11. Kapitel
Kleine töten mit der Waffe und werden als Mörder verfolgt, Große lassen töten und verhungern und verfolgen diejenigen, die sich ihnen in den Weg stellen.
Gerald Dunkl
Der Thronsaal war fast leer. Nur König Miro saß auf dem Silberthron, den Kopf gelangweilt auf die Hand gestützt. Auf der obersten Stufe der Treppe, die zu ihm hinaufführte, stand Kunong'ona, sein Berater. Er trug ein langes, dunkelgrünes Gewand, dessen unterer Saum mit silbernen Stickereien verziert war. Die Hände verschwanden vollkommen, in den weiten Ärmeln. Er hatte seine Aufmerksamkeit auf den zerlumpten Bauern gerichtet, der gerade den Thronsaal verließ.
»War es das für heute?«, ertönte die müde Stimme des Königs.
Kunong'ona setzte ein freundliches Lächeln auf, drehte sich zu seinem Herrscher um und deutete eine respektvolle Verbeugung an. »Ich fürchte, Euch enttäuschen zu müssen, mein König. Einen letzten Bittsteller gibt es noch. Er wartet schon mehrere Tage darauf, bei Euch vorsprechen zu können und behauptet, es wäre wirklich wichtig.«
König Miro setzte sich etwas aufrechter hin und rückte die Silberkrone zurecht. »Warum habe ich mich eben mit dem Diebstahl einer dämlichen Ziege beschäftigt, wenn es etwas viel Wichtigeres gibt?«
»Der letzte Bittsteller ist ein Bleichgesicht, mein König«, antwortete Kunong'ons freundlich lächelnd. »Meiner Meinung nach macht er sich nur wichtig.«
Der König seufzte und winkte beiläufig mit der Hand. »Schick ihn rein.«
Der Berater verbeugte sich wieder, drehte sich um und nickte einem der Garderitter zu, die an beiden Seiten des Tors zum Thronsaal Wache standen. Der Mann verließ seinen Posten und kam kurz darauf mit einem Bleichgesicht zurück, das er am Hemdkragen gepackt hatte. Als der Garderitter ihn losließ, stolperte er vor und fiel fast mit dem Gesicht vorwärts auf den roten Teppich. Gerade noch rechtzeitig fing er sich, richtete sich auf und rückte sein Hemd zurecht. Das Grinsen, das er dem König und seinem Berater zuwarf, war so schief, dass Kunong'ona gequält das Gesicht verzog.
»Tritt näher, Bleichgesicht, und trage dem König deine Bitte vor«, rief der Berater, als er sich wieder gefangen hatte.
Der Mann kam in großen Schritten auf den Thron zu und blieb vor der ersten Treppenstufe stehen. »Es ist keine Bitte, die ich habe, sondern eine wichtige Information«, sagte er mit einer Stimme, die sich samtweich wie die einer Katze anhörte.
»Welche Information sollte so wichtig sein, dass man sich dafür an den König wenden muss?«, fragte Kunong'ons zwar freundlich, doch mit einer gewissen Schärfe.
»Es geht um die Prinzessin, die angeblich tot ist.«
Der Berater zuckte zusammen und warf König Miro einen schnellen Blick zu. Dieser verzog die Lippen zu einem so schmalen Strich, dass sie beinahe nicht mehr zu sehen waren. Seine pechschwarzen Augen schleuderten Blitze nach dem fremden Bleichgesicht, das sich erdreistet hatte, in seiner Gegenwart von seinen Töchtern zu sprechen.
»Keine meiner Töchter ist tot!«, grollte er und schlug mit der Faust auf die Armlehne des Throns.
»Ich meine keine Eurer Töchter, mein König«, grinste das Bleichgesicht. »Ich meine Prinzessin Vala, die doch angeblich von ihrem eigenen Volk erschlagen und so schlimm zugerichtet wurde, dass – was für ein Zufall – man ihr Gesicht nicht mehr wieder erkennen konnte.«
»Vala ist keine Prinzessin!«, brüllte der König und erhob sich vom Silberthron. »Sie ist das Überbleibsel meines Bruders und verdient diesen Titel nicht! Ihr Tod ist tragisch, hat aber keinerlei Bedeutung für das Fortbestehen meiner Herrschaft!«
»Wie ich bereits angedeutet habe, mein König: Sie ist nicht tot«, sagte das Bleichgesicht und wirkte nicht im Mindesten eingeschüchtert. Der Mann grinste sogar noch breiter, sodass man jetzt eine Zahnlücke dort sehen konnte, wo früher wohl ein Eckzahn gewesen war.
