16. Kapitel
Wozu brauchen wir die Zeit? Damals, in den alten Tagen, brauchten wir sie nicht. Wir richteten uns nach Anfang und Untergang der Sonne. Wir mussten uns niemals beeilen. Wir brauchten nie auf die Uhr zu blicken. Wir mussten nicht zu einer bestimmten Zeit bei der Arbeit sein. Wir taten, was getan werden musste, wenn uns danach war. Aber wir achteten darauf, es zu tun, bevor der Tag zu Ende ging. Wir hatten mehr Zeit, denn der Tag war noch ganz.
Scott Eagle
Leises Gemurmel weckte Vala. Sie öffnete die Augen und setzte sich auf, was ihr nun auch ohne Probleme gelang. Während sie geschlafen hatte, musste sie jemand mit einem Tierfell zugedeckt haben, denn nun rutschte es von ihrem Körper runter. Sie erinnerte sich an die Stimmen, die sie gehört hatte und lauschte, doch da war nichts mehr. Gerade wollte sie aufstehen, als eine Seite des Zeltes zur Seite geschoben wurde und Ajali eintrat.
»Wer war das draußen?«, wollte Vala wissen. Misstrauen machte sich in ihr breit. Einer von Miros Garderittern? Möchte sie mich an ihn verkaufen? Dabei war sie doch so nett...
»Ich habe nur mit meiner Tochter Shaki gesprochen. Ich habe vorgeschlagen, dass du uns beim heutigen Abendfeuer Gesellschaft leistest. Sie ist zwar dagegen, aber sie muss meine Entscheidung akzeptieren.«
»Was ist ein Abendfeuer?«
Ajali hielt die Zeltwand zur Seite und zeigte einladend nach draußen. »Sieh selbst.«
Vala erhob sich auf die Füße, schwankte leicht und breitete schnell ihre Arme aus, um nicht hinzufallen. Dann verließ sie das Zelt und staunte angesichts der vielen Menschen, die sich um ein riesiges Feuer versammelt hatten, das auf einer freien Fläche zwischen den unzähligen Zelten brannte. Die Flammen flüsterten und zischten und züngelten hoch in den Himmel, der allmählich immer dunkler wurde. So ein großes Feuer hatte sie noch nie gesehen. Von Ehrfurcht ergriffen wich sie ein paar Schritte zurück und stolperte fast, weil das Magierinnenkleid, das sie immer noch trug, sich um ihre Beine wickelte.
»Vorsicht«, hörte sie Ajali sagen. Die alte Frau hielt sie an den Schultern fest und führte sie näher zum Feuer heran. Die fremden Menschen, die alle dieselbe ungewöhnliche Hautfarbe wie Ajali hatten, schauten sie teils überrascht und teils neugierig an. Erstaunlicherweise wirkte keiner von ihnen verärgert oder feindselig. Vala bemerkte, dass einige der Menschen von einem Tier begleitet wurden. Einem richtigen Tier, keinem mutierten. Ein Mann hatte eine Art kleinen Geier auf seiner Schulter sitzen, eine Frau streichelte das Fell eines Kaninchens. Es waren auch viele Tiere dabei, die sie noch nie gesehen hatte. Einige der Menschen hatten sich seltsame Zeichen auf die Haut gemalt, doch das auffälligste waren die Federn, die jeder der Erwachsenen in irgendeiner Form an sich hatte. Sie mussten wohl von besonderer Bedeutung sein.
»Setz dich hier hin«, flüsterte Ajali ihr zu und zeigte auf einen freien Platz zwischen ein paar Kindern ihres Alters. Vala tat, wie ihr geheißen und schaute der alten Frau hinterher, die zurück zu ihrem Zelt ging.
»Wie heißt du?«, fragte auf einmal der Junge, der rechts von ihr saß. Er hatte kurze, schwarze Haare, die ihm wirr vom Kopf abstanden. Um seinen Hals hing eine Kette, an der zwei Federn befestigt waren, eine davon war nur noch zur Hälfte vorhanden. Sein Oberkörper war nackt – er trug nur eine Stoffhose und Schuhe aus demselben Material. Mit einer Hand streichelte er ein seltsames Tier, das wie ein lebendig gewordener Stein aussah, aber unglaublich weiches Fell haben musste. Er schien das einzige Kind zu sein, das ein Tier bei sich hatte.
