40. Kapitel
Verstecke sind unzählige, Rettung nur eine, aber Möglichkeiten der Rettung wieder so viele wie Verstecke. Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg; was wir Weg nennen, ist Zögern.
Franz Kafka
Javet wischte sich den Schweiß von der Stirn. Nicht wegen der Hitze, auch wenn diese ebenfalls extrem war, sondern wegen der Nervosität, die ihn ergriffen hatte. Wenn Qing Xin und Domador ihn nicht dazu gezwungen hätten, hätte er sich wahrscheinlich nicht mal zum Schlafen hingelegt. Jetzt war er wenigstens mehr oder weniger wach und bei Kräften.
Auf ihrer Reise zum Urberg hatte Qing Xin ihm ganz genau erklärt, was Rhetorik war. Die Kunst des Sprechens und Überzeugens nur mit Hilfe von Worten. Der Westländer hatte ihm mit den Informationen über Javets Familie einige wichtige Argumente vorbereitet und vorformuliert, die er wiedergeben sollte, wenn es so weit war. Woher Qing Xin als Heiler so viel über Rhetorik wusste, war Javet schleierhaft, doch solange alles klappte, war das vollkommen unwichtig. Ich muss mich nur an alles erinnern und wenn nötig improvisieren. Ich darf nichts vergessen.
Jeden Tag hatte Qing Xin ihm neue Sachen zur Rhetorik beigebracht, während sie über die wüste Einöde des Pazifiks getrabt waren. Betonung, Körperhaltung, künstliche Pausen, alles Kleinigkeiten, die aber unglaublich wichtig waren. Ab und zu hatten sie auch Diskussionen zu bestimmten Themen geführt, um das Improvisieren zu üben. Am Abend, wenn sie rasteten, war dann Domador mit seinen Lektionen an der Reihe gewesen. Er hatte darauf bestanden, Javet die Kunst des Schwertkampfes beizubringen, falls es zum Schlimmsten kommen sollte. Da Qing Xin sich geweigert hatte, dem Krieger sein eigenes Schwert zu überlassen, hatten sie kurz in einem Dorf anhalten müssen, um sowohl für Domador als auch für Javet eines zu besorgen. Nun hing die scharfe Klinge am Gürtel des Jungen. Er hatte dem Schwert den Namen ›Annie‹ gegeben. Der Name war in der Nähe des Griffs ins Metall eingeritzt. Zusätzlich hatte Qing Xin Javet seine schwarzen Lederhandschuhe überlassen. »Adlige haben das Zeichen eines Wasaliti nicht«, hatte der Westländer erklärt. »So kannst du es verbergen.« Woher er überhaupt wusste, was dieses Zeichen bedeutete, blieb ein Rätsel.
»Bereit?«, fragte Domador, der an Javets Seite trat. Die Augen hatte er auf den Urberg gerichtet, der vor ihnen aufragte. Eine steile Felswand, in die die ersten Könige des Pazifiks die groben Treppenstufen zur Plattform oben geschlagen hatten, wo ihre Nachfahren sich ein Mal im Jahr versammelten.
»Nein«, gab Javet zu.
»Das ist gut«, entgegnete Qing Xin an Domadors Stelle.
»Das ist nicht gut!«, fuhr Domador ihn an. »Ich dachte, er kennt die Regeln dieser verdammten Rhetorik jetzt in- und auswendig!«
»Ja«, antwortete Qing Xin ruhig. »Aber vor so ernsten Sachen ist es richtig, sich nicht bereit zu fühlen. Es kann immer etwas passieren, was du nicht vorhergesehen hast. Wenn du dir nicht sicher bist, kannst du richtig darauf reagieren. Andernfalls wärst du vollkommen aufgeschmissen und könntest in Panik geraten.«
Domador murmelte etwas auf seiner Sprache, winkte ab und ging zurück zu den drei Pferden. Sie hatten die Zügel der Hengste um die Spitze eines Felsbrockens geworfen, damit sie nicht wegliefen. Javet blickte wieder hinüber zum Urberg und fühlte, wie sein Herz anfing, schneller zu klopfen. Am Fuß des Berges hatten sich bereits viele Menschen versammelt und ihre Zelte aufgestellt. Rauchsäulen von brennenden Lagerfeuern stiegen in die Luft. Obwohl das Treffen erst am nächsten Tag sein würde, war eine der Königsfamilien schon eingetroffen. Die Fahne des Nordlandes auf der Plattform war erst heute Morgen gehisst worden. Sie zeigte ein weißes Tier mit langen, schmalen Ohren und einem kleinen, runden Schwanz. Also ist Königin Sunna da, dachte Javet. Wird sie mich erkennen? Bestimmt. Wie es wohl Hilgard geht? Er hatte schon lange nicht mehr an das Mädchen gedacht, das ihm aus dem Verlies heraus geholfen hatte. Dabei verdankte er ihr sein Leben. Hatte sie Schwierigkeiten bekommen, weil sie das Nordland nicht verlassen hatte, sondern sogar in Borg geblieben war?
