1. Kapitel
Ich bin mir nicht sicher, mit welchen Waffen der dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im vierten Weltkrieg werden sie mit Stöcken und Steinen kämpfen.
Albert Einstein
Gelangweilt sah Vala aus dem Fenster und betrachtete die triste Landschaft aus dicht beieinander stehenden Häusern. Es war wieder einer dieser unnatürlich heißen Tage, an denen sie sich weder konzentrieren noch richtig schlafen konnte. Man sollte meinen, sie hätte sich schon lange daran gewöhnt, aber dem war nicht so. Jeder einzelne dieser Hitzetage quälte sie und irgendwie taten ihr die Bauern leid, die in der prallen Sonne ihre Felder bestellen mussten. Ihnen musste es noch hundertmal schlimmer ergehen. Zumal einige von ihnen nicht genug Geld hatten, um sich sauberes Wasser zu leisten. Und sie wollte gar nicht erst an die mutierten Untiere denken, die außerhalb der Städte hausten und regelmäßig über die Felder und deren Besitzer herfielen.
Ein tiefes Seufzen brachte sie dazu, den Blick wieder nach vorne auf ihre Erzieherin zu richten. Fräulein Rica war ein Bleichgesicht wie fast alle Diener der Burg Fedha. Vala fragte sich immer wieder wie es früher möglich gewesen war, dass die Bleichgesichter alle an der Macht gewesen waren. In ihren Augen waren sie alle zu bunt und zu... schmutzig. Man sah selbst den kleinsten Makel auf ihrer hellen Haut. Rote Flecken, blaue Flecken, Altersflecken, allerlei Schrammen und silbrige Narben. Man bemerkte sofort, wenn sie verlegen oder wütend waren, weil ihre Gesichter dann meistens feuerrot wurden. Einige, besonders die Angestellten, hatten sich jedoch so weit unter Kontrolle, dass ihnen das nicht mehr passierte. Fräulein Rica gehörte dazu.
»Was gibt es denn da draußen so Interessantes, dass du dich nicht auf deine Stickerei konzentrieren kannst?«, fragte die Erzieherin in einem strengen Tonfall, aber ohne rot im Gesicht zu werden.
»Wüste«, antwortete Vala schnell und beugte sich wieder über den Saum des Kleides, das sie verzieren sollte. In ihrem Kopf hatte das Muster irgendwie schöner ausgesehen. Sie warf einen flüchtigen Blick zu Broda.
Das Mädchen war zwar ein Jahr jünger als sie, übertraf sie aber in fast allem. Vala war schon etwas neidisch, doch was sollte sie tun? Es war nur selbstverständlich, dass die älteste Tochter des Königs bevorzugt und mehr umsorgt wurde als die Tochter eines gefallenen Taugenichts und seiner Hure. So jedenfalls stellte König Miro, ihr Onkel, sie immer allen vor. Dabei wusste Vala, dass das eine Lüge war. Ihr Vater war ein ehrenhafter Mann gewesen, der noch viele Jahre gerecht geherrscht hätte, wenn sein Bruder ihn nicht kaltblütig ermordet hätte. Jeder kannte die Geschichte. Und jeder schwieg.
»Fräulein Rica! Vala guckt ab!«, rief Broda auf einmal und versteckte ihre Stickerei hinter dem Rücken.
»Tu ich gar nicht!« Erschrocken setzte Vala sich kerzengerade auf. »Ich habe ein ganz anderes Muster als sie!«
»Ein hässlicheres!«, zischte die junge Prinzessin gehässig.
»Hört auf, ihr beiden!« Fräulein Rica trat zu Vala und betrachtete ihre misslungene Stickerei. »Das sieht wirklich nicht sehr schön aus. Du solltest die Fäden durchtrennen, rausziehen und nochmal von vorne anfangen.« Als sie Valas enttäuschten Gesichtsausdruck sah, wurden ihre blaugrauen Augen jedoch weich. »Lieber morgen. Vielleicht bist du dann konzentrierter.«
»Wer's glaubt!«, motzte Broda. Triumphierend hielt sie ihr Kleid hoch, das unten nun ein verschlungenes Muster aus silbernen Fäden aufwies. »Sowas kriegt sie nicht hin! Das wird meinem Vater gar nicht gefallen!«
Vala zerknüllte den Stoff in ihrer Hand, schwieg aber. Es brachte ihr nur Ärger, wenn sie Broda widersprach oder ihr sonst irgendwie zu verstehen gab, dass sie sie nicht ausstehen konnte.
»Sei froh, dass mein Vater – der König – dir überhaupt erlaubt, in der Burg zu bleiben«, rief Broda ihr beim Weggehen zu. »Wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre, hätte ich dich zusammen mit deinem Bruder umbringen lassen!« Die Tür schlug hinter ihr zu.
Und ich hätte dich direkt nach der Geburt aus Versehen fallen gelassen, wenn ich vor vierzehn Jahren die Hebamme gewesen wäre, dachte Vala. Erst, als Fräulein Rica ihr behutsam die Hand auf die Schulter legte, bemerkte sie, dass sie das Kleid immer noch zerknüllt in ihren Fäusten hielt. Blinzelnd schaute sie zu der Erzieherin hoch.
