38. Kapitel
Man soll tun, was man kann, einzelne Menschen vom Untergang zu retten.
Johann Wolfgang von Goethe
Die Reise verlief ohne Zwischenfälle. Mehrmals mussten sie jedoch Halt in einigen Dörfern machen, um ihren Wasservorrat aufzufüllen. Qing Xin hatte erstaunlich viele Münzen dabei, war vielleicht sogar reich, und beharrte darauf, selbst für all ihren Proviant zu bezahlen. Javet wunderte sich über gar nichts mehr, was diesen seltsamen Westländer anging. Er konnte offenbar nicht nur seine Muttersprache und Ostländisch sprechen, sondern auch noch andere Sprachen. Eine Nacht verbrachten sie am Lagerfeuer eines Wasserhändlers, der etwas anderes als Westländisch sprach. Sein Name war anscheinend Heuleum.
»Es ist ihm eine Freude, euch kennenzulernen«, übersetzte Qing Xin. »Er sagt, dass es lange her ist, seit er einen Ostländer gesehen hat.«
Javet lächelte leicht gequält. Die hellen Flammen des Lagerfeuers brannten ihm in den Augen.
»Und einen wie Euch hat er noch nie gesehen«, wandte Qing Xin sich an Domador. »Aber er hat gehört, dass es im Nordland Menschen gibt, die Euch ähneln. Er möchte wissen, aus welchem Dorf Ihr kommt. Vielleicht kann er seinen Weg so anpassen, dass er dort Wasser vorbeibringt.«
»Er würde sich sehr wundern, wenn ich ihm sage, dass ich aus einer Stadt auf dem Kontinent komme«, grollte Domador. Er misstraute Qing Xin immer noch, obwohl der Westländer ihm gegenüber bisher nie feindselig gewesen war. »Und das übersetzt du besser nicht. Denke dir was anderes aus.«
Der Westländer hielt kurz inne, bevor er sich mit einem freundlichen Lächeln an Heuleum wandte und etwas sagte. Die beiden wechselten noch einige Worte, bevor der Wasserhändler aufstand und zu seinem Wagen ging, auf dem mehrere Fässer und Tonkrüge gestapelt waren. Einen davon öffnete er und schüttete etwas Wasser in einige Metallbecher, die er ihnen reichte.
»Als Dank für das nette Gespräch«, erklärte Qing Xin. »Er wird sich jetzt schlafen legen.« Sein ruhiger Blick richtete sich auf Domador. »Und du hast Zeit, mir von deinem Volk zu berichten.«
Javet sah leicht besorgt zwischen den zwei Männern hin und her. Aber wenigstens lenkt es mich von dem grellen Lagerfeuer ab.
Domador seufzte und richtete sich etwas auf dem Stein auf, auf dem er saß. »Nun gut«, hob er an und erzählte dem Westländer das, was Javet bereits wusste. Dass selbst nach dem Großen Krieg noch einige Menschen auf dem Kontinent lebten. Dass es dort allerdings mehr Gefahren in Form von Untieren und Strahlung gab und Hölle dem Untergang geweiht war. Er erzählte auch von Javets Versprechen, sie alle in den Pazifik zu führen, sobald er König war und sie geheilt waren. Schließlich kam er zu den Triglaza und Qing Xin nickte langsam, als er verstand, wie dringend sie seine Hilfe brauchten. Gleichzeitig wirkte er jedoch wenig begeistert. Sein Gesicht war eine ausdruckslose Maske, aber in seinen Augen stand eine unsagbare Traurigkeit.
»Wisst ihr, wie viele Menschen sterben werden?«, fragte er, als Domador geendet hatte. »Ich habe gehört, dass es Unruhen im Ostland gibt, weil König Miro tot ist und Königin Alina sich den südländischen Prinzen als Ehemann genommen hat.« Seine Mundwinkel zuckten kurz. »Sie wird ihre Position nicht so einfach aufgeben. Und König Sharaf erst recht nicht. Sein Vater ist nun praktisch Herrscher über zwei Länder des Pazifiks.«
Javet presste betreten die Lippen zusammen und schaute zu Boden, wich dem Blick des Westländers aus. Ich habe es Marielle versprochen. Ich habe Annie versprochen, dass ich den Hellhäutigen mehr Rechte geben werde. Ich habe den Menschen aus Hölle versprochen, dass ich sie in den Pazifik führen werde. Ich habe versucht, nicht daran zu denken, was ich tun muss, um den Thron zu erobern. Aber Qing Xin hat wahrscheinlich recht. Königin Alina wird ihre Position nicht so einfach aufgeben. Es wird Kämpfe geben. Vielleicht sogar... Er wagte es nicht, das Wort ›Krieg‹ zu denken.