»Wir werden in deiner Nähe sein«, sagte Qing Xin neben ihm. »Sollte irgendwas schief gehen, werden wir eingreifen und dich dort raus holen.«
Javet schaute ihn skeptisch an. »Ich dachte, du kämpfst nicht?«
»Ich ziehe mein Schwert nicht mehr«, antwortete der Westländer ohne den Blick vom Urberg abzuwenden. »Das ist ein Unterschied.«
»Qing Xin.« Javet versuchte, seine Stimme so ernst wie möglich klingen zu lassen. »Wer bist du in Wirklichkeit?«
»Was meinst du?«
»Du hast gesagt, du wärst Guangshus Schüler«, hob er an. »Vielleicht stimmt das auch, aber da ist mehr. Du sagt immer wieder, dass es kein Heilmittel gibt, du die Menschen aus Hölle aber trotzdem heilen kannst. Das geht nicht außer... du bist ein Magier.«
Qing Xin antwortete nicht.
»Ich habe nichts gegen Magier. Meine Ziehmutter war selbst eine Magierin«, fuhr Javet schnell fort. »Sie hat mir auch mal auf diese Weise das Leben gerettet. Ich bin in eine giftige Quelle gefallen und sie hat mich gerettet, indem sie meinen Stiefbruder...« Ihm versagte die Stimme.
Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie Qing Xins Ausdruck sich verhärtete, aber er schwieg immer noch.
»Aber auch das kann nicht alles sein«, sagte Javet. »Du kannst Westländisch, Ostländisch, die Sprache des Wasserhändlers, dem wir begegnet sind. Es würde mich nicht wundern, wenn du auch Nordländisch und Südländisch kannst. Du kennst dich aus mit Rhetorik und vermutlich auch mit Schwertkampf, sonst hättest du kein Schwert bei dir. Du weißt Bescheid über die politischen Situationen in anderen Ländern. Du weißt sogar, was das Zeichen eines Wasaliti bedeutet. Und du hast viel Geld. Wie passt das alles zusammen?«
»Man kann alles lernen«, lautete Qing Xins einfache Antwort. »Das Geld habe ich von Guangshu. Nachdem er Königin Yin geheilt hat, wurde er nur so mit Münzen überschüttet und als sein Schüler habe ich ein Viertel davon bekommen.« Jetzt erst richteten seine dunklen Augen sich auf den Jungen. »Manchmal ist ein Heiler auch einfach nur ein Heiler, Javet. Mach dir nicht so viele Gedanken darüber, wer ich bin. Konzentriere dich besser auf das, was vor dir liegt.«
Manchmal ist ein Junge aber auch nicht einfach nur ein Junge, dachte Javet, sprach es jedoch nicht laut aus. Stattdessen nickte er nur. »Ich werde mein Bestes geben«, versprach er, atmete tief durch und setzte sich in Bewegung, um das letzte Stück Weg zum Urberg zu Fuß zurückzulegen.
