15. Kapitel
Alle Tiere haben Mächte in sich, denn der große Geist wohnt in allen, auch in der kleinen Ameise, in einem Schmetterling, Auch in einem Baum, in einer Blume und in einem Felsen.
Petaga Yuha Mani
Als Vala wieder zu sich kam, war es Tag, aber keine Sonne schien ihr in die Augen und blendete sie. Ihr Kopf schmerzte und pochte wie verrückt. Mehrmals musste sie blinzeln, bis ihr Blick sich halbwegs geklärt hatte. Dann erst konnte sie sich umsehen. Ich bin nicht mehr am Rand des steilen Hangs, begriff sie. Jemand muss mich gefunden und irgendwo hin gebracht haben. Aber wohin?
Ohne sich aufzusetzen inspizierte Vala ihre Umgebung. Sie befand sich anscheinend in einer Art Gebäude aus Stoffwänden, dessen Decke von mehreren Metallstangen oben gehalten wurde. Die Stangen waren mit Querbalken verbunden, von denen allerlei Beutel und Netze mit Sachen hingen, die sie nicht recht erkennen konnte. In der Mitte der Decke war ein großes Loch – fast wie im Wagen der Zirkusleute –, durch das helles Tageslicht fiel.
Auf einmal bewegte sich eine der Stoffwände und wurde zurückgeschlagen. Herein trat eine alte Frau mit langen, weißen Haaren. Sie war kein Bleichgesicht, aber ihre Haut war auch nicht so dunkel wie die von Vala. Um ihren Hals hingen unzählige Ketten aus Tonperlen, die bei jeder Bewegung leise klackerten.
»Du bist wach.« Die alte Frau lächelte ihr milde zu und ließ sich schwerfällig neben ihr auf dem Boden nieder. Sie griff nach einer Schüssel mit einer dickflüssigen Paste darin und begann, sie auf Valas Schläfe zu verteilen. Es brannte leicht.
»Wo bin ich?«, fragte Vala vorsichtig. Bitte lass es nicht in der Nähe von Ngome sein.
»Beim Pakiti-Stamm«, antwortete die alte Frau und fügte bei dem ratlosen Gesichtsausdruck des Mädchens noch hinzu: »In der Mwitu-Ebene. Ich heiße Ajali. Und du, mein Kind?«
Vala zögerte kurz. Weder der Pakiti-Stamm noch die Mwitu-Ebene sagten ihr etwas. Aber so weit konnte sie doch nicht gelaufen sein. Oder doch? »Was ist die nächste Stadt?«, wich sie Ajalis Frage aus.
»Lass mich kurz überlegen. Ja, das müsste Ngome, die Hauptstadt des Ostlands, sein«, sagte die alte Frau. Als Vala erschrocken nach Luft schnappte, fügte sie noch schnell hinzu: »Aber die Stadtmenschen kommen nie zu uns. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Wir sind für sie nur Wilde, die in heruntergekommenen Zelten hausen.«
»Zelten?«
»Das, worin du dich befindest.« Sie deutete auf die Stoffwände. »Die Stämme der Mwitu-Ebene leben alle in solchen Zelten. Sie sind gemütlich und bequem. Wenn ein Sandsturm kommt, halten sie allerdings nicht. Dann müssen wir uns in der Erde eingraben und abwarten, bis er weitergezogen ist.«
»Ich habe noch nie von euch gehört.« Vala war völlig überfordert. Ihre Gedanken drehten und drehten sich. Unkontrolliert. Immer wieder versuchte sie, nach einem von ihnen zu greifen, doch jedes Mal entglitt er ihr. Frustriert schlug sie Ajalis Hand weg, die ihr die Paste auf die Schläfe strich.
