12. Kapitel
Die größten Menschen sind jene, die anderen Hoffnung geben können.
Jean Jaurès
Die Sonne stand hoch am Himmel und schien ungehindert auf den großen Platz eines Dorfes im Nordosten des Ostlands. Menschen eilten von einem Verkaufsstand zum anderen und diskutierten um den Preis der Waren. Doch es gab eine Stelle, um die sie einen großen Bogen machten. Ein Kind fing an zu weinen und vergrub das Gesicht im Rock seiner Mutter, als es den Mann und die Frau mit der Eisenkleidung sah. Sie standen am Rand des Platzes und der Mann kochte vor Wut.
»Er ist wirklich geflohen«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus. »Wie konnten wir nur so dumm sein!«
»Ich habe dich gewarnt, dass du und Hierro ihn zu sehr unter Druck gesetzt habt«, sagte die Frau und legte ihm beruhigend die Hände auf die Schultern. »Ihr hättet ihm nicht drohen müssen. Du hast doch gesehen, dass er fest davon überzeugt war, wirklich der rechtmäßige König zu sein!«
»Er ist unsere letzte Chance gewesen«, grollte der Mann. »Was soll ich Hierro jetzt sagen, wenn wir unverrichteter Dinge zurückkehren? Dass er uns einfach durch die Finger gegangen ist? Dass sein Plan gescheitert ist?« Er trat so heftig gegen ein Tischbein, dass der gesamte Stand wackelte. Der Verkäufer schnappte erschrocken nach Luft und hielt seine Vasen fest, damit sie nicht umfielen. Wütend funkelte er die zwei Fremden an.
»Domador, beruhige dich«, flüsterte die Frau ihrem Begleiter zu, lächelte den Verkäufer entschuldigend an und zog den Mann hinter sich her. Sie bogen in eine Straße ab und gingen sie entlang, bis es keine Passanten mehr gab. Dort blieben sie stehen. Die Frau stellte sich vor Domador, legte ihm beide Hände auf die Schultern und fing seinen Blick ein.
»Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben«, sagte sie. »Javet weiß, wie er uns helfen kann. Außerdem glaubt er fest daran, der rechtmäßige König des Ostlandes zu sein. Er wird den Thron nicht einfach so aufgeben. Die Menschen hier sind besessen von Macht. Ich bin mir sicher, dass er das Heilmittel alleine finden und dann zu uns zurückkehren wird.«
»Ich habe Estrella befohlen, ihn zu töten, wenn er ohne uns auftaucht«, erinnerte Domador sie und ballte die Fäuste.
»Dann müssen wir sie einholen.«
»Es gibt hier keine Pferde, Sera!«, fuhr Domador die Frau an. »Nur die Zugtiere, aber die werden zu stark bewacht!«
»Dann ziehen wir zum nächsten Dorf weiter.«
»Wir haben keine Karte. Und keine Zeit.« Der Mann sprach mehr zu sich selbst und wischte sich mit der Hand über die schweißnasse Stirn. »Wenn nicht die Untiere Hölle zerstören, wird es Vernichtung tun. Esperar wartet schon lange darauf, uns dem Erdboden gleich zu machen. Wir nehmen ihm zu viel Territorium, zu viel Wasser und zu viel Nahrung weg. Hierros Plan war unsere einzige Chance. Einen Jungen aus dem Ostland zu finden, der dank uns den Thron besteigt und uns im Gegenzug hilft, vom Kontinent zu fliehen.«
»Habe Vertrauen«, beschwichtigte Sera ihn. »Wir können jetzt nicht unverrichteter Dinge zurückkehren. Wir müssen hoffen. Hoffen, dass Javet uns nicht im Stich lassen wird. Denn Hierro glaubt auch daran, dass wir Hölle nicht im Stich lassen. Dein Vater wird kämpfen, solange wir noch nicht zurück sind. Denn dann weiß er, dass wir noch nicht aufgegeben haben.« Sie atmete tief durch. »Ich schlage vor, wir holen Estrella ein und reisen mit ihr zusammen zur anderen Seite des Pazifiks.«
»Und was, wenn Javet nicht kommt?«
Sera lächelte, aber ihr war anzusehen, dass es erzwungen war. »Dann werden wir nach Hölle zurückkehren, wenn es noch nicht zu spät ist, und für unser Zuhause kämpfen.«
Domador legte die Hand auf den Griff seines Schwertes und strich sanft mit den Fingern darüber. Schließlich nickte er. »In Ordnung.«
Er wollte gerade an Sera vorbeigehen, als diese ihn am Unterarm festhielt. »Domador.«
»Was?«
»Du weißt, dass ich das alles nicht nur für Hölle mache, oder?«
»Denkst du wirklich, dass ich dir das glaube?« Domador sah ihr tief in die Augen. »Wir sind zwar verlobt, weil mein Vater meint, du wärst eine gute Partie, aber das hat nichts zu bedeuten. Du wirst Amante nie ersetzen können.«
Sera biss sich auf die Lippen und sagte nichts.