»Du darfst nicht ernst nehmen, was sie sagt«, meinte Fräulein Rica und setzte sich schräg gegenüber von ihr auf die Fensterbank. »König Miro hat seine Wut nur wieder an ihr ausgelassen. Du weißt, dass sie immer die ganze Schuld nur auf sich nimmt, wenn ihre Schwestern etwas ausgefuchst haben. Um sie zu schützen.«
»Mich schützt sie nicht«, murmelte Vala niedergeschlagen. Sie legte das Kleid auf dem Boden neben sich ab und schaute zu der Erzieherin. Doch wie von selbst schweifte ihr Blick wieder durch das Fenster hinaus.
Mehrmals hatte sie sich gefragt, wie es wohl wäre, durch die Straßen zu gehen wie die Menschen, die sie öfters von ihrem Zimmer aus beobachten konnte. Von dort aus konnte sie direkt auf die lange Hauptstraße, die Allee der Rosen, sehen. Die alte Jenny, Fräulein Ricas Mutter, hatte ihr erzählt, dass Rosen Blumen waren, die vor dem Großen Krieg gewachsen waren. Sie hatte ihr sogar Zeichnungen gezeigt. Rosen mussten wunderschön gewesen sein. Als die alte Jenny gestorben war, hatte Vala sich gewünscht, eine Rose zu haben, damit sie mit der Heilerin beerdigt werden konnte. Aber natürlich war das unmöglich gewesen. Es gab keine Rosen und auch sonst keine Blumen mehr. Sie verbrauchten zu viel Wasser.
»Findest du die Häuser wirklich so interessant oder siehst du dir etwas anderes an?«, fragte Fräulein Rica und riss Vala aus ihren Erinnerungen.
»Wird Onkel mich jemals aus der Burg lassen?«, wollte sie wissen, wagte es aber nicht, ihrer Erzieherin in die Augen zu sehen. Die Frage war gefährlich. Sie hatte sie schon einmal gestellt und war dafür für fünf Tage in ihrem Zimmer eingesperrt worden. König Miro würde nie zulassen, dass sie auch nur einen Schritt aus der Burg heraus tat. Ob er sich fürchtete? Aber vor was?
»Das bezweifle ich«, antwortete Fräulein Rica erstaunlich gefasst. Die frühere Erzieherin wäre sofort zum König gerannt und hätte ihm von ihrer Frage berichtet. Nur war die frühere Erzieherin tot. Hingerichtet, weil sie einen Teil des Wasservorrats für ihre Familie aus der Burg geschmuggelt hatte.
»War die Welt der Alten auch so trist und leer?«, fragte Vala schnell, bevor Fräulein Rica auf einen anderen Gedanken kommen konnte.
»Du kennst die Geschichte unserer Welt doch schon«, entgegnete diese streng.
Vala blickte der Frau direkt in die blaugrauen Augen. »Aber ich vergesse immer einige Sachen.«
Fräulein Rica lächelte belustigt, nickte dann aber. Diese Geste kannte Vala schon von der alten Jenny. Sie bedeutete, dass nun eine phantastische Geschichte kam. Gespannt richtete sie sich auf.
»Vor vielen Jahren«, hob die Erzieherin an, »gab es den Großen Krieg. Die damals größten Nationen der Alten richteten ihre Waffen gegeneinander und versuchten, sich gegenseitig auszulöschen. Tausende und Abertausende Unschuldige starben. Hunger, Krankheit und Tod griffen um sich. Was folgte war ein totales Chaos. Der Boden aller Kontinente war so sehr vergiftet worden, dass keine Pflanzen mehr wuchsen. Der Großteil der Tiere starb. Die Erde wurde zu dem Gefängnis unserer Vorfahren, aus dem es kein Entkommen gab. Die Ozeane, die zuvor schon enorm gelitten hatten, trockneten fast vollständig aus. Nur alle paar Jahre kehrte das Wasser in Form eines riesigen Sturms zurück, den wir heute immer noch Muttersturm nennen.
Und so beschlossen die Überlebenden, die letzten Alten, sich hinab in das Bett des größten Ozeans zu begeben, der am wenigsten vergiftet worden war. Sie ordneten sich neu, verbannten jene, die für den Großen Krieg verantwortlich waren, und überließen sie dem Tod. So wurden unsere vier Länder gegründet. Das Nord-, Ost-, Süd- und Westland. Umgeben von einem Grenzland, das uns vom Totenland abschirmt, auf dem es kein Leben mehr gibt.«
»Und im Totenland gibt es wirklich kein Leben mehr?«, fragte Vala mit vor Faszination weit aufgerissenen Augen.
»Kein einziges Fünkchen«, antwortete Fräulein Rica und spreizte dramatisch die Finger vor ihrem Gesicht als würde sie sie erschrecken. »Der Boden und selbst die Luft ist zu stark vergiftet. Wer es betritt, kommt nie wieder zurück.«
Vala biss sich auf die Lippen. »Ich vergesse immer wieder wie der Ozean hieß, in den unsere Vorfahren gestiegen sind.«
Die Erzieherin lächelte geheimnisvoll. »Pazifik«, sagte sie schließlich. »Er hieß Pazifik.«
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