»Vala«, stellte sie sich vor. »Und du?«
»Shamal.« Der Junge streckte ihr eine Hand hin, in die sie einschlug. »Bist du ein Stadtmensch?«
»Ich war einer«, antwortete Vala und kam nicht umhin, den Blick immer wieder auf das seltsame Tier des Jungen zu richten. »Ajali hat gesagt, dass ich jetzt hier bleiben kann.«
»Toll!« Auf Shamals Gesicht breitete sich ein schelmisches Grinsen aus, das jedoch schnell wieder erlosch. »Schade, dass Stadtmenschen keine Seelentiere haben, sonst könnte Mlaghai mit deinem spielen, wenn es zu dir gefunden hätte. Er ist so einsam. Bisher hat keiner meiner Freunde sein Seelentier gefunden.« Das Tier an seiner Seite gab ein zustimmendes Fiepen von sich. »Mlaghai ist ein Klippschliefer. Er ist richtig kuschelig. Möchtest du mal?«
»Ich weiß nicht, ob...«
Er ließ sie nicht aussprechen, sondern nahm das seltsame Tier auf und legte es ihr in den Schoß. Mlaghai hob die kurze Schnauze und schnüffelte ihr Gesicht ab, bevor er sich einfach hinlegte. Vorsichtig streckte Vala die Hand aus und berührte sein Fell. Es war noch weicher als sie es sich vorgestellt hatte. Sie verlor sich im Streicheln des Klippschliefers und den Gedanken an Burg Fedha. Zami hatte sich zu ihrem fünften Geburtstag ein Haustier gewünscht, mit dem sie kuscheln und die Burg erkunden konnte, aber Miro hatte es nicht erlaubt. Nun würde sie nie mehr ein Haustier bekommen. Weil sie tot war. Meine Schuld...
»Es fängt an!«, riss Shamal sie aus ihren Erinnerungen. Mlaghai schreckte auf, als sie mit dem Streicheln aufhörte und sprang zu seinem Besitzer zurück.
Vala schaute auf, um zu sehen, was denn jetzt überhaupt anfing. Das Feuer schien nun noch heller zu lodern als vorher, aber das lag nur daran, dass der Himmel sich noch weiter verdunkelt hatte. Sie stellte fest, dass alle Menschen ihre Augen auf Ajalis Zelt gerichtet hatten, dessen eine Wand nun zur Seite geschoben wurde. Heraus trat die alte Frau, aber Vala erkannte sie kaum wieder.
Sie hatte sich nun eine regelrechte Krone aus Federn aufgesetzt, die in zwei Enden auslief. Sie hingen bis zu ihren Hüften hinunter und sogar noch weiter. Die Spitzen der Federn waren schwarz gefärbt. Über Ajalis Gesicht liefen blaue Linien, die sie irgendwie wie ein Wesen von einer anderen Welt aussehen ließen. Auch ihr Gewand hatte sie gewechselt. Es war nun eine fast schon majestätische Robe mit vielen funkelnden Steinen, Metallstücken und weiteren Federn. Die Tonperlenketten um ihren Hals schienen sich vermehrt zu haben. In ihren Händen hielt sie eine Handtrommel und einen Schlägel. Als sie beides zum Himmel hob, verstummten die Gespräche um das Feuer abrupt. Selbst Vala wagte nicht, zu atmen.
Ein einzelner Trommelschlag durchschnitt die Stille. Ajalis Tonperlenketten klackerten leise. Das Feuer zischte und fauchte. Ein weiterer Trommelschlag. Schneller und immer schneller schlug die alte Frau nun mit dem Schlägel gegen das gespannte Fell. Bald hörte Vala einen Rhythmus heraus, den sie tief in ihren Knochen spürte. Plötzlich setzte ein leises Summen ein, das von allen versammelten Menschen zu kommen schien. Sogar Shamal neben ihr stimmte mit ein, aber sie selbst traute sich nicht.
