45. Kapitel
Und schließlich gibt es das älteste und tiefste Verlangen, die große Flucht dem Tod zu entrinnen.
J.R.R. Tolkien
Javet rollte unwillig den Kopf herum, als jemand ihn an den Schultern schüttelte. Ich will schlafen. Lass mich schlafen. Lass mich einfach schlafen...
»Es sind schon fast alle gegangen. Du bist einer der letzten. Wach auf!« Die Stimme gehörte eindeutig einem jungen Mädchen. Es schüttelte Javet erneut an den Schultern und zog ihn schließlich so lange am Ärmel, bis er sich stöhnend aufsetzte. Er musste mehrmals blinzeln, bis er in der Dunkelheit der Nacht das Gesicht des Mädchens erkannte. Es kam ihm irgendwie bekannt vor. Erst konnte er es nicht zuordnen, bis ihm die auffälligen, blassblauen Augen auffielen.
»Ich habe dich schonmal gesehen«, murmelte er leicht benommen. Er war immer noch unglaublich müde, hatte wahrscheinlich nur eine oder zwei Stunden geschlafen. »Du warst in den Ställen, als Estrella mir Noche gezeigt hat.«
»Du erinnerst dich an mich?« Das Mädchen strahlte über das ganze Gesicht. Sie zog noch heftiger an seinem Ärmel und ließ dann plötzlich los. »Entschuldige.« Leicht verlegen streckte sie ihm die Hand hin. »Ich bin Rafaga. Ich kümmere mich um die Höllenrösser. Ich habe mich auch um deine Pferde gekümmert. Sie sehen seltsam aus. Haben nur einen Kopf.«
»Eines davon gehört Domador«, sagte Javet und stand seufzend auf.
»Welches?«
»Das schwarze.«
»Ich finde das rote schöner!« Rafaga strahlte ihn wieder an, nahm ihn dann an der Hand und zog ihn mit sich die Straße hinunter. »Komm. Wir müssen uns beeilen.«
Javet ließ sich einfach mitziehen. Halb gehend, halb stolpernd erreichten sie den Tunnel. Dort warteten bereits einige Menschen, die offenbar zu denjenigen gehörten, die aufpassen sollten, dass auch wirklich alle Leute Hölle verließen. Einer der Männer wechselte ein paar Worte mit Rafaga, bevor die zwei Kinder endlich den Tunnel durchquerten. Sie folgten mehreren Familien, die kleine Karren mit ihrem wichtigsten Hab und Gut hinter sich her zogen. Flankiert wurden sie von Kriegern auf Höllenrössern, die die Umgebung im Auge behielten.
»Wo ist Hierro? Und Domador?«, fragte Javet, als sie sich bei der großen Gruppe einfanden, die offenbar darauf wartete, dass Qing Xin aus Vernichtung zu ihnen traf, um sie zu heilen.
»Da drüben«, sagte Rafaga und zeigte in eine bestimmte Richtung.
Javet sah den Bürgermeister von Hölle in voller Rüstung neben seinem Sohn stehen, der auf einer Trage lag, den Armstumpf und Oberkörper mit einer Schicht von Verbänden umwickelt. Sie schienen sich heftig zu streiten und funkelten sich gegenseitig wütend an. Schließlich unterbrach Hierro Domadors Worte mit einem lauten Schrei, wandte sich abrupt um und ging weg. Eine Gruppe aus zwei Dutzend Kriegern folgte ihm. Darunter waren auch Aguarde und der andere Mann, der zusammen mit ihm als erstes aus dem Rathaus gestürmt war.
»Worum ging es da?«, wunderte Javet sich, doch Rafaga schüttelte nur traurig den Kopf. Möchte sie nicht darüber reden oder darf sie nicht? Er schaute Hierro und seinen Kriegern hinterher, die sich nun auf ihre Höllenrösser schwangen und in der Nacht verschwanden. In Richtung Norden. Hoffentlich kommen sie zusammen mit Sera und Estrella heil zurück.