»Halt die Klappe, Qing Xin«, mischte Domador sich ein und stand auf. »Er ist nur ein Junge und er hat viel durchgemacht. Er ist gerade wie ein Garras, der in eine Ecke gedrängt wurde. Hat keine andere Wahl als den Angriff nach vorne, um zu entkommen.«
Qing Xins Augen richteten sich nun auf den Krieger.
»Wenn du dich nicht dazu bereit erklärst, meine Leute zu heilen, zwinge ich dich mit Gewalt dazu. Das habe ich dir bereits erklärt«, fuhr Domador fort. Bei diesen Worten zuckte Javet kurz zusammen, wunderte sich aber nicht darüber, eine solche Drohung aus seinem Mund zu hören. »So rettest du Hunderte von Menschen. Auch ohne deine Hilfe werden sie in den Pazifik gehen, wo sie aber wahrscheinlich nicht willkommen sind. Man wird sie alle töten oder zu Sklaven machen, wenn Javet nicht König des Ostlands wird und genau das verbietet. Deswegen müssen wir ihm helfen, den Thron zu erobern. Du siehst, er hat keine andere Wahl als das Risiko vieler Tode einzugehen.«
Qing Xins Lippen zuckten, bevor er antwortete: »Wisst ihr denn gar nicht, was hier im Pazifik los ist? Als Königin Alina den Prinzen geheiratet hat, hat sie einen Vertrag unterschrieben, in dem die beiden Länder sich gegenseitig schwören, einander im Falle eines Krieges zu unterstützen und zu helfen. Selbst wenn über hundert Krieger in Hölle leben, ihr könnt es nicht gegen zwei Länder gleichzeitig aufnehmen.«
Javets Kehle wurde sofort trocken. Bei dem Gedanken an das, was ihm bevorstand, wurde ihm schlecht. Er erinnerte sich daran, von der Hochzeit zwischen Königin Alina und Sharaf gelesen zu haben, aber er hätte nie damit gerechnet, dass die Sache wirklich so ernst war. Wie konnte ich nur denken, dass alles so leicht werden würde? Erst jetzt, wo Qing Xin das aussprach, woran er sich so lange geweigert hatte, zu denken, wurde ihm das ganze Ausmaß der Dinge bewusst. All die Verantwortung auf seinen Schultern.
»Wir sind nicht die einzigen Menschen, die in unserem Zuhause leben. Nördlich von Hölle gibt es eine weitere Stadt, kleiner, aber nicht weniger gefährlich. Die Leute dort haben zwar nicht so viel mit uns zu tun, doch wenn wir einen Boten zu ihnen schicken, der ihnen sagt, dass sie geheilt werden und in den Pazifik ziehen können, werden sie uns unterstützen.«
»Es werden immer noch unzählige Menschen sterben«, hielt Qing Xin dagegen. »Ich sehe nur eine Möglichkeit, wie Javet mehr oder weniger friedlich den Thron für sich gewinnen kann. Die Wahrscheinlichkeit, dass das gelingt, ist zwar sehr gering, aber es ist einen Versuch wert. Dafür brauchen wir die Krieger aus Hölle auch nicht. Es ist allein eine Sache der erfolgreichen Überzeugung und...« Er überlegte kurz. »Eine Sache der Rhetorik.«
Rhetorik?, dachte Javet. Was ist das? Er hatte dieses Wort noch nie gehört. Aber die Tatsache, dass Qing Xin davon sprach, den Thron friedlich zu erobern, machte ihm Mut. »Wie?«, fragte er neugierig und hoffnungsvoll.