Auf einmal fing Ajali an, mit voller Stimme etwas zu singen. Vala verstand kein Wort, aber es hörte sich schön und traurig zugleich an. Die versammelten Menschen antworteten ihr im Chor und wiegten sich sachte hin und her. Die alte Frau sang weiter, vermutlich ein weiterer Vers und auch er wurde von den anderen wiederholt.
Während Ajali weiter trommelte, standen einige der Versammelten auf, wenn sie nicht schon gestanden hatten, fassten sich bei den Händen und stellten sich in einem Kreis um das Feuer auf. Sie waren ebenfalls bemalt und die Männer hatten nackte Oberkörper. An einigen schimmerten helle Narben auf der dunklen Haut. Nun fingen die Menschen an, zu tanzen. Sie sprangen hin und her, wirbelten um die eigene Achse und riefen Worte, die sie nicht verstand. Die anwesenden Seelentiere schlossen sich ihren Besitzern an oder spielten miteinander. Auch Shamal stand auf und gesellte sich zu den Tanzenden. Bald darauf war Vala alleine.
Soll ich auch hingehen? Besser nicht. Das scheint irgendeine seltsame Tradition zu sein. Vielleicht würde ich sie verärgern, wenn ich mittanze. Also blieb sie sitzen und beobachtete das Geschehen fasziniert. Es war schon mitten in der Nacht, als das Feuer fast niedergebrannt war und Männer mit nassen Tüchern herbeieilten, um die letzte Glut zu löschen. Vala erwartete, dass Ajali zu ihr kam, um sie wieder zu sich ins Zelt zu holen, aber stattdessen kam eine andere Frau auf sie zu. Ihre schwarzen Haare waren kurz geschnitten, fast so wie die von Vala. Sie hatte ein buntes Stirnband um ihren Kopf geschlungen, an dem eine weiße Feder mit einem roten Fleck auf und ab wippte. Auch sie hatte ihr Gesicht angemalt – eine rote Maske zog sich über ihre Augen. An ihrer Seite trabte ein katzenartiges Tier, das aber viel zu groß für eine echte Katze war. Es hatte auffällig spitze Ohren mit Haarbüscheln dran.
»Komm, du kannst heute in unserem Zelt schlafen. Ich bin Shaki, Ajalis Tochter«, sagte die Frau und streckte ihr die Hand hin, um ihr beim Aufstehen zu helfen.
»Warum nicht in Ajalis Zelt?«, fragte Vala etwas zerknirscht. Sie hat gesagt, dass ihre Tochter dagegen war, dass ich beim Abendfeuer dabei bin. Warum sollte sie mich jetzt bei sich haben wollen?
»Sie ist müde«, erklärte Shaki. »Wir wollen sie nicht stören.«
Widerwillig ging Vala mit der Frau, wobei sie versuchte, so viel Abstand wie möglich zwischen sich und der Katze zu haben. Sie sah wirklich gefährlich aus und leckte sich auch immer wieder übers Maul. Shaki brachte sie zu einem Zelt, das etwas kleiner als das von Ajali war, aber dennoch groß genug, damit mindestens vier Personen Platz darin fanden. Zu ihrer Überraschung wartete dort auch Shamal, der Junge vom Abendfeuer, mit seinem Klippschliefer.
»Vala!«, rief er fröhlich. »Ich hab dir schon dein Lager vorbereitet!« Er deutete gut gelaunt auf einen Haufen Tierfelle.
»Danke.« Sie lächelte und ging nach einem Blick auf die seltsame Katze dort hin, um es sich gemütlich zu machen. Der Junge grinste sie noch einmal an und verkroch sich dann unter seiner eigenen Decke. Mlaghai schmiegte sich an seine Armbeuge. Die Frau, Shaki, schloss den Eingang des Zeltes, indem sie ein paar Fäden durch den Stoff zog und verknotete. Danach strich sie ihrem Seelentier über den Kopf und legte sich gegenüber von Vala auf ihr eigenes Lager. Die große Katze ließ sich neben ihr nieder, beobachtete die Umgebung aber voller Wachsamkeit. Vala fand das unheimlich. Schnell schloss sie die Augen, um dem stechenden Blick zu entkommen.
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