»Deine Pferde sind da drüben«, sagte Rafaga auf einmal und deutete zu einem Mann, der die zwei Tiere an den Zügeln hielt. »Ich habe sie gefüttert und ihnen zu trinken gegeben.«
»Danke.«
Das Mädchen strahlte ihn erneut an.
»Ist das dein Vater?«
Das Lächeln erlosch sofort. »Nein. Meine Eltern sind gestorben, als sie Wasser aus dem Grenzland geholt haben. Garras.«
»Das tut mir leid.« Javet schaute sie von der Seite an. »Meine Eltern sind auch gestorben. Sie wurden auf Befehl von meinem Onkel umgebracht.«
Er sog überrascht die Luft ein, als Rafaga ihn plötzlich umarmte und fest drückte. Sie war etwas kleiner als er, sodass ihr Kopf ihm gerade so bis unters Kinn reichte. Der scharfe Geruch der Höllenrösser stieg ihm in die Nase. Das Mädchen umklammerte ihn jedoch so fest, dass er sie nicht einfach von sich stoßen konnte. Ihm blieb keine andere Wahl als ihr behutsam auf den Rücken zu klopfen und zu warten, bis sie ihn losließ.
Sie blinzelte ihn verlegen an. »Entschuldige.«
Ihre Augen sind blau, dachte Javet. Aber nicht so strahlend, nicht so wie die von Annie. Sie ist nicht sie.
»Ist schon gut«, sagte er mit einem gequälten Lächeln.
Eine Weile standen sie schweigend da, als plötzlich laute Rufe ertönten. Einige Höllenrösser wieherten und Javet hörte, wie Schwerter gezogen worden. All seine Müdigkeit war mit einem Mal verflogen. Er fürchtete, im nächsten Moment die grausamen Gesichter der Triglaza aus der Dunkelheit auftauchen zu sehen, aber das geschah nicht. Stattdessen entdeckte er die fahle Gestalt eines Pferdes mit seinem Reiter, die auf sie zu galoppierte.
»Qing Xin!«, rief er mit neuem Mut. Aber wo sind die Menschen aus Vernichtung? Warum hat er sie nicht geholt?
Auf einen Befehl von Domador hin, der seinen Ruf offenbar gehört hatte, ließen die Krieger Qing Xin hindurch. Der Westländer wirkte anders als sonst. Auf diese Entfernung konnte Javet nicht erkennen, was mit ihm nicht stimmte, aber es war nicht zu übersehen, dass er erschöpft und ausgelaugt war.
»Ist das der Heiler, den du gefunden hast?«, fragte Rafaga aufgeregt. »Wird er uns jetzt heilen?«
»Ja, aber er sieht nicht gut aus. Warte hier.« Trotz seiner Kopfschmerzen suchte Javet sich einen Weg durch die Menschenmenge bis zu Qing Xin. Der Westländer war mittlerweile von Zhiyu abgestiegen, lehnte aber seltsam schief und gekrümmt an der Seite des Tieres. Seine Hände zitterten und im selben Moment begriff Javet, was mit ihm nicht stimmte. Seine Haut flackerte leicht. Ein seltsamer Schimmer lag über ihr, der mal verschwand und mal wieder auftauchte, dann aber in aller Heftigkeit. Ein eiskalter Schauer fuhr dem Jungen über den Rücken. Er ist wirklich ein Magier. Und er sieht aus wie Marielle in ihrem Sterbebett.
Er überwand seine Furcht und trat zu Qing Xin, der erst den Kopf hob, als Javet ihn am Unterarm berührte. »Was ist passiert? Wo sind die Menschen aus Vernichtung? Warum bist du so...«
Der Westländer packte ihn mit festem Griff an den Schultern und schaute ihm direkt in die Augen. »Es tut mir leid, Javet. Sie sind alle tot. Ich...« Er verzog das Gesicht zu einer schmerzvollen Grimasse. Seine freie Hand krallte sich in den Stoff seines schwarzen Gewands an der Brust. Es sah aus als würde er unerträgliche Qualen leiden. »Sie sind alle gestorben. Die Triglaza... Sie haben sie alle niedergemetzelt.«
Javet fühlte sich vollkommen hilflos. »Sie sind also schon hier?«, hörte er sich entsetzt fragen.
