren fast so dunkel wie die ihres Onkels.
»Du gehörst auch zum Pakiti-Stamm?«, fragte die Frau skeptisch. »Warum ist deine Haut dann so dunkel?«
Vala spannte sich an. Daran habe ich nicht gedacht! Hilfesuchend sah sie zu Shamal, der allerdings ebenso verzweifelt aussah. Wenn sie zugab, dass sie aus einer Stadt kam und eigentlich gar nicht zum Pakiti-Stamm gehörte, was würde dann passieren? Die Stämme der Mwitu-Ebene schienen von Stadtmenschen ja nicht viel zu halten.
»Nun?« Die Miene der Frau verfinsterte sich. Ihr Stimme wurde lauter. »Bist du einer dieser verachtenswerten Stadtmenschen?«
»Was? Nein!«
»Eine von denen, die Mutter Erde immer noch nicht achten und sie weiter vergiften! Die weiterhin Krieg statt Frieden säen! Und der Pakiti-Stamm hat dich aufgenommen? Hat Ajali vergessen, was im Nyoka-Stamm passiert ist?«, schrie die Kriegerin und richtete die Spitze ihres Speeres auf Valas Brust. »Nenne mir einen Grund, warum ich dich nicht töten sollte!« Die Katze an ihrer Seite zog die Lefzen zurück und knurrte.
»Wartet!« Shamal riss Vala zurück und stellte sich schützend vor sie. »Das ist alles ein Missverständnis! Sie ist kein richtiger Stadtmensch. Ihr Großvater war einer.«
»Ausreden!«, blaffte der Einäugige. »Du redest schon viel zu lange mit ihnen, Mwindaji! Bereite dem ein Ende!«
Die Frau nickte grimmig und stieß mit ihrem Speer vor. Shamal schaffte es gerade noch, der Spitze auszuweichen, indem er zur Seite sprang und Vala mitnahm. »Lauf!«, rief er ihr zu und schubste sie nach vorne. Vala ließ sich das nicht zwei Mal sagen. Sie raffte die Enden ihres Kleides auf und rannte los. Hinter ihr hörte sie die drei Adui-Krieger fluchen. Mit einem schnellen Blick vergewisserte sie sich, dass Shamal ihr folgte, doch das war nicht das einzige, was sie erblickte: Die Frau strich ihrer gefleckten Katze über den Kopf und flüsterte ihr etwas ins Ohr, woraufhin das Tier in großen Sätzen hinter ihnen her hetzte.
»Pass auf!«, schrie Vala Shamal zu und stolperte dabei beinahe über ihre eigenen Füße. Der Junge hatte es ebenfalls gesehen. Er blieb kurz stehen, um Mlaghai auf die Arme zu nehmen, der sonst nicht mit ihnen mithalten konnte. Das war ein Fehler. Die große Katze war unglaublich schnell und hatte eine Sprungkraft, die Vala bisher noch bei keinem Tier gesehen hatte. Aus mehreren Schritt Entfernung sprang sie in die Luft und landete auf Shamal und Mlaghai. Der Junge ging unter dem Gewicht des Angreifers zu Boden.
Vala kreischte entsetzt auf, blieb stehen und rannte zu ihrem Freund. Dabei fuchtelte sie wild mit den Armen in der Luft herum in der Hoffnung, die Katze zu vertreiben. Sie spürte, wie ihr vor Verzweiflung Tränen in die Augen traten. Sie sah schon Shamal in einer roten Blutlache liegen, daneben Mlaghai, und über beiden das gefleckte Tier mit gebleckten Zähnen und ausgefahrenen Krallen. Der Junge schrie vor Schmerzen, doch plötzlich ließ die Katze von ihm ab und stolperte zurück. Vala hörte ein gequältes Kreischen aus der Richtung, wo die Adui-Krieger standen und stellte fest, dass die Frau von den zwei Männern festgehalten wurde, damit sie nicht zu Boden sank.
»Hakimu! Hakimu, komm zurück!«, rief sie, woraufhin die Katze in großen Sätzen zurück zu seiner Besitzerin eilte. Ein Rinnsal aus rotem Blut floss aus der Schulter des Tieres.
Sofort stolperte Vala zu Shamal und ließ sich neben ihn fallen. Der Junge hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht das rechte Bein, in dem vier rote Fleischwunden zusehen waren. Vermutlich von den scharfen Katzenkrallen. Ansonsten schien er bis auf ein paar oberflächliche Kratzer unversehrt und auch Mlaghai war mit einem Schrecken davon gekommen. Ihr Blick fiel auf den Dolch, dessen Spitze nun blutgetränkt war.
»Der Dolch hat dich gerettet«, seufzte Vala erleichtert.
Shamal lächelte gequält. »Zum Glück habe ich ihn überhaupt mitgenommen. Sonst wäre ich jetzt Leopardenfutter.«
Ein Leopard also, dachte Vala, während sie versuchte, einen Stofffetzen von ihrem Kleid zu reißen, um Shamals Wunde damit zu verbinden. Dann fiel ihr das Magierinnenkleid ein. Schnell holte sie es heraus, riss einen Ärmel an der Naht ab und legte ihn bereit. Als sie die Wunden mit etwas Wasser auswusch, verzog Shamal das Gesicht. »Das muss sein«, sagte sie und dankte in Gedanken die alte Jenny für ihre Gruselgeschichten über Blutvergiftungen. Dann legte sie den Ärmel des Magierinnenkleids darüber und knotete ihn fest, weswegen Shamal erneut gequält stöhnte.
»Denkst du, du kannst gehen?«, fragte sie ihn vorsichtig. »Wir dürfen nicht zu lange auf Adui-Territorium bleiben. Vielleicht kommt diese Frau, Mwindaji, später wieder.«
»Sie wird garantiert wiedergekommen«, stöhnte Shamal. »Ich habe ihr Seelentier verletzt. Das ist verboten. Wir müssen so schnell wie möglich von hier verschwinden. Hilf mir auf. Dann kann ich mich auf den Speer stützen und wir gehen weiter.«
Vala bot ihm ihre Schulter an, bis er wieder aufrecht stehen konnte. Er versuchte, sein verletztes Bein zu belasten, sog kurz scharf die Luft ein, belastete es dann aber vollends.
»Geht schon«, sagte Shamal, stützte sich auf seinen Speer und humpelte los. Vala folgte ihm leicht besorgt. Beim geringsten Anzeichen, dass die Schmerzen Überhand nahmen, würde sie darauf drängen, eine Pause einzulegen. Sie bemerkte, dass auch Mlaghai leicht humpelte. Nach einiger Zeit, nahm sie den Klippschliefer einfach in die Arme und trug ihn. Er schien zwar nicht verletzt, doch Shamal nickte ihr dankbar zu.
Die Bindung zwischen den Stammesmenschen und ihren Seelentieren ist wirklich stark, dachte sie, während sie Mlaghais weiches Fell streichelte. Ich möchte gar nicht daran denken, welchen Schmerz Haramus spüren müssen, wenn ihr Seelentier getötet wird. Seltsamerweise spürte sie einen Funken Mitleid für Serval, der jedoch schnell wieder erlosch.
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