»Du bist verwirrt. Das verstehe ich. Ruh dich besser weiter aus«, meinte die alte Frau ruhig und stellte die Schüssel beiseite. »Wenn du Hilfe brauchst, kannst du nach mir rufen.«
»Nein!« Vala wusste selbst nicht, warum sie Ajali hastig am Unterarm festhielt und sie daran hinderte, aufzustehen. Die Frau sah sie an. Weder wütend noch genervt, wie sie es erwartet hätte, sondern sanft. Erst jetzt bemerkte Vala die dunkelbraunen Federn, die im weißen Haar der Frau steckten.
»Ich kann auch bei dir bleiben, wenn du möchtest«, bot Ajali an.
Vala nickte nur. Die Anwesenheit von jemandem, der ihr nichts Böses wollte, beruhigte sie ungemein. Diese Frau machte nicht den Eindruck, als hätte sie jemals einen Menschen getötet. Nicht so wie Serval. Sie konnte immer noch nicht glauben, was er getan hatte. Und dann hatte er es ihr auch noch verschwiegen! Wieder kamen die Tränen in ihr hoch und sie schluchzte. Zu ihrer Überraschung umarmte Ajali sie, drückte sie eng an ihre Brust und wiegte sie sanft hin und her.
»Alles wird gut«, flüsterte die alte Frau ihr zu. »Du bist jetzt in Sicherheit. Wer auch immer dich verfolgt hat: Hier wird er dich nicht finden. Wir haben starke Krieger, die dich beschützen werden. Meine Tochter gehört zu ihnen. Sie war es auch, die dich am Rand der Steilklippe entdeckt hat. Sie ist sehr mutig und stark und hat schon so manches Duell gewonnen. Du kannst darauf vertrauen, dass dir hier nichts geschieht.«
Vala ließ ihren Tränen freien Lauf und genoss die ruhige Stimme Ajalis. Sie war beruhigend und schon bald war der Schmerz fast verschwunden. Zurück blieb nur ein unangenehmes Gefühl der Traurigkeit. Sie schloss die Augen und nahm die Wärme in sich auf, die die alte Frau ausstrahlte. Immer noch wiegte sie sich hin und her. Bestimmt hätte Mutter mich auch so beruhigt, wenn Serval sie nicht getötet hätte, dachte Vala. Es war das erste Mal seit langem, dass sie so etwas wie echte Zuneigung empfand. Ajali erinnerte sie an die alte Jenny aus der Burg, bevor sie gestorben war. Aber die alte Jenny war strenger gewesen. Und sie war ein Bleichgesicht. Schließlich löste Vala sich aus Ajalis Griff.
»Es tut mir leid«, sagte sie und wagte es nicht, der alten Frau ins Gesicht zu sehen. Doch diese strich ihr mit ihren runzligen Fingern über die Wange, sodass sie doch aufschaute.
»Es muss dir nicht leid tun. Es muss denen leid tun, die dir die Grausamkeit angetan haben, wegen der du weinst.« Sie lächelte milde. »Wie heißt du, mein Kind?«
»Vala«, rutschte es ihr heraus, bevor sie sich darauf besinnen konnte, einen falschen Namen zu nennen.
»Ein schöner Name«, fand Ajali. »Haben deine Eltern dir diesen Namen gegeben? Suchen sie dich? Sollen wir dich zu ihnen bringen, wenn deine Verletzungen geheilt sind?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Wirklich nicht? Sie machen sich bestimmt Sorgen.«
»Nein«, entgegnete Vala verärgerter als sie es beabsichtigt hatte. »Ich habe keine Familie mehr.«
Ajali schien kurz zu überlegen, dann lächelte sie mild und nahm sie wieder in die Arme. »Wir sind jetzt deine Familie.«
»Danke«, schluchzte Vala und konnte ihre Tränen wieder nicht zurückhalten. Während sie weinte, hörte sie ein leise Schnüffeln und als sie aufsah, entdeckte sie ein kleines Tier, das seine Schnauze aus einem Loch im Boden steckte. Sie blinzelte und betrachtete es genauer. Sein Fell war gelblich braun und es starrte sie aus großen schwarzen Knopfaugen neugierig an.