Qing Xin brach stöhnend in die Knie. Seine Haut flackerte immer heftiger. Das Flimmern war kaum mehr zu übersehen. Die Menschen um sie herum fingen an, verängstigt zu flüstern, wichen einen Schritt zurück. Javet hockte sich neben dem Westländer hin und half ihm dabei, wieder aufzustehen, was schwieriger war, als er sich vorgestellt hatte. Es muss noch etwas passiert sein. Warum hat er sich so sehr verändert? Warum hat er nicht mal einige Menschen gefunden, die fliehen konnten? Selbst in Vegg haben die Triglaza nicht alle Dorfbewohner getötet! Und der Zar hat doch gesagt, dass sie Sklaven brauchen!.
»Geht es Domador gut?«, unterbrach Qing Xin seinen Gedankengang.
»Er lebt und wurde versorgt«, flüsterte Javet ihm zu.
»Gut.« Der Westländer nickte. »Er soll seinen Leuten sagen, eine Reihe zu bilden und sich nacheinander von mir berühren zu lassen. Es wird nicht weh tun. Sie brauchen keine Angst zu haben. Dann sind sie geheilt und können in Richtung Grenzland, in Richtung Pazifik, aufbrechen.«
»Ich sag es Domador!«, bot Rafaga sich an, die auf einmal an Javets Seite aufgetaucht war. Sie hatte anscheinend nicht warten wollen. Nun rannte sie davon und verschwand in der Menge. Kurz darauf ertönte nicht Domadors Stimme, sondern die eines anderen Mannes. Wahrscheinlich war er selbst noch zu schwach oder hatte wieder das Bewusstsein verloren. Ein Raunen ging durch die Menschen und allmählich setzten sie sich in Bewegung, bildeten eine unordentliche Schlange, die vor Qing Xin endete.
»Soll ich dich stützen?«, fragte Javet ihn. Er wusste immer noch nicht, wie genau diese Heilung nun funktionieren sollte. Er wird diese Menschen einfach berühren? Aber was ist dann der Preis, den man zahlen muss? Oder muss nicht jemand anderes, sondern er selbst den Preis zahlen? Schwächt er sich selbst, wenn er andere Menschen mit seiner Magie heilt?
»Das wäre sehr freundlich«, sagte der Westländer. »Danke.«
Also blieb Javet an Qing Xins Seite und hielt ihn aufrecht, während die Menschen aus Hölle nacheinander vor ihn traten, um sich von ihm berühren zu lassen. Fasziniert beobachtete der Junge, wie der Westländer einige Menschen nur schnell, beinahe flüchtig berührte und sie dann einfach vorbei winkte. Andere hingegen ergriff er am Unterarm und ließ sie eine Weile nicht los. Dann flackerte seine Haut auf wie die Flammen eines Lagerfeuers und er sackte ein Stück in sich zusammen, stöhnte vor Schmerzen. Besonders bei den wenigen Kindern, die zu ihm gebracht wurden, tat er das. Die Eltern standen dann mit sorgenvollen Gesichtern daneben und umarmten ihre Söhne und Töchter erleichtert, nachdem es vorbei war. Das Ganze passierte in einem tiefen Schweigen. Einige Leute verbeugten sich sogar ehrfürchtig vor ihm, bevor sie wegtraten. Andere brachten auch ihre Höllenrösser mit, um sie ebenfalls heilen zu lassen. Bald war nur noch eine kleine Gruppe übrig. Die anderen hatten sich bereits auf den Weg in den Pazifik gemacht.