»In zwei Wochen findet das Treffen am Urberg statt«, erklärte Qing Xin. »Dort werden sich alle Könige der vier Länder versammeln, um Rat abzuhalten. Es findet nur einmal im Jahr statt, also haben wir ziemlich viel Glück.«
»Verdrehte Welt«, hörte Javet Domador leise murmeln.
»Die Könige werden einen Teil ihres Gefolges mitbringen und viele der Adligen werden ebenfalls anwesend sein«, fuhr Qing Xin fort. »Ziemlich viele Menschen, die sich am Fuß des Urbergs versammeln, um zu feiern und sich am Ende des Treffens anzuhören, was Neues beschlossen wurde. Wenn du dort auftauchst, Javet, und dich als Sohn des früheren Königs des Ostlands und rechtmäßiger Erbe des Throns offenbarst, wird es ziemlich viele Zeugen geben. Zum einen das. Zum anderen wird die derzeitige Königin es nicht wagen, dich hinzurichten, weil dann alle annehmen werden, dass du die Wahrheit gesprochen hast, was unweigerlich zu Aufständen im ganzen Land führen würde. Weder sie noch König Miro waren in der Bevölkerung sonderlich beliebt, soweit ich weiß. König Witan, dein Vater, hingegen schon.«
»Aber ich habe keine Beweise dafür, wer ich bin«, gab Javet mit hängenden Schultern zu. »Und wird überhaupt jemand auf mich hören? Ich glaube nicht.«
»Deswegen ist es eine Sache der Rhetorik«, sagte Qing Xin.
»Ich weiß nicht, was das ist.«
Die Lippen des Westländers zuckten, leicht belustigt. »Ich werde es dir auf unserem Weg zum Urberg beibringen. Du musst mir so viel wie möglich von dem erzählen, was du über deine Familie weißt, damit ich dir überzeugende Argumente zu deiner Identität mitgeben kann. Deine Aufgabe wird es sein, dir alles zu merken und zum richtigen Zeitpunkt auf dem Urberg umzusetzen.«
»Bescheuerte Idee«, warf Domador ein und spuckte auf den Boden, gefolgt von einigen Flüchen auf seiner eigenen Sprache. »Und wenn es nicht klappt? Was, wenn Javet etwas passiert?«
»Das wirst du doch sicher nicht zulassen«, entgegnete Qing Xin ruhig und warf dem Krieger einen beiläufigen Blick zu.
Dieser verschränkte die Arme vor der Brust. »Natürlich nicht. Aber meine Leute in Hölle...«
»Mach dir keine Sorgen darum«, schnitt der Westländer ihm erneut das Wort ab. »Wir haben Massen an Zeit, da wir mit Pferden reisen, Sera und Estrella hingegen zu Fuß und zusätzlich noch mit einem Gefangenen.«
»Du hast mir noch nicht gesagt, welchen Preis ich bezahlen muss«, erinnerte Javet sich auf einmal.
Der Westländer sah ihn nicht an. »Du bist nicht derjenige, der bezahlen wird«, sagte er nur. »Wir sollten uns ebenfalls schlafen legen, um morgen möglichst früh aufzubrechen.«
»Wer übernimmt die erste Wache?«, fragte Domador.
»Ich«, erklärte Qing Xin. »Zu der anderen hat Heuleum sich schon bereiterklärt. Ihr könnt also beruhigt durchschlafen.«
Javet beobachtete, wie der Westländer sich mit dem Rücken zum Lagerfeuer hinsetzte und seinen Blick in die Dunkelheit der Einöde richtete. Nicht weit entfernt dösten ihre drei Pferde bereits im Stehen – Hong Tuzi, Sult und Zhiyu. So vieles an Qing Xin kam Javet seltsam vor. Die vielen Sprachen, die er beherrschte. Dass er wusste, was auf der anderen Seite des Pazifiks vor sich ging. Irgendwas sagte ihm, dass er mehr war als er zu sein vorgab.
Wer ist er?, fragte Javet sich. Welche Geheimnisse verbirgt er?
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Noch ein heftig überarbeitetes Kapitel XD Ursprünglich ist Domador nicht mit Javet nach Chengbao gegangen (er konnte ja in der ersten Version keine saubere Luft atmen...) und Qing Xin ist mit Javet zurück ins nördliche Grenzland, um ihn zu heilen. Kein Kommentar O.o
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