Schon bald tauchte er zwischen den ersten Zelten hindurch. Die Menschen ignorierten ihn größtenteils. Da hier alle vier Länder zusammentrafen, war es nicht verwunderlich, dass ein Junge aus dem Ostland sich auf der Seite des Nord- oder Westlands herumtrieb. Javet ging an den kleinen Gruppen von Leuten vorbei, die plaudernd zusammenstanden, bis er vor den ersten Stufen der Treppe angekommen war. Es war nicht verboten, die Treppe hoch und runter zu gehen. Erst, wenn das Treffen begonnen hatte und alle Könige sich auf der Plattform befanden, wurde sie von Garderittern aller vier Länder bewacht. Jetzt tummelten sich hier mehrere Kinder, die sich darin maßen, wer am schnellsten eine bestimmte Anzahl an Stufen hoch und wieder runter laufen konnte. Der Großteil von ihnen kam aus dem Nordland und waren ihrer zerlumpten Kleidung nach vermutlich Straßenkinder. Wahrscheinlich waren sie dem Zug der Königin einfach gefolgt und wollten hier etwas Spaß haben.
»Schneller! Schneller!«, feuerte ein Mädchen einen Jungen an, der gerade gegen einen anderen antrat. »Noch zehn Stufen! Das schaffst du! Mynt! Mynt! Mynt!«
Der Junge sprang über die letzten drei Stufen hinweg und landete geschickt auf dem Boden, hob grinsend den Kopf. Die linke Hälfte seines Gesichts war von einer Hautflechte entstellt, die er jedoch versuchte so gut es ging mit seinen langen, blonden Haaren zu verdecken. Der andere Junge kam wenig später neben ihm zum Stehen. Hellbraune Sommersprossen sprenkelten sein Gesicht, das von roten Haaren umrahmt war.
»Das ist nicht fair!«, beschwerte er sich, wenn auch mit wenig Enthusiasmus. »Wir sollten eine Regel einführen, dass man jede Stufe berühren muss.«
»Du bist nur neidisch, dass du nicht so schnell bist!«, entgegnete das Mädchen. »Was ist nur los mit dir? Seit Gishild...«
Ein finsterer Blick des Jungen mit den Sommersprossen ließ sie verstummen.
»In Ordnung, in Ordnung«, sagte das Mädchen schnell. »Wir fragen einfach Hilgard. Hilgard!«
Javet glaubte, sich verhört zu haben. Er hatte ursprünglich vor, sich einfach an den Kindern vorbei zu drängen und so zu tun, als verstünde er kein Nordländisch, aber jetzt horchte er auf. Hilgard ist hier?
»Hilgaaaaard!«, rief das Mädchen gedehnt. »Wer hat gewonnen? Mynt oder Vei?«
Tatsächlich trat nun Hilgard zwischen zwei Kindern hervor. Sie hatte ihre Kapuze zurückgeschlagen, sodass ihre weißblonden Haare hell in der Sonne leuchteten. Ihre Haut war sauber. Kein Blut, das noch darauf gewesen war, als Javet sie zuletzt gesehen hatte. Sie wirkte fröhlicher als im Kerker, war aber leicht abgemagert. Ihr Kleid war an mehreren Stellen geflickt.
»Wir können die Regel bei der nächsten Runde einführen«, schlug Hilgard vor. »Aber jetzt hat Mynt gewonnen.«
Der Junge mit der Hautflechte grinste und verbeugte sich spielerisch in alle Richtungen, während der andere mit dem sommersprossigen Gesicht scheinbar gleichgültig mit den Schultern zuckte und weg trat. Die Kinder umkreisten Mynt und jubelten ihm zu. Nur Hilgard blieb etwas abseits. Javet wollte gerade zu ihr hinüber gehen, als ihre Blicke sich trafen. Das Mädchen schien sich zu erschrecken, setzte schnell die Kapuze auf und verschwand irgendwo zwischen den Zelten.
Javet war verwirrt. Warum läuft sie weg? Ich dachte, wir könnten uns etwas unterhalten. Er überlegte. Vielleicht hat sie Angst, dass ich wütend auf sie sein könnte, weil sie mich angelogen hat. Sie hat offensichtlich keine Familie in Borg, die sich um sie kümmern kann. Aber warum lebt sie auf der Straße? Zusammen mit den anderen Kindern.