»Und ich soll dir glauben, Bleichgesicht?« König Miro stieg ganz langsam die Treppenstufen hinunter. Eine nach der anderen, bis er genau vor dem Mann stand. Er überragte ihn um mindestens einen halben Kopf. »Was fällt dir überhaupt ein, hierher zu kommen und solche Unsinnigkeiten zu behaupten?«
»Es ist so wie ich sage«, beharrte das Bleichgesicht. »Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen. Der Garderitter Serval war bei ihr und hat sie beschützt. Er hat alle meine Kameraden niedergemetzelt als wären sie nichts. Dabei dachte ich, er wäre schon lange gestorben. Fragt sich nur eines: Wusstet Ihr davon, mein König, und habt die Leiche der Prinzessin durch eine andere ersetzt oder hat Euer ehemaliger Hauptmann Euch so gut hereingelegt, dass Ihr seine Lügen geglaubt habt?«
An König Miros Schläfe pulsierte vor unterdrückter Wut eine heraustretende Ader. Er ballte die Fäuste, überlegte es sich im letzten Moment jedoch anders und klopfte dem Bleichgesicht auf die breiten Schultern. »Es war klug von dir, zu mir zu kommen. Wie ist dein Name?«
»John, mein König«, stellte der Mann sich vor und grinste wieder schief.
»Nun, John, ich finde, du hast eine Belohnung verdient. Ich weiß nicht, was Serval mit Vala vor hat, aber es kann nur etwas Schlechtes sein. Ich werde ein paar Garderitter losschicken, die sie zurückholen werden. Sag, wo hast du die beiden gesehen?«
»Nicht weit von Ngome«, antwortete John. »Sie waren in Richtung Süden unterwegs. Vermutlich nach Kelele. Aber das ist schon ein paar Tage her. Ich wäre früher zu Euch gekommen, aber Euer Berater hat mich nicht gelassen.« Er deutete anklagend mit dem Finger auf Kunong'ona, dem sein freundliches Lächeln sofort verging.
»Hast du während du gewartet hast mit jemand anderem darüber gesprochen?«, wollte König Miro wissen und ignorierte die Anschuldigung. »Mit Menschen aus der Stadt? Deiner Familie?«
»Ich habe mit niemandem darüber gesprochen, mein König«, versicherte das Bleichgesicht. »Familie habe ich nicht. Brauche ich auch nicht.«
»Gut.« König Miro zog die Hände von seinen Schultern und wollte die Treppe wieder hochgehen, als John sich nochmal zu Wort meldete:
»Mein König, Ihr sagtet etwas von einer Belohnung?«
Der Herrscher drehte sich um und lächelte grimmig. »Natürlich. Kunong'ona?«
Der Berater verbeugte sich in seine Richtung. »Ja, mein König?«
»Sorge dafür, dass John eine Belohnung von hundert Münzen für seine Aufmerksamkeit und Treue zum Ostland bekommt.«
Kunong'ona lächelte freundlich und nickte. Das Bleichgesicht setzte ein zufriedenes Grinsen auf und verließ den Thronsaal. Als seine Schritte auf dem Flur verklungen waren, ballte König Miro die Fäuste. »Kunong'ona?«
»Ja, mein König?«
»Sorge dafür, dass John stirbt, bevor er die Burg verlassen kann.«
Der Berater lächelte und stieg wortlos die Treppe hinunter. Kurz bevor er die Garderitter passierte, rief König Miro ihn jedoch nochmal zurück: »Kunong'ona?«
»Ja, mein König?«
»Kontaktiere meine alten Freunde und schick sie heute Abend in den Feuertanzsaal. Niemand darf sie sehen, hast du verstanden?«
Kunong'ona lächelte, nickte und eilte davon.
***
König Miro starrte mit finsterer Miene aus den hohen Fenstern des Feuertanzsaals hinaus. Draußen leuchteten die nächtlichen Lichter der Stadt und machten es unmöglich, die Sterne zu sehen. Nur der Mond war deutlich wie immer am Himmel auszumachen. Der König trat zurück, zog den schweren Vorhang zu und ließ seinen Blick über den leeren Saal schweifen. Alle Tische und Stühle, die hier zu der Hochzeit gestanden hatten, waren weggeräumt worden. Der Tanzsaal war jetzt eine schwarze Leere. Die Dunkelheit wurde nur von der brennenden Laterne durchstochen, die er beim Eintreten angezündet hatte.