»Ich freue mich, bald saubere Luft zu atmen«, sagte Rafaga strahlend. Sie war bis zuletzt geblieben und schaute Javet mit großen Augen an, während Qing Xin seine Hand nur kurz auf ihren Unterarm legte und erneut wegnahm. »Dank dir wartet ein neues, besseres Leben auf uns.«
»Noch kann ich das nicht garantieren«, antwortete Javet und raufte sich die Haare. »Der derzeitige König des Ostlands möchte mich töten, weil ich eine Gefahr für ihn bin. Er wird nicht begeistert sein, dass ich Menschen aus dem Totenland in den Pazifik führe.«
»Aber du wirst ihn besiegen!«, meinte Rafaga voller Überzeugung. »Am Ende wird alles gut! Du wirst schon sehen!«
Javet lächelte gequält und wartete darauf, dass das Mädchen wegging, aber es blieb an seiner Seite. Sie ist wirklich hartnäckig. Nachdem auch der letzte von Qing Xin geheilt worden war, seufzte der Westländer erleichtert auf. Aller seiner Kräfte beraubt, schwankte er in Javets stützenden Armen und hielt sich an Zhiyus Sattel fest, um nicht zu Boden zu sinken. Wenigstens hatte seine Haut aufgehört, zu flackern.
»Qing Xin?«, fragte Javet, um sicher zu sein, dass er noch bei Bewusstsein war.
Der Westländer winkte schwach ab. »Alles gut. Wir müssen aufbrechen. Je früher, desto besser.«
»Aber du kannst dich kaum auf den Beinen halten!«
»Das geht schon. Es ist nur... vorübergehend. Hast du Wasser?«
Bevor Javet seinen Wasserschlauch lösen konnte, hielt Rafaga dem Mann schon ihren eigenen hin. Qing Xin nahm ihn entgegen und leerte ihn in mehreren großen Schlucken, wischte sich dann mit dem Ärmel über den Mund. »Danke.« Er löste sich von Javet und richtete sich auf, den Rücken gerade durchgestreckt. Entschlossen drehte er sich zu Zhiyu um und stieg – angesichts seines Zustands – erstaunlich elegant auf.
Als Javet sich sicher war, dass Qing Xin nicht runterfallen würde, eilte er zu Hong Tuzi hinüber. Der feurige Hengst begrüßte ihn mit einem leisen Wiehern. Domadors Reittier, Sult, wiegte nur leicht den Kopf.
»Ich nehme den schwarzen!«, rief Rafaga und kletterte flink auf Sults Rücken.
Javet stieg seinerseits auf Hong Tuzi und sah sich noch ein Mal um. Zusammen mit zwei Wächtern auf ihren Höllenrössern waren sie die letzten. Domador war schon vorher von einigen Männern weggetragen worden. Sein Blick wanderte in Richtung Vernichtung, wo jetzt jedoch kaum mehr Lichter schienen. Was ist mit denen passiert, die fliehen konnten? Es ist unmöglich, dass Qing Xin ihnen nicht begegnet ist. Oder wurden sie von Untieren aus dem Totenland angegriffen? Tief in seinem Inneren wusste er, dass das nicht die richtige Antwort war.
»Kommst du?«, riss Rafagas Stimme ihn aus seinen Gedanken.
Wortlos wandte er sich um und trieb Hong Tuzi an, bis der Hengst galoppierte. Schnell holten die beiden Qing Xin und dann die Nachzügler der Menschen aus Hölle ein. Sie beeilten sich so gut es ging, wechselten sich darin ab, die Wagen zu ziehen, und halfen sich gegenseitig, wenn Hilfe nötig war. Weil sie ihr Tempo denen anpassen mussten, die zu Fuß unterwegs waren, dauerte es fast sieben Tage, bis sie im Grenzland ankamen. Die Nervosität der Menschen stieg immer weiter. Sie hatten Angst davor, dass die Triglaza plötzlich auftauchten, aber auch vor dem, was vor ihnen lag. Angst vor der Ungewissheit.
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