Domador drehte sich um. »Ich werde Estrella anfunken. Pass auf, dass niemand mich sieht.« Er bog in eine schmalere Gasse ein, die bei einer steilen Hauswand endete. Sera, die ihm zögerlich folgte, stellte sich nun so, dass sie die Straße gut einsehen konnte. Als das geschehen war, nahm Domador den Reisebeutel von seinem Rücken und öffnete ihn. Darin befanden sich neben dem Fladenbrot und Trockenfleisch aus Hölle jetzt noch weitere Vorräte und auch ein Beutel mit Münzen. Domador interessierte sich jedoch nicht dafür und holte stattdessen einen schwarzen, eckigen Gegenstand heraus. Mit dem Rücken zu Sera und dem Eingang der Gasse fummelte er an einem kleinen Rädchen herum und zog dann einen langen, metallisch glänzenden Stab heraus. Mit einem Blick nach oben und zu den Seiten vergewisserte er sich, dass es auch wirklich keine Fenster gab. Schließlich hob er den Gegenstand zu seinem Mund und drückte eine Taste.
»Estrella?«
Als er die Taste losließ, ertönte einige Sekunden ein unangenehmes Rauschen.
»Estrella?«, fragte er erneut.
Endlich wurde das Rauschen von einer verzerrten Frauenstimme abgelöst. »Domador?« Der Name war kaum zu verstehen.
»Ja«, antwortete der Mann, indem er den Gegenstand wieder zu seinem Mund führte. »Wo bist du gerade?«
»Ich habe keine Ahnung«, ertönte wieder die verzerrte Stimme. »Ich kenne diese Gegend hier nicht und muss mich die ganze Zeit von einem Dorf im Grenzland zum nächsten hangeln. Ohne sie zu betreten natürlich. Ich benutze nur die Wege dazwischen.«
»Bist du schon am Territorium von Vernichtung vorbei?«
»Natürlich!« Eine kurze Pause. »Ich dachte, das Funkgerät wäre nur für Notfälle, Domador. Was ist passiert?«
»Der Junge ist geflohen.«
Dieses Mal dauerte das Rauschen fast so lange wie am Anfang. »Was jetzt?«, fragte Estrella schließlich.
»Sera hat die Hoffnung, dass er uns dennoch das Heilmittel besorgen wird«, erklärte Domador. »Wir werden zu dir kommen und gemeinsam auf der anderen Seite des Pazifiks auf ihn warten.«
»Ja, Javet ist ein guter Junge.« Wieder eine Pause. »Sagtest du, ihr würdet zu mir kommen?«
»Ja.«
»Dann werde ich bei der nächsten auffälligen Geländemarke auf euch warten.«
»In Ordnung. Dir eine gute Reise.«
»Euch auch.«
Damit schob Domador den langen Stab wieder zurück in das Gerät, drückte auf die Taste am Rand und verstaute alles wieder in seinem Reisebeutel. Er drehte sich zu Sera um. »Du hast alles gehört?« Die Frau nickte. »Dann werden wir uns bei der nächsten Gelegenheit zwei Pferde stehlen und ins Grenzland des Nordlands aufbrechen. Vermutlich wird Estrella sich nochmal melden, um zu sagen, wo genau sie auf uns wartet.«
Der Mann wartete nicht auf eine Antwort, sondern bedeutete Sera mit einer Handbewegung, ihm aus der Gasse hinaus zu folgen. Schweigend gingen sie die Straße entlang und überquerten den Marktplatz. Dabei ignorierten sie die Blicke der fremden Menschen. Erst, als sie auf der anderen Seite den Platz verlassen hatten, drehte Sera sich mit gerunzelter Stirn kurz nach hinten um.
»Ist dir aufgefallen, dass es hier keine hellhäutigen Leute gibt?«, fragte sie ihren Begleiter. »Ich habe keinen einzigen Menschen mit heller Haut gesehen.«
»Warum wunderst du dich darüber?«, entgegnete Domador düster. »Du weißt ganz genau, dass die Pazifik-Menschen sie Bleichgesichter nennen. Wahrscheinlich haben sie sie alle schon lange getötet. Und sind auch noch stolz darauf.«
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Noch ein neues Kapitel, mal aus einer anderen Perspektive. Ich fand nur logisch, es einzubauen. Insbesondere, weil man dann etwas mehr über Domador und die Menschen aus Hölle existiert. Amante gab es in der ersten Version übrigens gar nicht. Aber eigentlich ist sie extrem wichtig O.o
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