Plötzlich ertönte ein leises Klopfen. König Miro nahm die Laterne in die Hand und ging zu einem Gemälde hinüber, das beinahe bis zur Decke reichte und noch breiter war. Es bestand aus drei Teilen, die so dicht beieinander aufgehängt waren, dass es wie ein ganzes aussah. Zum rechten von ihnen ging der König und berührte den Rahmen an einer bestimmten Stelle, woraufhin es leise klickte. Der rechte Teil des Gemäldes klappte nach vorne und gab den Blick auf einen dunklen Gang frei, der dahinter in die Wand hineinführte. König Miro trat ein paar Schritte zurück und wartete.
Aus der Dunkelheit schälte sich die Gestalt eines Bleichgesichts. Der Mann hatte ungewöhnlich schmale Augen, deren Weißes sich schmutzig gelb verfärbt hatte. Der Rest des Kopfes war mit schwarzen Stoffbahnen umwickelt, die selbst seine Nase bedeckten. Auch um seine Arme und Beine waren dunkle Streifen geschlungen. Doch das Auffälligste war der dritte Arm, der ihm aus der Brust wuchs wie ein verkrüppelter Ast. Das Bleichgesicht blieb in einiger Entfernung stehen und starrte den König mit seinen kranken Augen an, während hinter ihm weitere Gestalten aus dem Gang kletterten. Jede von ihnen war auf ihre Weise verunstaltet. Einem wuchsen Zähne überall aus dem Gesicht, ein anderer hatte weder Augen noch Nase, ein dritter hatte so lange, dünne und biegsame Arme, dass er sie sich wie Seile um den Oberkörper gewickelt hatte.
»Du bist spät«, sagte König Miro in die Stille hinein.
»Nicht später als Xah«, erwiderte der Dreiarmige. »Der ist noch gar nicht da.« Er blinzelte mit seinen gelblichen Augen. »Was hat dich zu einer solchen Verzweiflung getrieben, dass du nach deinen Attentätern schickst?«
»Geduld, Zeteng, ist eine Tugend, die du noch lernen musst«, grollte der König.
Im selben Moment ertönten Schritte in dem Gang hinter dem Gemälde und weitere Gestalten kletterten voraus. Allen voran ein dunkelhäutiger Ostländer, der weder Mann noch Frau zu sein schien. Sein Gesicht war zu schmal für einen Mann, aber die Züge zu grausam für eine Frau. Seine Brust war flach wie ein Brett, aber die Hüften waren umso breiter.
»Ich entschuldige mich für die Verspätung, mein König«, sagte das Wesen mit einer hohen Frauenstimme.
»Wenigstens seid ihr gekommen«, brummte König Miro. »Aber natürlich wäre es besser gewesen, wenn du dich beeilt hättest, Xah.«
»Warum hast du uns gerufen?«, fragte Zeteng und kratzte sich mit seiner dritten Hand am von Stoffbahnen bedeckten Kinn.
»Es gibt jemanden, den ihr finden müsst.«
»Wen?«, wollte Xah wissen. Es zog die Stirn in Falten.
»Die Tochter meines Bruders. Vala. Ihr kennt sie.«
»Ist sie nicht tot?«, meldete sich der Attentäter zu Wort, dessen Gesicht nur aus Zähnen zu bestehen schien.
»Serval hat sie offenbar gerettet und mir eine falsche Leiche untergeschoben«, erklärte König Miro. »Er ist bei ihr und beschützt sie. Man hat die beiden nicht weit von hier gesehen. Sie waren in Richtung Süden unterwegs, aber möglicherweise haben sie absichtlich die Richtung gewechselt, nachdem sie entdeckt worden sind.«
»Also sollen wir nicht nach Süden?«, fragte Xah stirnrunzelnd.
»Doch«, befahl der König. »Du und deine Geschlechtslosen, ihr zieht nach Süden. Zeteng, du wirst in Richtung Norden aufbrechen. Findet Vala und tötet sie.«
»Und was ist mit Serval?« Zeteng blinzelte fragend und kratzte sich mit zweien seiner Hände am dritten Arm.
»Ihr kennt seine Geschichte«, sagte der König. »Verfahrt mit ihm, wie ihr beliebt. Und jetzt geht. Ihr dürft keine Zeit verlieren.«
Die zwei Attentäter-Anführer und ihr Gefolge verbeugten sich und verschwanden in die Finsternis des Geheimgangs. Als der letzte gegangen war, schlug König Miro den rechten Teil des Gemäldes zu, pustete die Kerze in der Laterne aus und verließ den Feuertanzsaal.
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