»Er mag dich«, sagte Ajali belustigt und streckte die Handfläche dem Tier entgegen, das kurz daran schnüffelte und dann zurück im Loch verschwand.
»Was ist das für ein Tier?«, wollte Vala wissen.
»Eine Wüstenspringmaus«, erklärte Ajali. »Einer seiner Vorfahren war mein Seelentier. Sie hieß Panya. Ich habe sie gefunden, als ich sieben war und nur ein Jahr später ist sie gestorben. Ich werde sie nie vergessen.«
»Seelentier?«
Die alte Frau seufzte. »Früher hatten alle Menschen der Wildnis ein Seelentier. Nicht alle hatten das Glück, ihm auch wirklich zu begegnen, aber wenn man es tat, war die Verbindung wundervoll. Man ging mit ihm auf die Jagd, kämpfte Seite an Seite und wenn man Glück hatte, erlaubte es einem, in seine Haut zu schlüpfen. Unsere Schamanen konnten sogar durch die Augen von Adlern schauen.«
»Deswegen hast du die Federn im Haar? Bist du eine Schamanin?«
Ajali lächelte bedauernd. »Nein. Schamanen gibt es lange nicht mehr. Die Bleichgesichter haben sie alle getötet, aber das ist lange her. Das war noch vor dem Großen Krieg.« Ihr Gesicht nahm einen traurigen Ausdruck an. »Die Alten hätten Mutter Erde nicht so quälen sollen. Nun haben sie nicht nur sie, sondern auch sich selber zerstört.«
»Deswegen ist es gut, dass die Bleichgesichter jetzt nicht mehr so viel Macht haben. Schließlich waren der Großteil der Alten Bleichgesichter«, versuchte Vala die alte Frau aufzumuntern, doch zu ihrer Überraschung schüttelte diese den Kopf.
»Nicht alle Bleichgesichter sind böse. Es gab auch einige, die für Mutter Erde gekämpft haben. Nur waren es zu wenige. Die restlichen hatten nicht den Mut dazu und taten so, als wären sie blind. Die Schuld liegt bei denen, die die Erde vor dem Großen Krieg regiert haben und sich absichtlich blind gestellt haben. Du hast recht: Das waren größtenteils Bleichgesichter. Aber verurteilst du die anderen für das, was ihre Wortführer getan haben ohne ihre Untergebenen vorher zu fragen?«
Vala verwirrte die fremde Denkweise der alten Frau, aber sie konnte spüren, dass da etwas Wahres dran war. Sie selbst schimpfte über die Bleichgesichter und fürchtete sich vor ihnen, aber hatte sie nicht ihre gesamte Kindheit von Fräulein Rica gelernt? Den Geschichten der alten Jenny gelauscht? Das gegessen, was die bleichgesichtigen Küchenmädchen ihr zubereiteten? Und wer war letztendlich ein Mörder gewesen? Serval...
»Wir vom Pakiti-Stamm hegen keinen Zorn oder Hass gegen andere Menschen«, erklärte Ajali. »Selbst wenn du ein Mensch mit heller Haut gewesen wärst, hätten wir dich in unser Lager geholt. Wir sind ein friedliches Volk und halten fest zusammen. Aber wenn man versucht, uns unsere Freiheit zu nehmen oder uns bedroht, können wir auch zurückschlagen.«
Vala lächelte leicht. »Und ich darf wirklich hier bleiben?«
»So lange wie du möchtest«, antwortete die alte Frau. Sie bettete Valas Kopf auf den Boden und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Ruh dich nun weiter aus. Möge die Seele der Mutter Erde über dich wachen.«
Vala schloss die Augen. Eine angenehme Ruhe hatte sie ergriffen und sie glitt hinüber in einen traumlosen Schlaf.
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