»He!«, rief der Junge mit der Hautflechte, Mynt, ihm auf einmal zu. »Möchtest du auch eine Runde mitspielen? Lust, gegen mich anzutreten, Ostländer?«
Javet lächelte entschuldigend. »Tut mir leid. Ich wollte eigentlich nur hoch auf die Plattform und mich mal umsehen.«
Mynt zuckte mit den Schultern. »Meinetwegen. Aber schau zu, dass du rechtzeitig wieder runter kommst. Wenn du noch oben bist, wenn das Treffen anfängt, kann selbst der Samariter dich nicht mehr retten.«
»Der Samariter kann jetzt niemanden mehr retten«, warf das Mädchen ein, das ihn zuvor angefeuert hatte. »Er hat Borg schon lange verlassen.«
»Sagst du.«
»Sonst hätte er doch Gishild gerettet, oder?«
Mynt verdrehte die Augen und rief dann laut: »Also, wer ist der nächste?«
Javet hörte nicht mehr, wer der nächste war, weil er bereits die ersten Stufen hoch gegangen war. Der Stein war an einigen Stellen schon glatt poliert von den vielen Stiefeln, die in den Jahren seit dem Großen Krieg hinauf gestiegen waren. Manchmal musste er sich am Fels neben der Treppe festhalten, um nicht zu fallen oder auszurutschen. Warum gibt es bloß kein Geländer? Je höher er kam, desto mulmiger wurde ihm zumute. Endlich erreichte er die flache Plattform. Sie befand sich nicht auf der Spitze des Urbergs – das wäre viel zu hoch gewesen –, sondern etwa am Ende des unteren Achtels. Trotzdem war sie so hoch, dass die Menschen unten wie kleine Kiesel aussahen, die zwischen den Zelten umher rollten.
Jetzt ein gutes Versteck, dachte Javet, während er sich suchend umsah. In der Mitte der Plattform gab es einen großen runden Tisch, an dem später die Könige Platz nehmen würden, neben ihnen ihre Ehepartner. Hinter ihnen gab es mehrere kleinere Tische für ihre Kinder und die wichtigsten Leute am Hof wie Berater, Hauptmänner der Garderitter und so weiter. War es klug, sich vorerst hinter einem der herumstehenden Felsbrocken zu verstecken und sich dann zu diesen Tischen zu gesellen? Nein, entschied Javet. Die Garderitter werden hinter jeden Felsen schauen, wenn sie überprüfen, ob sich Attentäter hier versteckt haben.
Es dauerte eine ganze Weile, bis er am Rand der Plattform eine Art Vorsprung entdeckte, über den er auf ein anderes flaches Felsstück gelangen konnte. Wahrscheinlich hatte man zuerst versucht, dort die Plattform aus dem Urberg zu schlagen, es dann jedoch aufgegeben und sich für eine andere Stelle entschieden. Nun gab es dort trotzdem genug Platz für vielleicht zwei oder drei Personen.
Kurz stieg Javet wieder einige Stufen hinab, um zu überprüfen, ob man diese verlassene Plattform von der Treppe aus sehen konnte. Das war nicht der Fall. Aber es gab kaum sichtbare Anfänge einer Treppe, die in Richtung dieser Plattform führten. Ebenfalls nicht fertig gestellt, aber sicher genug. Jedenfalls sicherer als zu versuchen, über den Vorsprung zu klettern und dabei zu riskieren, in die Tiefe zu stürzen.
Entschlossen kraxelte Javet die Stufen hinauf, wobei er immer darauf achtete, entweder beide Füße und eine Hand oder beide Hände und einen Fuß am Felsen zu haben. Auf der versteckten Plattform angekommen, hockte er sich in die hinterste Ecke, um auch ganz sicher zu sein, dass man ihn nicht würde sehen können, bis es so weit war. Das Schwert legte er vorerst zur Seite. Vorsichtig zog er es ein Stück aus der Scheide und strich mit den behandschuhten Fingern über die Gravierung. Als er hochschaute, konnte er sich vorstellen, wie Annie vor ihm stand. Die strahlend blauen Augen blickten ihn an. Dieses Mal nicht mehr vorwurfsvoll, sondern voller Liebe und Zuneigung. Er lächelte. Lächelte, bis die Sonne unterging und sie zusammen mit den langen Schatten verschwand. In der Nacht träumte er von roten Sonnen. Dann brach der nächste Tag an.
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